Artikel

Die Untersuchung von übermässiger Gewaltanwendung durch die Polizei

Forderung nach unabhängigen Beschwerdemechanismen in den Kantonen

Abstract

Autor: Andreas Kind

Publiziert am 14.03.2013

Die Empfehlungen:

  • Empfehlung Nr. 122.39 legt der Schweiz nahe, „Fälle von übermässiger Gewaltanwendung bei der Festnahme, Verhaftung, Haft und Befragung von Verdächtigen [zu] untersuchen“.
  • Die in eine ähnliche Richtung zielende Empfehlung Nr. 123.45 verlangt von der Schweiz, „in allen Kantonen eine unabhängige Stelle [zu] schaffen, mit dem Auftrag, alle Klagen bezüglich übermässiger Gewaltanwendung, Grausamkeiten und anderer Formen polizeilichen Amtsmissbrauchs zu untersuchen“.

Reaktion der Schweiz

Während die Empfehlung 122.39 von der Schweiz sofort angenommen wurde, lehnte sie die Empfehlung 123.45 zur Schaffung neuer Beschwerdemechanismen auf kantonaler Ebene nach einer eingehenden Prüfung ab.

Der Bundesrat begründete die Ablehnung damit, dass „[n]ach Schweizer Recht Fälle von unverhältnismässiger Gewaltanwendung, Grausamkeit und andere Formen von Amtsmissbrauch durch Polizeikräfte von unabhängigen Justizbehörden untersucht und vor Gericht gebracht“ werden können. Damit würde die Gewaltentrennung garantiert und „die Einrichtung einer unabhängigen Anlaufstelle in jedem Kanton [sei] dementsprechend nicht erforderlich“.

Diese Ablehnung überrascht kaum: Eine Empfehlung ähnlichen Inhalts erhielt die Schweiz nämlich bereits anlässlich ihrer ersten Überprüfung vor dem Menschenrechtsrat im Jahre 2008. Damals wurde der Schweiz von Seiten Kanadas empfohlen, spezialisierte Organe zu schaffen, die mit der Untersuchung von Vorfällen von Polizeibrutalität betraut werden (UPR 2008, Empfehlung Nr. 57.11). Auch diese Empfehlung, die mit einem zweiten, davon zu unterscheidenden Anliegen, der Rekrutierung von Minderheiten für die Polizeikorps, verknüpft war, lehnte die Schweiz damals ab. Die schweizerische Stellungnahme zu demjenigen Teil der Empfehlung, die den Ausbau des Rechtsschutzes gegenüber polizeilichen Fehlleistungen forderte, fiel damals noch kürzer aus: „Des voies de droit sont également ouvertes aux victimes de brutalités policières.“ (Antworten zu den Empfehlungen, S. 4).

Pflicht zur unabhängigen Untersuchung

Gemeinsam ist allen drei aufgeführten Empfehlungen die Stossrichtung: Es geht um eine Stärkung prozessualer menschenrechtlicher Vorgaben, wenn der Verdacht polizeilichen Fehlverhaltens im Raum steht. In solchen Fällen sieht sich das betroffene Individuum nämlich in einer beweistechnisch äusserst schwierigen Ausgangslage. Der Vorwurf einer missbräuchlichen Ausübung von Amtsgewalt richtet sich gegen diejenige Behörde, die normalerweise solch strafrechtlich relevantes Verhalten zu untersuchen hat, d.h. die Polizei muss gegen sich selbst ermitteln. Vor dem Hintergrund dieser speziellen Konstellation verlangen menschenrechtliche Vorgaben bei glaubwürdigem Vorbringen missbräuchlicher Polizeigewalt die Durchführung einer effizienten und unabhängigen staatlichen Untersuchung sowie zusätzlich die Bereitstellung von effizienten Beschwerdemöglichkeiten für mutmassliche Opfer polizeilichen Amtsmissbrauchs.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte anerkennt daher gemäss ständiger Rechtsprechung eine Untersuchungspflicht des Staates als eigenständigen prozessualen Teilgehalt des Rechts auf Leben von Art. 2 EMRK und des Verbots der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung nach Art. 3 EMRK: Immer wenn eine Person, respektive ihre Angehörigen, glaubwürdig vorbringt, Opfer missbräuchlicher polizeilicher Gewalt geworden zu sein, ist der Staat verpflichtet, aus eigenem Antrieb eine gründliche, unabhängige und exakte Untersuchung durchzuführen, die Gewähr dafür bietet, dass der Sachverhalt geklärt und die Verantwortlichkeiten eruiert werden können.

Recht auf wirksame Beschwerde

Hinzu kommt, dass Art. 13 EMRK (wie auch Art. 2 Abs. 3 UNO-Pakt II) jeder Person das Recht garantiert, „[...] bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben, auch wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben.“ Der Staat muss also eine wirksame und verfahrensrechtlichen Minimalstandards genügende Beschwerdemöglichkeit zur Verfügung stellen, bei der ein Anspruch auf Prüfung der Vorbringen besteht und die Beschwerdestelle über die Kompetenz verfügt, die angefochtene Handlung aufzuheben beziehungsweise deren Auswirkungen zu beheben. Diese Sichtweise vertritt auch das schweizerische Bundesgericht (vgl. BGE 128 I 167, S. 174).

Internationale Feedbacks an die Schweiz

Nicht nur der Menschenrechtsrat, sondern auch andere Überwachungsorgane der UNO wie der Menschenrechtsausschuss und der Ausschuss gegen die Folter, sowie die Europäische Kommission zur Verhütung der Folter orteten in den letzten Jahren im Bereich des Rechtsschutzes gegen polizeiliche Übergriffe einen Handlungsbedarf der Schweiz. Zudem stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Jahr 2006 eine Verletzung des Rechts auf Leben durch die Schweiz fest, weil die für die Untersuchung eines Todesfalls verantwortlichen Polizeikräfte nicht unabhängig von denjenigen waren, welche in den Todesfall involviert waren (EGMR, Scavuzzo-Hager et al. v. Switzerland). Gegenwärtig prüft der Gerichtshof eine weitere gegen die Schweiz gerichtete Beschwerde, in welcher nicht nur eine materielle Verletzung des Rechts auf unmenschliche Behandlung, sondern auch eine Nichtbeachtung der aus Art. 3 EMRK fliessenden Untersuchungspflicht gerügt wird (EGMR, Communicated Case, Dembele v. Switzerland).

Strukturelle Defizite

In der Schweiz bestehen verschiedene Möglichkeiten, juristisch gegen polizeilichen Amtsmissbrauch vorzugehen: die Einleitung eines Strafverfahrens (Strafanzeige oder Strafklage), die Erhebung einer Aufsichtsbeschwerde (Administrativverfahren) oder einer Beschwerde an eine parlamentarische Ombudsstelle und die Einreichung einer Staatshaftungsklage oder eines Verwaltungsverfahrens. Alle diese Rechtsbehelfe weisen vor dem Hintergrund der prozessualen menschenrechtlichen Anforderungen indes gewisse strukturelle Defizite auf (vgl. dazu im Detail die SKMR-Studie, Die Umsetzung menschenrechtlicher Vorgaben in den Bereichen Freiheitsentzug, Polizei und Justiz in der Schweiz, S. 47 ff.).

Diese Defizite betreffen neben der oben erwähnten Frage der Unabhängigkeit der untersuchenden Behörde weitere Punkte. So fordert etwa der Europäische Gerichtshof in einer konstanten Praxis, dass bei einem glaubwürdigen Vorbringen von polizeilichem Amtsmissbrauch in staatlichem Gewahrsam, d.h. etwa während einer Einvernahme, angesichts der notorisch schwierigen Beweislage der Staat nachzuweisen habe, dass seine Organe keine menschenrechtsverletzende Handlungen begangen haben. Diese Beweislastumkehr lässt sich in Administrativverfahren verwirklichen, ist aber in einem Strafverfahren gegen Angehörige der Polizei wegen des wichtigen Grundsatzes, dass die angeklagte Person im Zweifel freizusprechen ist, kaum umzusetzen. Ebenso an inhärente Grenzen stösst das Strafverfahren, wenn zwar nachgewiesen werden kann, dass ein staatliches Organ menschenrechtswidrig agiert hat, die Zuordnung der Verantwortlichkeit zu einer bestimmten Person aber scheitert.

Die in der Schweiz bereits existierenden fünf kantonalen und fünf kommunalen Ombudsstellen erfüllen hingegen die Erfordernisse an eine wirksame Beschwerdeinstanz im Sinne von Art. 13 EMRK und Art. 2 Abs. 3 UNO-Pakt II nicht, weil sie nicht über die Kompetenz verfügen, Sanktionen oder Wiedergutmachungen auszusprechen.

Fazit

Die Annahme der Empfehlung 122.39 ist vor diesem Hintergrund zu begrüssen. Auch die Empfehlung 123.45 nimmt ein ernsthaftes Anliegen auf. Prozessuale Absicherungen wie die Untersuchungspflicht und die Bereitstellung eines effektiven Rechtsschutzes verunmöglichen es den Staaten, grobe Fehlleistungen ihrer eigenen Sicherheitsbehörden unter den Tisch zu kehren. Sie verhindern damit ein Klima von Straf- und Verantwortungslosigkeit und dienen schlussendlich auch dem Ansehen der Polizei als Hüterin des staatlichen Gewaltmonopols. Die Ablehnung der Forderung nach der Schaffung unabhängiger Beschwerdeinstanzen in allen Kantonen hat primär föderalistische Gründe, sollte aber nicht als Ablehnung der Anregung verstanden werden, die bestehenden Rechtsschutzmechanismen gegen polizeilichen Amtsmissbrauch kritisch zu evaluieren und allenfalls zu optimieren.

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