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Videoaufnahmen polizeilicher Einvernahmen

Ein wirksames Instrument, um unmenschliche und erniedrigende Behandlungen zu verhindern

Abstract

Der Einsatz von Videokameras oder Audiogeräten bei polizeilichen Einvernahmen ist in der Schweiz keine Pflicht und in der Praxis selten. Erfahrungen in anderen Ländern zeigen: Aufzeichnungen in Ton und Bild helfen der Polizei, Befragungen professioneller durchzuführen. Sie tragen gleichzeitig dazu bei, unmenschliche und erniedrigende Behandlungen zu verhindern.

Publiziert am 06.09.2022

Ein unbekannter Mann erschiesst im November 2008 Herrn S.G. auf dem Weg nach Hause. Drei Monate später verhaftet die irische Polizei Barry Doyle als Tatverdächtigen in seiner Wohnung. Auf dem Polizeiposten wird er über seine Rechte informiert.

Insgesamt 23-mal während 31 Stunden befragt die Polizei ihn. Sämtliche Einvernahmen zeichnet die Polizei auf Video auf. In den Pausen kann er jeweils über das Telefon einige Minuten mit seinem Anwalt sprechen. Bei den Befragungen ist der Anwalt nicht zugegen.

Während der letzten Einvernahme legt Barry Doyle ein Geständnis ab. Die Geschworenen verurteilen ihn zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Barry Doyle legt gegen diesen Entscheid Beschwerde ein. Er wirft den irischen Behörden vor, sein Recht auf ein faires Verfahren (Artikel 6 EMRK) verletzt zu haben, weil die Polizei ihn ohne seinen Anwalt befragte. Die Gerichte in Irland weisen seine Beschwerde ab. Er wendet sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). In der Urteilsfindung sind die Videoaufzeichnungen der Einvernahmen von zentraler Bedeutung für die Richter*innen in Strasbourg. Darauf ist später zurückzukommen.

Einvernahmen – ein kritischer Moment für die Folterprävention

Befragungen von Personen durch die Polizei sind nicht nur ein zentrales Element der Verbrechensaufklärung, sondern auch ein kritischer Moment. Das Risiko von unmenschlicher und erniedrigender Behandlung oder sogar Folter ist bei polizeilichen Einvernahmen erhöht. So kam der Europäische Ausschuss gegen Folter (CPT) 1995 zum Schluss: «In der Zeit unmittelbar nach dem Freiheitsentzug ist die Gefahr von Einschüchterungen und körperlicher Misshandlung am grössten» (CPT General Report (6th) (1995), para. 15). Das veranschaulichen Urteile des EGMR zum Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (Art. 3 EMRK).

In Frankreich zum Beispiel wurde ein wegen Drogendelikten inhaftierter Mann während den Befragungen wiederholt geschlagen und getreten (Selmouni gegen Frankreich vom 28. Juli 1999, Nr. 25803/94). In einem anderen Fall ohrfeigten, bespuckten und traktierten Polizisten einen Mann, den sie verdächtigten an einem tödlichen Anschlag gegen Fremdenlegionäre auf Korsika beteiligt gewesen zu sein (Urteil Tomasi gegen Frankreich vom 27. August 1992, Nr. 12850/87). In Deutschland drohten Polizisten einem Tatverdächtigen mit Gewalt, sollte er den Aufenthaltsort seines Entführungsopfers nicht bekannt geben (Urteil Gäfgen gegen Deutschland vom 1. Juni 2010, Nr. 22978/05).

Expert*innen aus Justiz, Militär und für Menschenrechte plädieren für einen Standard

Die UNO und der Europarat befassen sich seit Jahren damit, wie das Risiko von Gewalt bei Einvernahmen reduziert werden kann. Der UNO-Sonderberichterstatter über Folter und der UN-Ausschuss gegen Folter empfehlen seit langem, polizeiliche Befragungen auf Video aufzuzeichnen.

Der Europäische Ausschuss gegen Folter (CPT) hält in seinen Standards ebenfalls fest: «Die elektronische Aufzeichnung von polizeilichen Befragungen (…) ist (…) zu einem wirksamen Mittel zur Verhinderung von Misshandlungen bei polizeilichen Vernehmungen geworden und bietet gleichzeitig erhebliche Vorteile für die beteiligten Polizeimitarbeitenden.» (CPT General Report (28th) (2019), Preventing police torture and other forms of ill-treatment - reflections on good practices and emerging approaches (excerpt), para. 81).

Internationale Expert*innen aus Polizei, Staatsanwaltschaften, Militär, Nachrichtendiensten und Menschenrechtsorganisationen veröffentlichten im Juni 2021 Prinzipien für die wirksame Befragung bei Ermittlungen und zur Informationsbeschaffung (Mendez Prinzipien). Ihr Fazit: «Von allen Gesprächen muss eine genaue Aufzeichnung angefertigt werden, vorzugsweise mit Hilfe von audiovisueller Technik (Audio und Video).» (Mendez Prinzipien, para. 35).

Der Fall Barry Doyle: Videoaufnahmen als Schutz vor Misshandlungen

Auch das Urteil des EGMR im Fall Barry Doyle untermauert die Bedeutung von Videoaufzeichnungen (Urteil Doyle gegen Irland vom 23. Mai 2019, Nr. 51979/17). Bei der Urteilsbegründung gingen die Richter*innen ausführlich darauf ein: Sie betitelten sie als wirksames Instrument zur Dokumentation der Verfahrensprozesse und damit als «wichtige Schutzmassnahme (…), da sie zweifellos dazu diente, den Druck auf die Polizei aufrechtzuerhalten, sich gesetzeskonform zu verhalten. Sie ermöglichte es den nationalen Gerichten auch, in voller Kenntnis der Sachlage zu entscheiden, ob die bei der polizeilichen Vernehmung gewonnenen Beweise zugelassen werden konnten» (Ziff. 99).

In den Augen der Richter*innen waren die Videoaufzeichnungen damit ein wirksames Instrument zur Verhinderung von Misshandlungen durch die Polizei. Zwar kritisierte der Gerichtshof die Abwesenheit einer Anwaltsperson. Die irischen Behörden hätten jedoch das Recht von Herrn Doyle auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK) nicht verletzt. Für vier von fünf Richter*innen in Strassburg reichten die Videoaufzeichnungen aus.

Eine der Richterinnen betonte aber auch, dass die Videoaufzeichnung von Einvernahmen die Anwesenheit einer Anwaltsperson nicht ersetzen kann. Eine lückenlose und unverfälschte Audio- oder Videoaufnahme zusammen mit einer anwesenden Verteidigung würden den effektivsten Schutz vor unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung bieten.

Vielseitiges Instrument: Gewaltprävention, Ermittlungen, Qualitätssicherung

Videoaufzeichnungen von Einvernahmen durch die Polizei bringen nach Einschätzung von Fachpersonen mehrere Vorteile mit sich:

  • Verglichen mit dem Wortprotokoll hemmt das Wissen um eine lückenlose Videoaufnahme sowohl Polizeimitarbeitende als auch Befragte, Gewalt anzuwenden.
  • Zudem können Videoaufzeichnungen bei Gewaltvorwürfen gegen Polizeimitarbeitende oder Tatverdächtige als Beweismittel eingesetzt werden. Bei Falschanschuldigungen können Videoaufnahmen entlasten.
  • Eine unverfälschte und vollständige audiovisuelle Aufzeichnung belegt, inwieweit die Verfahrensrechte und die strafprozessualen Garantien eingehalten wurden (z.B. Recht auf Verteidigung, Recht Dritte zu informieren oder das Recht auf Übersetzung).
  • Zugleich sind Aussagen zuverlässig dokumentiert, auch wenn sie eine befragte Person später zurückzieht.
  • Videoaufzeichnungen sind Prüfinstrumente für die Qualität der Einvernahmen und helfen Fehlverhalten frühzeitig zu erkennen, aber auch gute Praxis zu identifizieren und zu etablieren.
  • Die befragende Person kann sich auf das Gespräch, insbesondere auf das Zuhören fokussieren. Sie muss nicht gleichzeitig ein Wortprotokoll verfassen.
  • Nonverbales Verhalten kann im Nachgang der Einvernahme studiert sowie Widersprüche in den Aussagen oder richtungsweisende Hinweise für die Ermittlung identifiziert werden.
  • Auch können Videoaufzeichnungen von Einvernahmen zur Aus- und Weiterbildung des Polizeipersonals eingesetzt werden.

Umfassender Ansatz

Erfahrungen in Ländern ohne rechtsstaatliche Strukturen zeigen: Die Dokumentation von Einvernahmen in Ton und Bild ist nur dann wirksam, wenn sie sich in ein umfassendes System einbettet, das unmenschliche und erniedrigende Behandlungen und Folter verhindern will. Führt die Polizei die Videoaufzeichnung von Befragungen isoliert ein, kann sie sogar schädlich sein. Selektive Aufzeichnungen von Teilen von Einvernahmen können dazu dienen, ein angeblich korrektes Verhalten zu dokumentieren, Foltervorwürfe zu diskreditieren und Misshandlungen zu verdecken.

Eine wirksame Prävention hängt auch von der Aus- und Weiterbildung in den Polizeikorps, der Haltung der einvernehmenden Polizeimitarbeitenden und dem Führungsverhalten der vorgesetzten Korpsangehörigen ab. Die Anwesenheit einer Anwaltsperson sowie unabhängige Melde- und Beschwerdemöglichkeiten tragen ebenso dazu bei Misshandlungen zu verhindern.

Ein Blick in die Praxis europäischer Länder und der Schweiz

In England und Wales werden seit 1986 fast alle Einvernahmen in Audio oder auf Video aufgezeichnet. In Frankreich sind Videoaufzeichnungen nur bei schweren Straftaten oder bei minderjährigen Tatverdächtigen vorgesehen. Dann aber sind sie zwingend.

Die schweizerische Strafprozessordnung hält in Art. 76 Abs. 4 StPO fest: Die Verfahrensleitung (bei polizeilichen Ermittlungen die Staatsanwaltschaft) «kann anordnen, dass Verfahrenshandlungen zusätzlich zur schriftlichen Protokollierung ganz oder teilweise in Ton oder Bild festgehalten werden.» Die beteiligten Personen sind im Vorfeld darüber zu informieren.

Die kantonalen Einführungsgesetze zur Strafprozessordnung und Weisungen der Staatsanwaltschaften geben, wenn überhaupt, die StPO-Regelung wieder. So heisst es in der Weisung zum Vorverfahren der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich: «Delegiert die Staatsanwaltschaft die Einvernahme an (…) die Polizei (…), ordnet sie gegebenenfalls auch die Aufzeichnung in Ton und/oder Bild an.»

In der Schweiz kann somit die Polizei nur auf Anordnung der Staatsanwaltschaft Einvernahmen auf Video festhalten. Gesetzlich verpflichtend ist dies aber nicht (ausser bei Einvernahmen ohne Gegenüberstellung von Kindern und Jugendlichen als Opfer, Art. 154 Abs. 4 lit. d StPO).

Daten zur Praxis der Polizeikorps liegen keine vor. Das Wortprotokoll dürfte jedoch die Regel sein, die Aufzeichnung auf Video oder Audio die Ausnahme bilden.

Menschenrechtlicher Blick auf Einvernahmen

In der schweizerischen Fachliteratur war die Videoaufzeichnung vor allem ein Thema, nachdem das Parlament mit der im Jahr 2011 in Kraft getretenen Strafprozessordnung eine rechtliche Grundlage für die ganze Schweiz geschaffen hatte. An der Universität Neuenburg gibt es ein Forschungsprojekt zu Wortprotokollen. Sonst aber findet in der Schweiz kaum eine Diskussion statt, ob und wie Videoaufzeichnungen dazu beitragen können, unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen zu verhindern. Eine menschenrechtliche Betrachtung von polizeilichen Einvernahmen, sollte jedoch genau dies tun.

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