Artikel
Die menschenrechtlichen Vorgaben für den polizeilichen Schusswaffengebrauch
Eine Analyse aus aktuellem Anlass
Abstract
Autor: Andreas Kind
Bedeutung für die Praxis:
- Das Recht auf Leben der EMRK und des UNO-Pakts II verankert kein absolutes Verbot von Tötungen durch Sicherheitsorgane. Vielmehr kann bei Beachtung strikter Vorgaben die Anwendung auch potenziell tödlicher Gewalt und in Notwehrsituationen gar eine gezielte Tötung menschenrechtskonform sein.
- Namentlich der Einsatz von Schusswaffen ist aber nur unter striktester Beachtung des Verhältnismässigkeitsprinzips zulässig. Unverhältnismässig ist eine potenziell tödliche Gewaltanwendung zur Festnahme einer Person, die keine Gefahr für Leib und Leben anderer Personen darstellt und nicht verdächtigt wird, ein Gewaltverbrechen begangen zu haben.
- Nach jedem Schusswaffengebrauch durch Polizeikräfte ist eine unabhängige und sorgfältige Untersuchung durchzuführen.
Im September 2012 starben in der Schweiz innerhalb einer Woche zwei Personen durch Kugeln aus polizeilichen Dienstwaffen. Am 12. September wurde in Rickenbach (SZ) ein Verdächtiger auf der Flucht erschossen und in der Nacht vom 19./20. September wurde in Montreux (VD) ein Mann, der nach einer Fluchtfahrt bei einer Strassensperre mit einem Jagdgewehr auf die Polizisten zielte, durch deren Schussabgabe tödlich getroffen. Die zeitliche Häufung der zwei Todesfälle dürfte auf Zufall zurückzuführen sein. Gleichwohl sollen diese Vorfälle zum Anlass genommen werden, die allgemeinen menschenrechtlichen Anforderungen, die an polizeiliche Schusswaffeneinsätze gestellt werden, zu rekapitulieren.
Die relevanten menschenrechtlichen Grundlagen …
Stellt die Tötung einer Person durch staatliche Sicherheitskräfte automatisch eine Verletzung des Rechts auf Leben dar oder kann eine tödliche Schussabgabe durch die Polizei ausnahmsweise in Übereinstimmung mit dieser Garantie erfolgen? Beide für die Schweiz zur Beantwortung dieser Frage relevanten Menschenrechtsverträge untersagen dem Staat als Träger des Gewaltmonopols nicht jede Gewaltanwendung mit Todesfolge; sie regeln aber die Zulässigkeit solcher Gewalt zumindest auf den ersten Blick unterschiedlich:
Das Recht auf Leben gemäss Art. 6 des UNO-Pakts über bürgerliche und politische Rechte (Pakt II) verbietet nicht jede Tötung durch Sicherheitskräfte, sondern einzig die «willkürliche Beraubung des Lebens». Präziser, aber auf den ersten Blick zumindest teilweise zu weitgehend formuliert ist in dieser Hinsicht Art. 2 EMRK: Er stuft gemäss seinem Abs. 2 eine Tötung nicht als Menschenrechtsverletzung ein, «wenn sie durch eine Gewaltanwendung verursacht wird, die unbedingt erforderlich ist, um a) jemanden gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen; b) jemanden rechtmässig festzunehmen oder jemanden, dem die Freiheit rechtmässig entzogen ist, an der Flucht zu hindern oder c) einen Aufruhr oder Aufstand rechtmässig niederzuschlagen».
Sicherheitskräfte dürfen damit trotz möglicher Todesfolge zwecks Notwehr und Notwehrhilfe, Festnahme einer Person und Unterdrückung eines Aufstandes Gewalt anwenden, wenn die Anwendung potenziell tödlicher Gewalt absolut notwendig ist zur Erreichung eines dieser abschliessend aufgezählten Ziele. Art. 2 Abs. 2 EMRK listet aber nicht die Situationen auf, in welchen der Staat töten darf, sondern Fälle, in welchen das Recht auf Leben trotz Todesfolge oder Inkaufnahme einer Tötung nicht verletzt ist, weil der Einsatz von Gewalt zur Erreichung eines der aufgezählten Ziele absolut notwendig und in Hinblick auf das Ausmass der drohenden Gefahr, welcher die Polizei zu begegnen hat, verhältnismässig war. In solchen Fällen darf also Gewalt eingesetzt werden, auch wenn Todesfälle nicht unbedingt vermieden werden können. In eigentlichen Notwehr- und Notwehrhilfesituationen, aber nur in solchen, darf in Extremfällen und als letztes Mittel gar Gewalt mit der Absicht, zu töten, eingesetzt werden. Ist diese Voraussetzung nicht gegeben, stellt die gezielte Tötung eines Menschen stets eine Verletzung des Rechts auf Leben dar.
Die Praxis des Menschenrechtsausschusses zum Begriff der «willkürlichen» Tötung gemäss Pakt II folgt den gleichen Grundsätzen.
Darüber hinaus statuieren der Pakt II und die EMRK mit der Formulierung, dass das Recht auf Leben gesetzlich zu schützen ist, eine weitere Schutzkomponente: Die Staaten sind gehalten, die Umstände, unter welchen Sicherheitskräfte Gewalt anwenden dürfen, und erst recht die Voraussetzungen eines gezielten Todesschusses gesetzlich zu regeln.
… und ihre Umsetzung in der Schweiz
In der Schweiz werden die Voraussetzungen des Schusswaffengebrauchs häufig auf Ebene der Polizeigesetze festgeschrieben. Beispielhaft sei hier § 17 des neuen Polizeigesetzes des Kantons Zürich erwähnt. Diese Bestimmung erlaubt in enger Anlehnung an die Vorgaben von Art. 2 EMRK den Einsatz von Schusswaffen «in einer den Umständen angemessenen Weise» und «wenn andere Mittel nicht ausreichen», etwa «a. wenn Angehörige der Polizei oder andere Personen in gefährlicher Weise angegriffen oder mit einem gefährlichen Angriff unmittelbar bedroht werden, b. wenn eine Person ein schweres Verbrechen oder ein schweres Vergehen begangen hat oder eines solchen dringend verdächtigt wird und sie fliehen will, c. wenn Personen für andere eine unmittelbar drohende Gefahr an Leib und Leben darstellen und sich der Festnahme zu entziehen versuchen, d. zur Befreiung von Geiseln, e. zur Verhinderung eines unmittelbar drohenden schweren Verbrechens oder schweren Vergehens an Einrichtungen, die der Allgemeinheit dienen und die für die Allgemeinheit wegen ihrer Verletzlichkeit eine besondere Gefahr bilden». Im Rahmen einer Überprüfung des Zürcher Polizeigesetzes beurteilte das Bundesgericht diese Bestimmung im Jahr 2009 als verfassungs- und EMRK-konform (BGE 136 I 87, E. 4).
Die Praxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Verhältnismässigkeit des Schusswaffengebrauchs
Die Praxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zur Zulässigkeit des Schusswaffeneinsatzes beschlägt weniger die Frage der Rechtmässigkeit der mit dem Einsatz von Schusswaffen verfolgten Ziele, sondern legt ihren Fokus auf die Verhältnismässigkeit im Einzelfall. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verfolgt in dieser Frage einen äusserst rigiden Ansatz, der 1995 im McCann-Fall (Mc Cann and Others v. the United Kingdom) entwickelt wurde und seither den Massstab zur Abklärung der Zulässigkeit aussergerichtlicher Tötungen bildet: Demgemäss muss nicht nur die Gewaltanwendung an sich absolut notwendig zur Erreichung eines legitimen Ziels sein, sondern auch die Organisation und Kontrolle derartiger Operationen und die Ausbildung der Polizeikräfte müssen Gewähr dafür bieten, dass alle Massnahmen zur Schonung des Lebens getroffen werden und zu derartiger Gewalt wirklich nur gegriffen wird, wenn einer Gefahr für Leib und Leben anderer Personen nicht auf andere Weise begegnet werden kann (vgl. etwa auch folgende EGMR-Urteile; Andreou v. Turkey; Nachova and Others v. Bulgaria; Gorovenky and Bugara v. Ukraine; Finogenov and Others v. Russia). Greifen hingegen Polizeikräfte, nachdem alle Vorsichtsmassnahmen ergriffen wurden, in gutem Glauben, damit ein zulässiges Ziel zu erreichen und unter Beachtung der Verhältnismässigkeit zu handeln, zur Schusswaffe und stellen sich diese Annahmen nachträglich als falsch heraus, so kann, wie die Grosse Kammer des EGMR im Jahr 2012 festhielt (EGMR, Giuliani and Gaggio v. Italy), nicht von einer Verletzung des Rechts auf Leben ausgegangen werden. Eine andere Schlussfolgerung würde, so der EGMR, eine unrealistisch hohe Hürde für den Staat und seine Sicherheitskräfte darstellen.
Stets unverhältnismässig ist eine potenziell tödliche Gewaltanwendung zur Festnahme einer Person, die keine Gefahr für Leib und Leben anderer Personen darstellt und die nicht verdächtigt wird, ein Gewaltverbrechen begangen zu haben; (EGMR, Nachova and Others v. Bulgaria). Nicht per se unverhältnismässig ist demgegenüber der Einsatz von Gewalt, die üblicherweise nicht zum Tod führt, aber infolge gesundheitlicher Prädispositionen des Opfers dieses Resultat bewirkt (EGMR, Scavuzzo-Hager v. Switzerland).
Pflicht zur nachträglichen Untersuchung der Zulässigkeit des Schusswaffeneinsatzes
Das Recht auf Leben enthält als weitere Komponente zudem eine Untersuchungspflicht des Staates. Das bedeutet, dass der Staat alle ungewöhnlichen Todesfälle mit der notwendigen Unabhängigkeit und Sorgfalt untersuchen muss. Dies gilt auch in Fällen eines polizeilichen Schusswaffeneinsatzes mit Todesfolge. Auf diese menschenrechtliche Untersuchungspflicht hat sich jüngst das Bundesgericht in einem Fall (Urteil des Bundesgerichts 1B_687/2011, 1B_689/2011) berufen, wo ein Polizist bei einer Strassensperre auf ein darauf zurasendes Fahrzeug schoss und den Beifahrer tödlich verletzte. Es hielt fest, dass auch in Notwehrsituationen das Strafverfahren nicht vorschnell eingestellt werden dürfe, sondern dieser Untersuchungspflicht Rechnung getragen werden muss (vgl. dazu den Newsletter-Beitrag vom 2. Mai 2012).