Artikel

Ungenügende Untersuchung des Vorwurfs einer missbräuchlichen Zwangsmedikation auf einem Ausschaffungsflug

Das Bundesgericht stellt eine Verletzung der verfahrensrechtlichen Garantien von Art. 3 EMRK fest.

Abstract

Autorin: Anja Eugster

Publiziert am 11.12.2013

Bedeutung für die Praxis:

  • Da sich der Beschwerdeführer in staatlichem Gewahrsam befand, hat der Staat die Pflicht, das Nichtvorhandensein einer Misshandlung zu beweisen.
  • Der Kanton Genf ist seiner aus Art. 3 EMRK fliessenden Pflicht zu einer prompten, vertieften und wirksamen Untersuchung ungenügend nachgekommen, da er nicht alle nötigen Massnahmen bei der Beweiserhebung ergriffen hat und bis zum Erlass der Nichtanhandnahmeverfügung über ein Jahr verging.
  • Der Einsatz von Arzneimitteln darf nur gestützt auf eine medizinische Indikation erfolgen (Art. 24 f. ZAG), weshalb u.a. die Befragung des flugbegleitenden Arztes angezeigt war.

Hintergrund

Der Beschwerdeführer X. aus Gambia sollte im November 2011 auf einem Level-4-Ausschaffungsflug (höchste Sicherheitsstufe) in sein Heimatland gebracht werden. Vor dem Flug hatte X. eine Ohnmacht vorgetäuscht und sich gewehrt. Der daraufhin für den Transport zum Flugzeug verwendete Helm wurde während des Fluges abgenommen und die Handfesselung gelockert; X. blieb indes während der gesamten Zeit an einen Stuhl gebunden. Da X. auch während des Fluges gegen das behördliche Vorgehen protestierte, schrie und sich körperlich wehrte, wurden ihm mehrmals Beruhigungsmittel gespritzt. Strittig blieb, ob zusätzlich noch ein Nasenspray eingesetzt worden war.

Da dem Flugzeug in Gambia die Landeerlaubnis verweigert wurde, kehrte X. in die Schweiz zurück. Dort reichte er in der Folge Strafanzeige ein und rügt dabei auch, die gegen seinen Willen erfolgte Medikation stelle eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar. Der zuständige Staatsanwalt des Kantons Genf erliess knapp ein Jahr nach den Vorfällen eine Nichtanhandnahmeverfügung, da die Zwangsanwendung nicht unverhältnismässig gewesen sei; eine Einschätzung, die von der kantonalen Beschwerdeinstanz geteilt wurde. Vor Bundesgericht machte der Beschwerdeführer namentlich eine Verletzung der verfahrensrechtlichen Garantien von Art. 3 EMRK und Art. 12 der UNO-Antifolterkonvention geltend, da die Behörden ihre aus diesen Garantien fliessende Pflicht zur Durchführung einer prompten, wirksamen und unabhängigen Untersuchung nicht wahrgenommen hätten.

Ungenügende Untersuchung durch die Behörden

Das Bundesgericht erachtete die von X. vorgebrachten Vorwürfe als genügend schwerwiegend und plausibel, um ein Beschwerderecht zu begründen. Da der Beschwerdeführer eine Misshandlung während staatlichen Gewahrsams rügte, sei es am Staat, das Nichtvorhandensein einer Misshandlung zu beweisen. Dabei hätten die Behörden die Pflicht, alle möglichen sinnvollen Beweismethoden einzusetzen. Eine wirksame Untersuchung habe in diesem Fall jedoch nicht stattgefunden. So wurden weder der involvierte Arzt noch die unabhängige Beobachterin des Ausschaffungsfluges angehört, obwohl zum Einsatz der Beruhigungsspritzen unterschiedliche Darstellungen vorlagen. Auch die den Flug begleitenden Polizisten waren nicht angehört, sondern nur zu einer schriftlichen Stellungnahme eingeladen worden. Eine Anhörung des Beschwerdeführers war hingegen nicht mehr möglich, da er in der Zwischenzeit ausgeschafft worden war.

Des Weiteren stellte das Bundesgericht die fehlende Promptheit der Untersuchung in Frage, verging doch zwischen den Vorfällen und der Nichtanhandnahmeverfügung fast ein Jahr.

Einsatz von Zwangsmedikation auf Ausschaffungsflügen

Insbesondere die fehlende Anhörung des Arztes erschien dem Bundesgericht als problematisch, da er sich zwar nicht zur Rechtmässigkeit und Verhältnismässigkeit der Medikation hätte äussern können, jedoch dazu Auskunft hätte geben können, ob eine medizinische Notwendigkeit bestanden hatte. Dies vor dem Hintergrund, dass die Verabreichung der Beruhigungsspritze – und damit der Einsatz einer Zwangsmedikation – nur gestützt auf eine medizinische Indikation erfolgen und nicht anstelle von anderen Hilfsmitteln eingesetzt werden darf (Art. 24 f. Zwangsanwendungsgesetz). Nach Ansicht des Bundesgerichtes deutete im vorliegenden Fall nichts darauf hin, dass der festgebundene Beschwerdeführer eine Gefahr für sich selbst oder für die Sicherheit an Bord dargestellt hätte. Zudem erschien es dem Bundesgericht unklar, ob die im Regelfall geforderte vorgängige Ankündigung der Zwangsmedikation erfolgt war (Art. 10 Zwangsanwendungsgesetz).

Damit hat das Bundesgericht nicht zum ersten Mal eine Verletzung der verfahrensrechtlichen Garantien von Art. 3 EMRK durch die Staatsanwaltschaft des Kantons Genf festgestellt, welche einen Misshandlungsvorwurf in staatlichem Gewahrsam zu untersuchen hatte. Es bleibt abzuwarten, ob die Staatsanwaltschaft in diesem Fall im zweiten Anlauf den prozessualen Garantien so nachkommt, wie es das Bundesgericht und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fordern.

^ Zurück zum Seitenanfang