Artikel

Einkesselung und anschliessender Polizeigewahrsam stellen Freiheitsentzug dar

Bundesgerichtsurteile zu fehlendem Rechtsschutz bei Freiheitsentzug nach 1. Mai-Feierlichkeiten

Abstract

Autorin: Anja Eugster

Publiziert am 12.03.2014

Bedeutung für die Praxis:

  • Nur bei einem Freiheitsentzug, nicht aber bei einer blossen Beschränkung der Bewegungsfreiheit besteht ein Anspruch auf direkte Anrufung eines Gerichts.
  • Eine polizeiliche Einkesselung stellt keinen Freiheitsentzug dar, wenn sich die eingekesselten Personen innerhalb des abgesperrten Areals frei bewegen können.
  • Zur Abgrenzung zwischen einem Freiheitsentzug und einer blossen Beschränkung der Bewegungsfreiheit sind die gesamten Umstände, namentlich Dauer, Art, Wirkung und Modalitäten massgebend. Falls die Modalitäten des Eingriffs in die persönliche Freiheit einschneidend sind, kann auch ein kurzer (zweistündiger) Polizeigewahrsam einen Freiheitsentzug bilden.
  • Im konkreten Fall stellte die Einkesselung zwar eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit, nicht aber einen Freiheitsentzug dar, der daran anschliessende zwei- resp. dreieinhalbstündige polizeiliche Gewahrsam mit Fesselung, Gefangenentransport und Einsperrung in einer Zelle hingegen schon.
  • Auch bei kurzem Freiheitsentzug einer Vielzahl von Personen im Zusammenhang mit Demonstrationen, Sportveranstaltungen und ähnlichem ist somit sicherzustellen, dass Betroffene sofort Zugang zu einem Haftrichter haben.

Hintergrund

Die Beschwerdeführer waren im Anschluss an die 1. Mai-Feierlichkeiten in der Stadt Zürich auf dem Kanzleiareal zusammen mit über 500 weiteren Personen von der Polizei festgehalten und am Verlassen dieser Zone gehindert worden, da die Behörden eine unbewilligte Nachdemonstration mit Ausschreitungen befürchteten. Die Einkesselung dauerte zwischen einer bis zweieinhalb Stunden, wobei sich die Beschwerdeführer auf dem Areal ohne wesentliche Behinderung frei bewegen konnten. Danach wurden die Beschwerdeführer mit Kabelbindern gefesselt und mit einem Gefangenentransport auf das Kasernenareal gebracht, wo sie in Zellen eingeschlossen wurden. Dieser polizeiliche Gewahrsam dauerte knapp dreieinhalb resp. zwei Stunden. Bei der Entlassung wurde zudem eine 24-stündige Wegweisungsverfügung für bestimmte Stadtkreise ausgesprochen.

Freiheitsentzug vs. Beschränkung der Bewegungsfreiheit

Das Bundesgericht hatte zu entscheiden, ob die Einkesselung und/oder der polizeiliche Gewahrsam als Freiheitsentzug (i.S.v. Art. 31 Abs. 4 BV und Art. 5 Ziff. 4 EMRK) oder lediglich als Einschränkung der Bewegungsfreiheit (i.S.v. Art. 10 Abs. 2 BV) einzustufen war. Relevant ist diese Einstufung im Hinblick auf den gewährten Rechtsschutz: Während bei Ersterem die verfahrensrechtlichen Garantien jederzeit einen direkten Zugang zu einem unabhängigen Gericht – im Kanton Zürich das Zwangsmassnahmengericht – zur Feststellung der Rechtmässigkeit gewährleisten, sind für Letztere keine spezifischen Rechtsschutzvorschriften vorgesehen.

Das Bundesgericht führte unter Bezugnahme auf seine bisherige Rechtsprechung und diejenige des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR-Urteil Austin gegen Vereinigtes Königreich) aus, dass für diese Abgrenzung nicht die Dauer der Freiheitsbeschränkung allein massgebend sei, sondern die gesamten Umstände, namentlich auch Art, Wirkung und Modalitäten der Massnahme.

Die Einkesselung beurteilte das Bundesgericht als blosse Beschränkung der Bewegungsfreiheit im Sinne von Art. 10 Abs. 2 BV, weil die Beschwerdeführer das abgesperrte Areal zwar nicht verlassen durften, sich aber innerhalb dieses Areals frei bewegen konnten.

Demgegenüber qualifizierte das Bundesgericht den Polizeigewahrsam trotz der kurzen Dauer (je nach Fall zwischen zwei und gut dreieinhalb Stunden) wegen der „einschneidenden Modalitäten des Eingriffs in die persönliche Freiheit […] (Fesselung, Gefangenentransport, Einsperrung in eine Zelle)“ als Freiheitsentzug i.S.v. Art. 31 Abs. 4 BV. Es hielt dabei auch fest, dass die besondere Gefahrenlage (Gefahr einer gewalttätigen Nachdemonstration) zwar bei der Beurteilung des öffentlichen Interesses und der Verhältnismässigkeit des Eingriffs bedeutsam sei, jedoch nicht beigezogen werden könne, um die Verneinung eines Freiheitsentzugs zu begründen.

Weiter legte das Bundesgericht dar, dass bei der Prüfung des Freiheitsentzuges zu berücksichtigen sei, dass dieser direkt im Anschluss an die Einkesselung erfolgt war, und führte sodann aus: „Das Zusammenwirken dieser Massnahmen lässt die polizeiliche Behandlung während dieser 4½ [resp. vier/ sechs] Stunden insgesamt als Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 31 Abs. 4 BV erscheinen, auch wenn die Einkesselung für sich allein unter den gegebenen Umständen noch nicht die Schwere einer solchen Beschränkung erreicht“.
Das Bundesgericht überwies in der Folge die Beschwerden an das Zwangsmassnahmengericht (bzw. in einem Fall an das Zürcher Obergericht), damit dieses den Sachverhalt feststellen kann und materiell die Rechtmässigkeit des Freiheitsentzuges beurteilt.

Kommentar

Die Urteile sind aus menschenrechtlicher Sicht zu begrüssen. Während das Bundesgericht in der Vergangenheit für die Annahme eines Freiheitsentzugs eher auf die Dauer abstellte, betont es hier zu recht das Element der Intensität des Eingriffs. Für die Praxis bedeutet dies, dass der Zugang zur haftrichterlichen Überprüfung auch bei Massenverhaftungen im Zusammenhang mit Demonstrationen oder Gewalt im Umfeld von Sportveranstaltungen sichergestellt werden muss, was unter Umständen die Justizbehörden vor organisatorische Herausforderungen stellen kann, hat doch das Gericht in solchen Fällen gemäss Art. 31 Abs. 4 BV „so rasch wie möglich über die Rechtmässigkeit des Freiheitsentzugs“ zu entscheiden.

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