Artikel
Die Rolle von Anwälten/-innen in Jugendstrafsachen
Für eine qualitativ hochstehende Verteidigung braucht es, laut internationalen Vorschriften, eine vermehrte Ausbildung der Anwälte und Anwältinnen sowie die Beachtung der Sichtweise ihrer minderjährigen Klientel
Abstract
Autor: Karl Hanson
Bedeutung für die Praxis:
- Die neue Jugendstrafprozessordnung (JStPO) hat die Verteidigung von Minderjährigen in Strafverfahren gestärkt.
- Um eine qualitativ hochstehende Verteidigung sicherzustellen, muss die Aus- und Weiterbildung der in Jugendstrafsachen spezialisierten Anwälte/-innen gestärkt werden. Ihnen kommt in den Verfahren die Rolle zu, die Meinung der von ihnen vertretenen Jugendlichen vorzubringen.
Die neue, am 1. Januar 2011 in Kraft getretene Jugendstrafprozessordnung (JStPO) hat die Mitwirkung der Anwälte/-innen in Jugendstrafsachen ausgebaut. Die Vereinheitlichung des Jugendstrafverfahrens in der Schweiz stützt sich weitgehend auf internationale Standards zu den Rechten des Kindes in Jugendstrafverfahren. Darin ist die allmähliche Abkehr von einer gutgemeinten und paternalistischen Einstellung jugendlichen Straftätern gegenüber zugunsten eines Konzepts zu erkennen, das die Jugendlichen als vollständige Rechtssubjekte auffasst und ihnen Mindestverfahrensgarantien sichert. Dazu gehört etwa das allen Angeklagten - also auch den Jugendlichen - zustehende Recht, sich selbst zu verteidigen oder sich durch einen Verteidiger eigener Wahl vertreten zu lassen, wie es in Art. 6 Ziff. 3 Bst. c EMRK festgelegt ist.
Freiwillige, notwendige und amtliche Verteidigung
Gemäss Artikel 23 JStPO können urteilsfähige beschuldigte Jugendliche sowie ihr gesetzlicher Vertreter eine Anwältin oder einen Anwalt mit ihrer Verteidigung betrauen (freiwillige Verteidigung). Es handelt sich für die Jugendlichen um ein Recht, das ihnen um ihrer Persönlichkeit willen zusteht und dass sie alleine und auch ohne Zustimmung ihres gesetzlichen Vertreters ausüben können (Art. 19, Abs. 2 ZGB).
Die JStPO sieht in Art. 24 zudem für gewisse Fälle die notwendige Verteidigung vor, namentlich wenn dem Jugendlichen ein Freiheitsentzug von mehr als einem Monat oder eine Unterbringung droht oder wenn er/sie die eigenen Verfahrensinteressen nicht ausreichend wahren kann und auch der gesetzliche Vertreter dazu nicht in der Lage ist. Auch wenn Minderjährige vorsorglich in einer Einrichtung untergebracht worden sind oder wenn die Jugendanwaltschaft bzw. die Jugendstaatsanwaltschaft an der Hauptverhandlung persönlich auftritt, erhalten Minderjährige in jedem Fall eine/n Verteidiger/in. Ebenfalls obligatorisch ist dies, wenn die Untersuchungs- oder Sicherheitshaft mehr als 24 Stunden gedauert hat (Art. 24 Bst. c JStPO).
Dies ist ein Fortschritt im Vergleich zu den verschiedenen, früher gültigen kantonalen Regelungen. Diese waren vom UNO-Kinderrechts-Ausschuss in seinen Abschliessenden Bemerkungen vom 13. Juni 2002 kritisiert worden. Der Ausschuss äusserte sich damals besorgt darüber, dass in einigen Kantonen Bestimmungen zum Rechtsbeistand während der Untersuchungshaft fehlten, und empfahl der Schweiz, allen Jugendlichen in Untersuchungshaft Rechtsbeistand zu gewähren. Dem wurde nun Rechnung getragen.
In gewissen Fällen haben jugendliche Beschuldigte ein Recht auf eine amtliche Verteidigung, nämlich dann, wenn sie selbst oder ihre gesetzliche Vertretung trotz Aufforderung keine Verteidigung bestimmt haben oder diese nicht bezahlen können (Art. 25 JStPO).
Dank den neuen Vorschriften steht die schweizerische Jugendstrafprozessordnung nun besser im Einklang mit den internationalen Regelungen, insbesondere mit Art. 40 Abs. 2 Bst. b Ziff. ii KRK, der das Recht des Kindes festhält, einen rechtskundigen oder anderen geeigneten Beistand zur Vorbereitung und Wahrnehmung seiner Verteidigung zu erhalten.
Ausbildung der Anwälte/-innen
Das Jugendstrafrecht ist ein Bereich, in dem Interventionen von Anwälten/-innen bisher relativ selten waren. Zahlreiche Fragen hinsichtlich der Qualität der Verteidigung jugendlicher Beschuldigter sind weiterhin offen.
In seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 10 (2007) über die Rechte des Kindes in Strafverfahren empfiehlt der UNO-Kinderrechts-Ausschuss den Vertragsstaaten, einen geeigneten Rechtsbeistand zu gewähren. Er betont, wie wichtig die Ausbildung von Anwälten/-innen ist, die Minderjährige in Verfahren vertreten. Zum einen müssen sie demnach über genügend Kenntnisse der verschiedenen rechtlichen Aspekte des Jugendstrafverfahrens verfügen, zum andern müssen sie spezifisch geschult werden, um mit Kindern arbeiten zu können. Auch das Ministerkomitee des Europarates hält in den Leitlinien des Europarates für eine kinderfreundliche Justiz vom 17. November 2010 fest, dass Anwälte/-innen, welche Jugendliche vertreten, dafür speziell ausgebildet sein müssen und die Kinderrechte sowie die im Umgang mit Kindern möglicherweise auftretenden Probleme gut kennen müssen. Sie müssen zudem regelmässig vertiefende Weiterbildungen besuchen und fähig sein, sich dem Verständnishorizont von Kindern anzupassen. In den Begründungen der Leitlinien wird den Mitgliedsländern des Europarates ein System mit spezialisierten Anwälten/-innen empfohlen, in dem das Recht der Jugendlichen, ihren Anwalt frei zu wählen, gewahrt bleiben muss. Diese Empfehlungen sollten die Universitäten, Fachhochschulen und Branchenorganisationen veranlassen, die Aus- und Weiterbildung zu den Themen Jugendstrafrecht und Jugendstrafverfahren auszubauen. Einige Weiterbildungen in diesem Bereich gibt es schon, beispielsweise das CAS Kindesvertretung der Hochschule Luzern und das «Certificat Enfants victimes, Enfants témoins: la Parole de l'Enfant en Justice (CPE)», das vom IUKB (Universitätsinstitut Kurt Bösch) und vom IDE (Internationales Institut der Rechte des Kindes) in Sitten angeboten wird.
Die Sicht des Kindes verteidigen
Diese Ausbildungen können Raum bieten für eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Rolle, welche die Anwälte/-innen von Jugendlichen vor den Jugendgerichtsinstanzen übernehmen müssen. Die Anwaltschaft darf sich nicht darauf beschränken, die Interessen des Kindes formell zu vertreten, viel mehr muss sie sicherstellen, dass die Sichtweise der minderjährigen Beschuldigten ins Verfahren einfliesst. Dies wird zumindest in den Leitlinien des Europarates für eine kinderfreundliche Justiz vertreten. Dort wird betont, dass Anwälte/-innen die Meinung der von ihnen vertretenen Jugendlichen vorbringen müssen, da diese als vollwertige Klienten/-innen mit eigenen Rechten zu betrachten sind. Zudem müssen die Anwälte/-innen die Jugendlichen aufklären über die möglichen Folgen ihrer Standpunkte und Meinungen. In den Begründungen zu den Leitlinien wird die genaue Rolle der Anwälte/-innen von Jugendlichen weiter geklärt: Die Anwaltschaft darf demnach nicht vorbringen, was ihrer Ansicht nach im Interesse des Kindes ist, sondern muss die Meinung des Jugendlichen ermitteln und vorbringen, wie sie dies bei ihrer erwachsenen Klientel tun würde. Des Weiteren müsste sie sich bemühen, bezüglich des strategisch besten Vorgehens die informierte Zustimmung (informed consent) des Jugendlichen zu bekommen. Sollte die Anwaltschaft anderer Meinung sein als der/die Jugendliche, muss diese versuchen, den/die Minderjährige zu überzeugen, wie sie das auch bei allen anderen Klienten/-innen machen würde.
Die Anwesenheit einer Anwältin oder eines Anwalts ist also mehr als eine simple Verfahrensvorschrift, sie ist ein tatsächliches Recht des jugendlichen Beschuldigten. Die Anwälte/-innen haben dabei ihre eigene Rolle wahrzunehmen und nicht die Rolle von jemand anderem (Richter/in, Erzieher/in, Psychiater/in etc.). Ihre Rolle als Verteidiger/innen – und nicht etwa als zusätzliche Richter/innen – stellt hohe Anforderungen an die Anwälte/-innen von Jugendlichen. Sie müssen während des ganzen Verfahrens (Untersuchung, Urteil und Vollzug) an der Seite der Jugendlichen stehen. Dies bedingt, dass die Jugendlichen ihnen gegenüber ein echtes Vertrauensverhältnis aufbauen, was wiederum einen beträchtlichen Aufwand seitens der Anwälte/-innen verlangt. Von Bedeutung sind dabei Rahmenbedingungen, welche die Anwaltschaft in ihrer Aufgabe unterstützen müssen. Dazu gehören eine angemessene Entlöhnung sowie die Möglichkeit zu Aus- und Weiterbildung. Nicht zuletzt sollten die in Jugendstrafrecht spezialisierten Anwälte/-innen ein gewisses Ansehen geniessen.
Fazit
In der Schweiz gibt es nur wenige auf Jugendstrafsachen spezialisierte Anwälte/-innen. Der Bereich ist wenig lukrativ, aber in menschlicher und fachlicher Hinsicht sehr komplex. In der Tat kennen sich Jugendrichter/-innen und Jugendanwälte/-innen im Jugendstrafrecht am besten aus und ihre Interpretationsweise des Verfahrens und des Jugendstrafrechts stösst bei den Verteidigern/-innen von Jugendlichen nur selten auf Widerspruch.
In einer Zeit, in der die Forderung nach einer härteren Bestrafung für Jugendstraftaten immer lauter wird, könnten ein spezifisches Ausbildungsangebot und eine höhere Wertschätzung der Jugendstrafverteidiger/innen zu einem ausgeglicheneren Kräfteverhältnis während des Verfahrens beitragen und den Einfluss der Jugendlichen auf ihre eigene Verteidigung stärken.
Weiterführende Links und Dokumente:
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Schweizerische Jugendstrafprozessordnung vom 20. März 2009 (Jugendstrafprozessordnung, JStPO; pdf, 18 S.)
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Begleitbericht zum Vorentwurf für ein Bundesgesetz über das Schweizerische Jugendstrafverfahren, Bundesamt für Justiz, Bern, Juni 2001 (pdf, 106 S.)
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Allgemeine Bemerkung Nr. 10 (2007) des Ausschusses für die Rechte des Kindes über die Rechte des Kindes in der Jugendgerichtsbarkeit
(Englisch, pdf 26 S.) -
Leitlinien des Europarates für eine kinderfreundliche Justiz; SKMR-Newsletter Nr. 3 vom 26. Oktober 2011