Artikel

Die Empfehlungen des UNO-Kinderrechtsausschusses an die Schweiz

Welches sind die generellen Herausforderungen?

Abstract

Autoren/-innen: Jean Zermatten, Nicole Hitz Quenon, Paola Riva Gapany

Publiziert am 31.03.2015

Zusammenfassung:

  • Der Ausschuss hat 108 Empfehlungen an die Schweiz abgegeben, dies zu vielen verschiedenen Themen, bei denen die Umsetzung der Kinderrechtskonvention (KRK) noch lückenhaft oder inexistent ist.
  • Als generelle Massnahme wurde vom Ausschuss die Notwendigkeit einer nationalen Koordinationsstelle, einer nationalen Strategie und einer Monitoringstelle der KRK in der Schweiz hervorgehoben. In den Empfehlungen wird die Schweiz aufgerufen, die Grundlagen für die Umsetzung der Empfehlungen des UNO-Komitees durch diese unverzichtbaren Säulen zu verstärken.
  • Bei den generellen Punkten wurde unter anderem auch die lückenhafte Datenerhebung angeprangert. Eine vollständige Datenerhebung würde es der Schweiz erlauben, die Situation von allen Kindern mit der Perspektive auf eine stetige Verbesserung und Vereinheitlichung auf nationaler Ebene anzugehen, insbesondere auch diejenige der besonders verletzlichen Kinder.
  • Das Verständnis des Begriffs «übergeordnetes Kindesinteresse» sollte in der Schweiz geklärt und auf gesetzlicher, politischer und juristischer Ebene vermehrt verwendet werden.
  • Die Ratifizierung des dritten Protokolls zur KRK, die ein Individualbeschwerdeverfahren an den Kinderrechtsausschuss vorsieht, wird zur Zeit in der Schweiz diskutiert und würde diese allgemeinen Säulen ergänzen.


Von 2002 bis 2015

Am 4. Februar 2015, hat der UNO-Kinderrechtsausschuss der Schweiz seine Schlussbemerkungen zur Präsentation des 2., 3. und 4. Berichts vorgelegt. Die Berichte umfassten sowohl die Umsetzung der Kinderrechtskonvention, als auch den ersten Bericht der Schweiz zur Umsetzung des Fakultativprotokolls betreffend den Verkauf von Kindern, den Kinderhandel und die Kinderpornographie (OPSC). Die letzte Überprüfung der Schweiz durch den Kinderrechtsausschuss fand 2002 statt. Erst 13 Jahre später hat die Schweiz die Situation im Land dem Kontrollorgan erneut präsentiert und erklärt. Die Schlussbemerkungen sind das Ergebnis eines Prozesses, der mit der Einreichung der genannten Berichte durch die Schweiz an den Ausschuss im Juli 2012 (für die KRK) und Dezember 2011 (für das OPSC) in Gang gesetzt wurde. Im April 2014 wurde der zweite NGO-Bericht («shadow report»), der bereits 2009 das erste Mal geschrieben wurde, in einer aktualisierten Form an den Ausschuss geschickt. Der Ausschuss hat sich mit einer Delegation des Netzwerks Kinderrechte Schweiz und einigen anderen NGOs während der Vorbereitungssession im Juni 2014 getroffen. Im letzten Herbst wurde die Schweiz dazu aufgefordert, auf eine Liste von Fragen zu antworten, um zusätzliche Informationen zu liefern (CRC/C/CHE/Q/2-4/Add.1). Während des Dialogs mit dem Ausschuss am 21. und 22. Januar 2015 beantwortete die Schweizer Staatsdelegation die Fragen der zwei Berichterstatter und anderer Mitglieder des Ausschusses. Die Schlussbemerkungen wurden gestützt auf die verschiedenen Informationsquellen, den Dialog und die Überprüfung der Schweiz durch den Ausschuss verfasst. Sie umfassen eine Liste von Empfehlungen, welche die Themen aufgreifen, die die Schweiz während der nächsten fünf Jahre in Angriff nehmen sollte, bis 2020 der nächste Bericht für unser Land fällig ist.

Einige generelle, permanente Herausforderungen: Strategie, Koordination, Monitoring und Datenerhebung

Eine nationale Strategie

In seinen Ausführungen zu einer nationalen Strategie zugunsten der Kinder in der Schweiz (Schlussbem. Para. 10) hat der Ausschuss auf das Dokument «Strategie für eine schweizerische Kinder- und Jugendpolitik» (2008) hingewiesen, welches zur Annahme des «Gesetzes über die Förderung der ausserschulischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, KJFG» am 30. September 2011 geführt hat. Er hält jedoch fest, dass dieses Dokument und dieses Gesetz weit davon entfernt sind, alle in der Konvention genannten Bereiche abzudecken. Der Ausschuss hat in der Tat gesehen, dass sich dieses Gesetz hauptsächlich auf die Förderung ausserschulischer Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen bezieht, d.h. darauf, Aktivitäten in der offenen Arbeit mit Kindern und innovative Aktivitäten für Jugendliche zu fördern, wie zum Beispiel die Förderung der Jugendsession für eine bessere Beteiligung der Kinder und Jugendlichen an der nationalen Politik. Hervorgehoben hat der Ausschuss den Anreiz, die Kantone darin zu unterstützen, ihre Kinder- und Jugendpolitik auszuarbeiten und zu organisieren, insgesamt sind ihm die Angaben aber zu wenig konkret.

Es stellt sich die Frage, wer die Nutzniesser des Gesetzes sind, wenn die Rede von Kindern und Jugendlichen ist. Gemäss Art. 4 KJFG sind Kinder ab Kindergarteneintritt bis und mit Jugendliche im Alter von 25 Jahren (lit. a) bzw. 30 Jahren (lit. b) angesprochen. Es handelt sich hierbei also nicht um ein typisches Gesetz, das für Kinder im Sinne der Definition von Art. 1 KRK geschaffen wurde. Ausserdem werden Bereiche wie Bildung, Gesundheit und Migration in diesem Gesetz nicht behandelt.

Aus diesem Grund empfiehlt der Ausschuss der Schweiz (Schlussbem. Para. 11), eine nationale Strategie zur Umsetzung aller in der Konvention festgehaltenen Prinzipien und Rechte der Kinder zu entwickeln und vorzusehen, dies in Absprache mit den Kindern und der Zivilgesellschaft. Eine solche Strategie sollte als Rahmen für die kantonalen Pläne und Strategien dienen.

Die Schweiz hat bis heute davon abgesehen, eine umfassende nationale Strategie oder einen nationalen Aktionsplan für Kinder auszuarbeiten. Es wird argumentiert, dass es bereits unzählige Strategien gibt und dass ein Aktionsplan nicht wünschenswert und in einem föderalistischen Land zu schwierig umzusetzen wäre.

Es ist offensichtlich, dass aufgrund der fehlenden umfassenden Strategie und der Entwicklung sektorieller oder kantonaler Strategien die globale Betrachtungsweise, welche nötig ist, um die Konvention umzusetzen und alle Kinderrechte einzuhalten, unmöglich erfüllt werden kann.

Sicherlich ist es eine schwierige Aufgabe. Wenn man möchte, dass eine solche nationale Strategie wirksam ist, muss sie auf die Situation aller Kinder und aller in der Konvention verankerten Rechte Bezug nehmen. Vielversprechend ist, dass gewisse Initiativen bereits zu Entwicklungen von Strategien mit nationaler Bedeutung führten, wie z.B. das nationale Programm «Jugend und Gewalt», bei dem der Bund, die Kantone und die Gemeinden gemeinsam eine Grundlage für die Prävention von Gewalt in der Schweiz entwickelt haben. Oder das nationale Programm «Jugend und Medien», das als Hauptziel den sicheren, altersgerechten und verantwortungsvollen Umgang der Kinder und Jugendlichen mit digitalen Medien hat. Diese Beispiele sollten die Schweiz dazu animieren, auf die Forderungen des Ausschusses einzugehen.

Fehlende globale und sektorübergreifende Koordinationsstelle

Die Herausforderung für einen föderalen Staat wie die Schweiz liegt offensichtlich in der Koordination der Handlungen und Interventionen. Diese Frage war einer der springenden Punkte in den Empfehlungen des Ausschusses an die Schweiz 2002 (Schlussbem. Para. 11 und 12). Sie wird 2015 praktisch im gleichen Wortlaut vom Ausschuss wieder aufgenommen: Er stellt eine fehlende umfassende Koordination der staatlichen Interventionen in den verschiedenen Bereichen der Kinderrechte fest und ist besorgt über die unterschiedliche Umsetzung der Konvention in den einzelnen Kantonen.

Man muss sagen, dass sich die Situation seit 2002 nicht stark verändert hat, ausser bei der Frage der Harmonisierung der Familienzulagen und bei der Einführung von Harmos im Bildungsbereich, bei dem es eine Koordination unter den teilnehmenden Kantonen gibt. Generell gilt, dass die den Kantonen zugestandenen Kompetenzen ein wirksames Bollwerk gegen jeden Koordinationswillen bilden. Es ist deutlich, dass der sehr unterschiedliche Zugang zu Leistungen (zum Beispiel für unbegleitete Minderjährige oder für die schulische Inklusion von Kindern mit einer Behinderung) zu ungleichen Behandlungen führt, die an Diskriminierung grenzen.

Gemäss der Interpretation des Ausschusses zur allgemeinen Umsetzung (General Comment Nr. 5, Para. 27), verpflichtet die Konvention den schweizerischen Staat dazu, eine tatsächliche, und nicht nur erklärte, sektorübergreifende Koordination zu schaffen. Diese Koordination muss auf horizontaler Ebene zwischen allen betroffenen Bundesdepartementen funktionieren. Der Ausschuss erkennt keine solche funktionierende Koordination. Auf Bundesebene gibt es einerseits das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV), das mit dem Bereich Kinder- und Jugendfragen die Koordination für die Umsetzung der Kinderrechtskonvention übernimmt. Eine weitere wichtige Stelle, die auch im Bericht der Schweiz von 2013 genannt wird, ist die Eidgenössische Kommission für Kinder- und Jugendfragen (EKKJ). Sie setzt sich aus 20 Experten/-innen aus der Kinder- und Jugendpolitik zusammen, die unterschiedliche berufliche Hintergründe aufweisen. Sie hat zur Aufgabe, die Situation der Jugend in der Schweiz zu studieren und mögliche Massnahmen zu untersuchen. Die Kommission nimmt ausserdem Stellung zu wichtigen gesetzlichen Bestimmungen, die auf eidgenössischer Ebene verabschiedet werden sollen; dies mit einem Fokus auf allfällige Auswirkungen der Bestimmungen auf die jungen Menschen. Weiter kann sie auch eigene Vorschläge einbringen. Weder das BSV, noch die EKKJ nehmen aber eine umfassende Koordinationsaufgabe wahr, wie sie vom Ausschuss gefordert wird.

Es sollte zudem eine vertikale Koordination zwischen dem Bund, den Kantonen und den Gemeinden geschaffen werden. Es bestehen zwar interkantonale Abkommen und Konferenzen zu verschiedenen Themenbereichen (wie zum Beispiel die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren SODK), doch gibt es keine Gesamtkoordination. Eine solche Koordination müsste mitunter die öffentlichen Stellen auf allen Ebenen sowie die Zivilgesellschaft koordinieren und zwar unter Einbezug der Kinder oder derjenigen Gruppen, welche die Kinder repräsentieren.

Daher empfiehlt der Ausschuss der Schweiz im Para. 13 der Schlussbemerkungen von 2015 erneut, eine Koordinationsstelle für die Umsetzung der Konvention zu schaffen, welche die vom Ausschuss angeregte nationale Strategie umsetzen könnte. Er empfiehlt ausserdem, dass diese Stelle mit genügend Kompetenzen, Einfluss und Ressourcen (Arbeitskraft, Technik und Finanzen) ausgestattet sein sollte, damit sie alle Massnahmen auf Bundesebene sowie auf kantonaler und lokaler Ebene umsetzen kann, und dass die Zivilgesellschaft und die Kinder an den Interventionen der Stelle beteiligt werden.

Es ist erstaunlich, dass sich die Situation nach 13 Jahren so wenig verändert hat, dass man sich wiederum mit der gleichen Kritik konfrontiert sieht.

Eine Monitoringstelle

Der Kinderrechtsausschuss ist der Ansicht, dass die Einrichtung einer unabhängige Menschenrechtsinstitution (NMRI) und von Institutionen, die speziell auf die Verteidigung und Stärkung der Kinderrechte ausgerichtet sind, zu den Verpflichtungen gehören, die Staaten mit der Unterzeichnung der KRK eingegangen sind (siehe General Comment No. 2 von 2002 des Kinderrechtsausschusses). Während der Überprüfung des ersten Berichts der Schweiz zur Umsetzung der Konvention in 2002 war der Ausschuss bereits besorgt, dass es in der Schweiz «keine zentrale, unabhängige Institution zur Überwachung der Umsetzung der Konvention gibt, welche über die Kompetenzen verfügt, Individualbeschwerden von Kindern auf Kantons- und Bundesebene entgegenzunehmen und zu behandeln.» Der Ausschuss empfahl der Schweiz deshalb deutlich, eine nationale unabhängige Menschenrechtsinstitution zu schaffen. «Deren Aufgabe soll die Überwachung und Evaluierung der Fortschritte in der Umsetzung der Konvention sein. Sie soll für Kinder zugänglich und befugt sein, Beschwerden über die Verletzung von Kinderrechten entgegenzunehmen, diese in kindgerechter Art und Weise zu überprüfen und wirksam zu verfolgen». Eine solche Institution existiert bis heute nicht.

Diese Besorgnis des Ausschusses wurde denn auch in Para. 18 seiner Schlussbemerkungen von 2015 in fast identischem Wortlaut übernommen. Die Schaffung des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte (SKMR) wird hervorgehoben, aber auch der Mangel an einer nationalen Menschenrechtsinstitution, welche die Anwendung der KRK kontrollieren und Beschwerden bei Verletzungen der Kinderrechte entgegennehmen könnte.

Im Anschluss an den vom Bundesrat im Sommer zu fällenden Entscheid über die Zukunft des SKMR sollte daher die Frage einer unabhängigen nationalen Stelle für die Umsetzung der Empfehlungen des Kinderrechtsausschusses diskutiert werden. Siehe dazu auch den Newsletter-Artikel des SKMR vom 16. Dezember 2014: Wege zu einer unabhängigen Überwachung der Kinderrechte in der Schweiz.

Ein vollständiges Datenerhebungssystem

Der Ausschuss hat unter anderen darauf hingewiesen, dass zwar verschiedene Systeme zur Datenerhebung existieren, es jedoch kein umfassendes System für die Datenerhebung in der Schweiz gibt. Für die Situation von besonders verletzlichen und marginalisierten Kindern gibt es keine unabhängigen Daten. In seiner Empfehlung (Schlussbem. Para. 17) drängt der Ausschuss darauf, dass die Schweiz ihr System zur Datenerhebung rasch verbessert und gibt Faktoren/Indikatoren an, nach denen die Informationen aufgeschlüsselt werden sollten. Diese Daten sollten in Zukunft für politische Entscheide, Programme und Projekte benutzt werden können und dadurch zu einer wirksamen Umsetzung der Konvention beitragen.

Der Ausschuss hat damit seine Empfehlung von 2002 wiederholt (Schlussbem. Para. 18). Abgesehen von der Notwendigkeit eines allgemeinen nationalen Datenerhebungssystems, würde der Ausschuss insbesondere die Datenerhebung für die Situation von bestimmten Gruppen besonders verletzlicher Kinder, wie unbegleitete Minderjährige und Sans-Papiers, aber auch für Kinder, die vom OPSC (Prostitution, Verkauf und Pornografie) betroffen sind (Schlussbem. OPSC, Para. 8), begrüssen. In diesem Zusammenhang müsste die Anzahl Strafverfolgungen und Urteile erfasst werden.

Die Erhebung zuverlässiger Daten stellt tatsächlich eine grundlegende Massnahme dar, um den Schutz aller Kinder in der Schweiz zu gewährleisten, unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem Status (siehe auch Umsetzung der Menschenrechte in der Schweiz – Eine Bestandesaufnahme im Bereich Kinder- und Jugendpolitik, Kap. Unbegleitete Minderjährige). Die Behandlung von Kindern aus verletzlichen Gruppen variiert besonders stark zwischen den einzelnen Kantonen. Eine Dokumentation auf der Basis von objektiven Daten würde es erlauben, ihre Situation, genauso wie die Situation aller Kinder in der Schweiz, anzugehen, mit der Perspektive auf eine Verbesserung und Harmonisierung auf nationaler Ebene.

Der Begriff des übergeordneten Kindesinteresses und seine Umsetzung in der Schweiz

In Para. 26 der Schlussbemerkungen von 2015 thematisiert der Ausschuss eine Verwechslung, welche in der Schweiz im Zusammenhang mit Art. 3 Abs. 1 der Konvention besteht. Es geht dabei um die Begriffe «Kindeswohl» (bien de l‘enfant oder well-being) und «übergeordnetes Kindesinteresse» (l'intérêt supérieur de l'enfant oder best interest of the child). Wie der Ausschuss in General Comment No. 14 eingehend behandelt hat, ist demnach das übergeordnete Kindesinteresse in erster Linie ein subjektives Recht, d.h. das Recht eines jeden Kindes, dass sein Interesse evaluiert wird, bevor eine Entscheidung an seiner Stelle getroffen wird und dass dafür gesorgt ist, dass sein Interesse ernsthaft berücksichtigt wird, insbesondere wenn mehrere Interessen aufeinanderstossen, damit die für das Kind beste Lösung gefunden wird. Das Kind kann sich zwar nicht auf den abstrakten Begriff «eines übergeordneten Interesses» berufen, es hat jedoch das Recht, dass alle Entscheidungen, die es betreffen, auf dieses Prinzip hin überprüft werden (siehe auch den Artikel des SKMR vom 18. September 2013: Die Allgemeine Bemerkung Nr. 14 des Kinderrechtsausschusses. Wichtige Auswirkungen auf die Schweiz). Der Gesetzgeber muss diesem Umstand in jedem Verfahrensschritt, der in Vorbereitung der Entscheidung eingeleitet wird, Rechnung tragen. Das übergeordnete Kindesinteresse ist ausserdem ein Interpretationsprinzip der Konvention und ihrer Protokolle.

Demgegenüber ist das Kindeswohl ein Idealkonzept, das ein zu erreichendes Ziel festlegt. Der Ausschuss kritisiert in diesem Zusammenhang nicht, dass man dieses Ideal erreichen möchte, aber er bedauert, dass das Mittel zur Erreichung des Ziels (das Recht, das übergeordnete Interesse des Kindes systematisch bei allen, auch gesetzgeberischen, Beschlüssen zu evaluieren) nicht in allen Rechtsvorschriften festgehalten wird (nicht nur im Zivil- oder Strafrecht, sondern auch in allen normativen Instrumenten des Verwaltungsrechts und den Gesetzgebungsverfahren). Der Ausschuss streicht hervor, dass der Ausdruck «Kindeswohl» eine andere Bedeutung und Anwendung hat, als das «übergeordnete Interesse des Kindes», wie es in der KRK festgehalten ist. Er kritisiert, dass dieses Recht im nationalen und kantonalen Recht, in den Gerichts- und Verwaltungsentscheiden oder in der Politik und den Programmen für Kinder nicht explizit aufgenommen und systematisch angewandt wird (Schlussbem. Para. 26). Der Ausschuss empfiehlt der Schweiz, diese Lücke zu füllen. Er hat unser Land vor allem aufgefordert, Abläufe und Kriterien zu entwickeln, die von allen Entscheidungsträgern/-innen angewendet werden können, wenn sie die Situation von Kindern evaluieren müssen und Entscheide treffen müssen, die deren Interessen berücksichtigen sollen (Schlussbem. Para. 27).

Die Notwendigkeit, das in Art. 3 Abs. 1 der KRK festgehaltene Recht einzuhalten, betrifft alle Bereiche, in denen Kinder vorkommen und deshalb Gegenstand eines Entscheids sein könnten, unter anderem auch, wenn Vorschriften erlassen werden. Die Schweiz ist sicherlich weit davon entfernt, dieses Prinzip in allen Gesetzen und in der Praxis und Rechtsprechung der vielen Gerichts- und Verwaltungsinstanzen zu berücksichtigen. Die oben dargelegten Punkte zeigen, dass die Schweiz das Prinzip von Art. 3 Abs. 1 der KRK (das Recht des Kindes, dass sein übergeordnetes Interesse eine vorrangige Überlegung ist) übernehmen sollte, statt des wenig klaren juristischen Begriffs des «Kindeswohls». Das Bundesgericht benutzt in seiner Referenz zu Art. 3. Abs. 1 KRK auf Französisch den Begriff «intérêt (supérieur) de l’enfant», was im Deutschen eigentlich dem «übergeordneten Kindesinteresse» entsprechen würde. Dennoch verwendet das Bundesgericht im Deutschen den Begriff «Kindeswohl». Das Bundesgericht scheint im Übrigen davon auszugehen, dass Art. 3 Abs. 1 den Charakter eines direkt anwendbaren Rechts (self executing) hat, da es in ständiger Praxis zulässt, dass man sich darauf beruft (u.a. BGE 130 III 530). Allerdings wäre es hilfreich, wenn das Bundesgericht dies ausdrücklich anerkennen würde, so wie es dies bereits für andere Artikel der Konvention gemacht hat, insbesondere für Art. 12 der KRK. Darüber hinaus wäre es besonders wichtig, dass das Bundesgericht diese Norm weniger zurückhaltend anwenden würde und diesem grundlegenden Prinzip das Gewicht gibt, welches ihm der Ausschuss in General Comment Nr. 14 zuschreibt.

Eine Klärung der Terminologiefrage, die vom Ausschuss bezüglich des Unterschieds zwischen dem Prinzip des übergeordneten Kindesinteresses und des Kindeswohls aufgebracht wurde, sollte stattfinden.

Eine zusätzliche Stärkung der Kinderrechte durch die Ratifizierung des OPIC

Der Ausschuss hat die Schweiz aufgefordert, das Fakultativprotokoll zum Individualbeschwerdeverfahren (OPIC) zu ratifizieren und damit die Anerkennung und Anwendung der Kinderrechte zu stärken (Schlussbem. Para. 72).

Dieses Ziel steht auf der politischen Agenda der Schweiz, und es wurden bereits mehrere Schritte unternommen, um die rechtssetzenden, rechtssprechenden und administrativen Behörden für dieses neue Instrument zu sensibilisieren. So hat das SKMR am 10. Oktober 2013 eine Tagung dazu veranstaltet und am 20. Januar 2014 einen Bericht veröffentlicht.

Bisher hat die Schweiz das dritte Fakultativprotokoll weder unterzeichnet, noch ratifiziert. Nach dem Nationalrat, der das Geschäft 2013 behandelt hatte, hat anlässlich der Frühlingssession 2014 auch der Ständerat eine Motion angenommen (Motion Amherd 12.3623, vom 15. Juni 2012), in der die Ratifizierung des dritten Fakultativprotokolls zur Konvention verlangt wird. Der Bundesrat hat die Vorlage zur Ratifizierung am 25. März 2015 in die Vernehmlassung geschickt. In Kraft ist das Protokoll seit dem 14. April 2014, es wurde bisher von 14 Staaten ratifiziert (Stand vom 31. Januar 2015).

Die Ratifizierung dieses Protokolls und die Errichtung dieses Mechanismus sind ein wichtiger Schritt für die Umsetzung der KRK in der Schweiz.

Schlussfolgerung

Die in diesem Artikel behandelten allgemeinen Empfehlungen an die Schweiz bilden die Hauptsäulen und die notwendige Grundlage für die Umsetzung aller andern Empfehlungen des Ausschusses. Der Bund muss dafür sorgen, dass diese Themen bei der Umsetzung der Empfehlungen nebst den spezifischen thematischen Empfehlungen zumindest einen wichtigen, wenn nicht sogar den zentralen, Platz einnehmen.

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