Artikel

Wann verstösst der polizeiliche Einsatz von Tränengas gegen die EMRK?

Der EGMR äussert sich erstmals eingehend zu den Voraussetzungen einer menschenrechtskonformen Benutzung von Reizgasgranaten

Abstract

Autor: Alexander Spring

Publiziert am 18.09.2013

Bedeutung für die Praxis:

  • Ein unverhältnismässiger Einsatz von Tränengas kann eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen.
  • Werden Reizgasgranaten im Direktschuss (und nicht im Bogenschuss) eingesetzt, gelten die Voraussetzungen des polizeilichen Schusswaffeneinsatzes analog.
  • Die Voraussetzungen des Gebrauchs von Tränengasgranaten müssen durch die innerstaatliche Gesetzgebung geregelt werden.

Hintergrund des Urteils

Im März 2006 fanden in Diyarbakır (Türkei) nach dem Tode von 14 Mitgliedern der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) mehrere nicht bewilligte und gewalttätige Demonstrationen statt. Dabei kamen bei Auseinandersetzungen mit der Polizei elf Demonstranten ums Leben; zwei davon durch Beschuss mittels Reizgasgranaten.

Auch der Hauptbeschwerdeführer, ein dreizehnjähriger Knabe, wurde durch eine Tränengasgranate am Kopf getroffen und verletzte sich an der Nase. Laut seinen Aussagen befand er sich nur zufällig an der Demonstration und war auf dem Weg zu seiner Tante. Mittels Videoaufnahmen konnte nachgewiesen werden, dass die Reizgasgranate, die den Jungen verletzte, in einer geraden Linie und nicht in einem Bogenschuss abgefeuert wurde.

Der EGMR stufte in seinem Urteil vom 16. Juli 2013 das Verhalten der türkischen Polizeiorgane als Verletzung von Art. 3 EMRK (Verbot der Folter und der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung) ein. Zudem verlangte er gestützt auf Art. 46 EMRK (Verbindlichkeit und Vollzug der Urteile), dass der zulässige Einsatz von Tränengasgranaten durch innerstaatliche Gesetze oder Reglementarien genügend geregelt sein muss.

Der menschenrechtskonforme Einsatz von Reizgasgranaten

Laut der bisherigen EGMR-Rechtsprechung (vgl. Ali Güneş v. Turkey, EGMR-Urteil vom 10. April 2012) kann bereits der unverhältnismässige Einsatz von Reizgas an sich gegen Art. 3 EMRK verstossen. Im hier zu besprechenden Urteil gelangte aber der EGMR zum Schluss, dass im konkreten Fall der Einsatz von Reizgas an sich EMRK-konform war. Eine EMRK-Verletzung stellte hingegen der konkrete Einsatz der Reizgasgranaten dar. Anstatt diese in einem Bogenschuss in der Demonstrantenmenge zu platzieren, schossen die türkischen Sicherheitskräfte direkt auf die Demonstrierenden. Da eine derartigen Benutzung von Reizgasgranaten eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben von Personen bewirkt, hat ein solcher Einsatz von Tränengasmunition laut dem EGMR vor der Konvention nur Bestand, wenn die Voraussetzungen des Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) des rechtmässigen Schusswaffeneinsatzes erfüllt sind (siehe dazu detailliert SKMR-Newsletterbeitrag „Die menschenrechtlichen Vorgaben für den polizeilichen Schusswaffengebrauch“).

Da im konkreten Fall nicht mit Sicherheit festgestellt werden konnte, ob der Beschwerdeführer wirklich Teilnehmer an der gewaltsamen Demonstration gewesen war und ob der direkte Beschuss von Demonstrierenden mit Reizgasgranaten ein verhältnismässiges Mittel zur Auflösung der gewaltsamen Demonstrationen war, prüfte der EGMR den Sachverhalt nicht unter dem Blickwinkel des Rechts auf Leben, sondern gelangte zum Schluss einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Denn die schweren Verletzungen des Beschwerdeführers und sein Verhalten an der Demonstration standen in keinem Verhältnis zur Gewaltanwendung der Polizei.

Genügende Reglementierung des Einsatzes von Reizgasgranaten

Der EGMR begnügte sich nicht mit dieser Feststellung, sondern statuierte überdies, dass der Einsatz von Reizgasgranaten in der Türkei rechtlich nur ungenügend geregelt war. Zwar führte die Türkei zwei Jahre nach dem Vorfall (2008) eine Direktive über den Einsatz von Reizgas ein, jedoch wurde auch dort die Problematik von Tränengasgranaten nicht genügend angesprochen.

Ein Blick in die entsprechenden gesetzlichen Regelungen der Kantone illustriert, dass solche Defizite teilweise auch in der Schweiz bestehen. Gewisse Kantone erwähnen zwar auf Verordnungs- oder Gesetzesstufe die Benutzung von Reizgas als Mittel zur Erfüllung polizeilicher Aufgaben (z.B. die Kantone Schwyz, Uri, Thurgau, Obwalden oder Aargau). Eine detailliertere Regelung zum Einsatz von Reizgas kennt jedoch alleine der Kanton Zürich in § 9 und § 10 der Verordnung über die polizeiliche Zwangsanwendung.

Fazit

In der Schweiz sind, soweit ersichtlich, keine vergleichbaren Fälle des direkten Beschusses von Demonstranten mit Reizgasgranaten bekannt. Das EGMR-Urteil verdeutlicht aber präventiv, dass auch in Ausnahmesituationen ein direkter Beschuss von Personen mit Reizgasgranaten nur unter den strikten Voraussetzungen des Schusswaffeneinsatzes zulässig ist. Zudem besteht in vielen Kantonen im Allgemeinen ein akuter Gesetzgebungsbedarf für den Einsatz solcher Granaten.

^ Zurück zum Seitenanfang