Artikel

Wann verstösst die Überbelegung von Gefängnissen gegen die EMRK?

Die NKVF bezeichnet die Zustände in zwei Haftanstalten in Lausanne und Genf als unhaltbar.

Abstract

Autorin: Vijitha Veerakatty

Publiziert am 13.06.2013

Bedeutung für die Praxis:

  • Die Überbelegung einer Haftanstalt stellt stets eine Verletzung von Art. 3 EMRK dar, wenn der inhaftierten Person weniger als 3 m2 individueller Raum in ihrer Zelle zur Verfügung steht.
  • Auch wenn der inhaftierten Person mehr Platz in ihrer Zelle zur Verfügung steht, kann eine Überbelegung zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK führen, wenn die Haftbedingungen nicht entsprechend angepasst werden. Insbesondere ist unter diesen Umständen der Aufenthalt ausserhalb der Zelle grosszügiger zu erlauben.
  • In Hinblick auf die aktuellen Probleme in den Westschweizer Gefängnissen sind nebst Massnahmen gegen die Überbelegung dringlich auch solche zur Verbesserung der Haftbedingungen zu ergreifen.

Überbelegung von Hafteinrichtungen in der Schweiz

Zwei im Jahr 2013 veröffentlichte Berichte der Nationalen Kommission zur Verhütung der Folter (NKVF) illustrieren, dass auch in der Schweiz das Problem der Überbelebung teilweise gravierend ist (CNPT 06/ 2012 und CNPT 08/ 2012). Die NKVF bezeichnete die Zustände in zwei Haftanstalten in Lausanne und Genf als unhaltbar:

Das Gefängnis Bois-Mermet in Lausanne sei veraltetet und für eine Doppelbelegung nicht geeignet. Dennoch würden nach heutiger Praxis in kleinen Einzelzellen zwei Inhaftierte untergebracht. Trotz vorhandener Freizeitangebote müssten Inhaftierte manchmal bis zu 27 Stunden ohne Unterbruch in einer Zelle verbringen.

Auch die seit Jahren anhaltende chronische Überbelegung im Genfer Gefängnis Champ-Dollon sei Besorgnis erregend. Bei einer Aufnahmekapazität von 367 Plätzen seien 671 Häftlinge untergebracht. Die hygienischen Zustände in den Gängen, Spazierhöfen, Duschen sowie auch in der Küche seien mangelhaft. Es bestünden lange Wartelisten für den Zugang zu medizinischer Versorgung und zum Sozialdienst sowie für die Zuteilung eines Arbeitsplatzes innerhalb der Anstalt.

Praxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Überlegung von Hafteinrichtungen – Das Urteil Canali v. France (No. 40119/09)

Wie sind solche Zustände vor dem Hintergrund der Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu würdigen? Am 25. April 2013 befand der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) über eine gegen Frankreich gerichtete Beschwerde, in welcher eine Verletzung des Verbots der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung gerügt wurde. Der Beschwerdeführer machte geltend, er habe seine 9 m2 grosse Zelle mit einem weiteren Inhaftierten teilen müssen. Er bemängelte weiter, dass die Toilette in seiner Zelle keine Tür gehabt habe und die sanitären Einrichtungen sowie Infrastruktur der Zelle mangelhaft gewesen seien.

Der EGMR hielt zunächst fest, die Zellengrösse des Beschwerdeführers (9 m2) sei für eine Zweierzelle nicht zu klein. Sie entspreche dem Minimalstandard, welche das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) in ihrem Bericht von 2003 (CPT/Inf (2004) 6, §30) empfohlen habe. Die Zellengrösse allein begründe daher keine Verletzung von Art. 3 EMRK. Eine solche würde nur vorliegen, wenn dem Beschwerdeführer ein individueller Raum von weniger als 3 m2 zur Verfügung stünde. Der Gerichthof erinnerte jedoch daran, dass in Situationen einer Überbelegung die weiteren Haftbedingungen bei der Prüfung miteinbezogen werden müssen. Er wies insbesondere darauf hin, dass das CPT im Bericht von 2010 (CPT/Inf (2012) 13, §78) festhielt, dass eine Zweierzelle von 10,5 m2 nur akzeptabel sei, wenn die Gefangenen die Möglichkeit haben, einen angemessenen Teil der Tageszeit, explizit mindestens 8 Stunden, ausserhalb der Zelle zu verbringen. Diese Möglichkeit habe im konkreten Fall nicht bestanden.

Der Gerichtshof führte weiter aus, dass der Zugang zu angemessenen Toiletten und gute hygienische Bedingungen Grundelemente für ein menschenwürdiges Umfeld seien. Gefangene müssten einfachen Zugang zu sanitären Einrichtungen haben, bei welchen ihre Intimsphäre geschützt sei. Die Toilette in der Zelle des Beschwerdeführers sei jedoch nur durch eine Mauer und, wegen der fehlenden Türe, durch eine Bettdecke vom Rest der Zelle getrennt gewesen. Der Beschwerdeführer und sein Zellengenosse hätten damit die Toilette in der Anwesenheit des anderen benutzen müssen. Gemäss dem CPT (CPT/Inf (2012) 13, §78) sei eine nur teilweise abgeschlossene Toilette in einer von mehr als einer Person bewohnten Gefängniszelle nicht akzeptabel.

Der Gerichtshof kam daher zum Schluss, dass der kumulative Effekt der schlechten Haftbedingungen beim Beschwerdeführer das Gefühl der Verzweiflung und Minderwertigkeit erweckt und ihn dadurch erniedrigt und gedemütigt habe. Er hiess daher die Beschwerde wegen Verletzung von Art. 3 EMRK gut.

Fazit

Dieses Urteil illustriert, dass die Überbelegung von Hafteinrichtungen zwar nicht a priori eine Verletzung der EMRK darstellt. Gefordert sind in solchen Situationen aber Massnahmen zur Wahrung der Intimsphäre von Inhaftierten. Zudem muss es Inhaftierten ermöglicht werden, mehrere Stunden pro Tag ausserhalb ihrer Zellen zu verbringen. Dieses Erfordernis dürfte insbesondere in der Untersuchungshaft nicht einfach umzusetzen sein, verbringen doch in der Schweiz Untersuchungsgefangene regelmässig 23 Stunden pro Tag in ihrer Zelle. Erfreulich ist daher, dass sowohl in Genf als auch in Lausanne Schritte gegen die Überbelegung geplant sind (siehe die Stellungnahmen von Genf und Lausanne zu den Berichten der NKVF).

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