Artikel

Verbot der Gewaltanwendung in der Erziehung

Die rechtliche Situation in der Schweiz in Zusammenhang mit Körperstrafen und anderen Formen grausamer und erniedrigender Bestrafung von Kindern

Abstract

Autoren*innen: Philip Jaffé, Nicole Hitz Quenon

Publiziert am 27.06.2012

Bedeutung für die Praxis:

  • In der Schweiz kommt in der Erziehung nach wie vor Gewalt zur Anwendung; gleichzeitig existiert kein ausdrückliches Gewaltverbot an Kindern.
  • Neue Impulse für eine positive Elternschaft sowie ein Verbot der Gewalt an Kindern sind notwendig.
  • Sensibilisierungs- und Informationskampagnen in der gesamten Bevölkerung und insbesondere bei den Eltern könnten die erforderlichen Veränderungen auf der Ebene der Mentalität sowie in der Praxis beeinflussen.

Ein ausdrückliches elterliches Züchtigungsrecht existiert in der Schweiz nicht mehr. Es ist 1978 aus dem schweizerischen Zivilgesetzbuch gestrichen worden. Dennoch sind Erziehungsmassnahmen, die auf körperlicher Gewalt beruhen, nicht verschwunden. Trotz internationaler Verpflichtungen und Empfehlungen sowie bestehender Modelle in anderen europäischen Ländern (z.B. Deutschland oder Schweden) gibt es in der Schweiz keine gesetzliche Vorschrift, welche die Anwendung von Gewalt an Kindern zu Erziehungszwecken verbietet. Zur Bestimmung des Begriffs «Gewalt in der Erziehung» greifen wir im vorliegenden Artikel auf die Definition des UNO-Kinderrechts-Ausschusses in der Allgemeinen Bemerkung Nr. 8 zurück, die sowohl die körperliche Bestrafung durch physische Gewalt sowie gewisse Arten psychologischer Bestrafung wie zum Beispiel Erniedrigung, Herabwürdigung oder Vernachlässigung enthält.

Die gesetzliche Situation in der Schweiz

Die Schweizerische Bundesverfassung (BV) schützt in Art. 10 die körperliche und geistige Unversehrtheit und enthält in Art. 11 BV eine Bestimmung zum Schutz der Unversehrtheit von Kindern und Jugendlichen. Gemäss Art. 302 Abs. 1 ZGB haben die Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder deren Entfaltung zu fördern und zu schützen. Im Strafgesetzbuch werden bestimmte Körperverletzungen (Art. 122, 123 Abs. 2 und 125 Abs. 2 StGB) sowie wiederholte Tätlichkeiten (Art. 126 Abs. 2 StGB) an Kindern geahndet und von Amtes wegen verfolgt. Einfache fahrlässige Körperverletzungen (Art. 125 Abs. 1 StGB) sowie nicht wiederholte Tätlichkeiten (Art. 126 Abs. 1 StGB) an Kindern werden hingegen nur auf Antrag geahndet. Es besteht somit eine Lücke auf Gesetzesebene, da Kinder, die nicht über die notwendige Urteilsfähigkeit (Art. 30 Abs. 3 StGB) zur Erstattung einer Strafanzeige gegen die Täterschaft (in diesem Falle die Eltern, also seine gesetzlichen Vertreter), nicht geschützt sind. Aktuell enthalten einzig die Reglemente von Schulen oder Institutionen spezifische Bestimmungen, die die Körperstrafe und andere Formen grausamer und erniedrigender Bestrafung in der Erziehung verbieten.

Das Bundesgericht ist zwar der Ansicht, dass Art. 126 Abs. 2 StGB mit der Absicht eingeführt wurde, ein Verbot jeglicher Form von Gewalt in der Erziehung einzuführen (BGE 129 IV 216). Gleichzeitig ist körperliche Bestrafung im häuslichen Umfeld gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts nicht als physische Gewalt zu bewerten, wenn sie ein gewisses von der Gesellschaft akzeptiertes Mass nicht überschreitet und die Bestrafung nicht allzu häufig wiederholt wird (ibid. und BGE 117 IV 14). Ein «von der Gesellschaft akzeptiertes» Mass kann jedoch nicht problemlos festgelegt werden, da zwischen den verschiedenen Generationen, Gemeinschaften und sozioökonomischen Gruppen keine Einigkeit bezüglich eines einheitlichen Masses an akzeptierter körperlicher Bestrafung besteht.

Engagement und Impulse der Politik und von NGOs

Der parlamentarische Vorstoss Vermot-Mangold (06.419) vom März 2006 forderte ein Gesetz, das Kinder vor Körperstrafen und anderen Misshandlungen schützt, welche die physische oder psychische Integrität der Kinder verletzen. Im Dezember 2008 wurde die Initiative jedoch unter dem Vorwand, dass das Zivil- und Strafrecht zum Schutze der Kinder ausreichend sei, abgelehnt. 2009 hat das Netzwerk Kinderrechte Schweiz in seinem Schattenbericht zum zweiten Berichterstattungszyklus der Schweiz zuhanden des UNO-Kinderrechtsausschusses aufgezeigt, dass die Schweiz durch die Ablehnung der parlamentarischen Initiative Vermot-Mangold im Vergleich zur gesetzlichen Lage in anderen westeuropäischen Ländern und auch bezüglich der 2008 vom Europarat lancierten Kampagne gegen Körperstrafen eindeutig im Hintertreffen liegt.

Nach der Ablehnung der Initiative hat die Stiftung Kinderschutz Schweiz 2010 – in Zusammenarbeit mit zahlreichen Experten/-innen – eine Kampagne gegen die Körperstrafe und für eine gewaltfreie Erziehung lanciert. Im April 2012 sprachen sich die Autoren/-innen des NGO-Berichts der Schweiz zum zweiten Periodischen Länderüberprüfungsverfahren des UNO-Menschenrechtsrats für einen neuen Anlauf zur Einführung eines Verbots der Köperstrafe an Kindern aus.

Die internationalen Anforderungen

Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes (KRK) verlangt in Art. 19 von den Vertragsstaaten, dass sie «alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmassnahmen» treffen, «um das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung [...] zu schützen».

Zu einem besseren Verständnis der Bestimmungen der KRK bezüglich des Schutzes von Kindern vor jeglicher Form von Gewalt hat der Kinderrechtsausschuss 2006 die Allgemeine Bemerkung Nr. 8 zum Schutz vor Körperstrafen und anderen Formen grausamer und erniedrigender Bestrafung veröffentlicht. Die darin verwendete Definition der Gewalt ist sehr weitläufig (siehe Einleitung). Der Ausschuss ist der Ansicht, dass jegliche Form von Körperstrafen erniedrigend ist. Zudem sind gewisse Arten nichtkörperlicher Bestrafung, wie zum Beispiel Demütigung oder Herabwürdigung, ebenfalls grausam und erniedrigend und somit unvereinbar mit der KRK. Der Ausschuss spricht sich hier für ein deutliches und bedingungsloses Verbot jeglicher Art der Züchtigung aus. In der Allgemeinen Bemerkung Nr. 13 von 2007 über das Recht auf Schutz vor jeglicher Form von Gewalt betont der Ausschuss die entscheidende Rolle der Eltern für eine respektvolle, wohlwollende und gewaltfreie Erziehung, was unter Fachleuten als «positive Elternschaft» bekannt ist.

Auf regionaler Ebene befasst sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit dem Thema der Bestrafung. Bezüglich der Körperstrafe in der Familie hält der Gerichtshof im Entscheid A. gegen Grossbritannien aus dem Jahr 1998 fest, dass die körperliche Bestrafung mit Stockhieben gegen Art. 3 EMRK verstösst.

Der Europarat hat verschiedene Empfehlungen zum Thema Gewalt an Kindern ausgearbeitet, wie beispielsweise die Empfehlung aus dem Jahr 2004 über ein europaweites Verbot der körperlichen Züchtigung von Kindern [Rec.1666(2004)].

Die Kontrollorgane der Vereinten Nationen haben sich gegenüber der Schweiz direkt zu diesem Thema geäussert. Sowohl der Menschenrechtsrat – im Rahmen der Empfehlungen zum ersten Periodischen Länderüberprüfungsverfahren 2008 – als auch der Ausschuss gegen Folter und der Kinderrechtsausschuss haben 2010 und 2002 die Schweiz dazu aufgefordert, alle Arten der körperlichen Bestrafung von Kindern ausdrücklich oder spezifisch in der Gesetzgebung zu verbieten.

Schlussfolgerungen

In der Schweiz ist zurzeit in Bezug auf die Forderung nach einem Verbot, ein Stillstand zu verzeichnen. Dies trotz internationaler Empfehlungen und obwohl unter Fachleuten Einigkeit herrscht, dass angesichts der gravierenden medizinischen und psychologischen Folgen die bestehenden Massnahmen bezüglich der Körperstrafe sowie anderer Formen grausamer und erniedrigender Bestrafung von Kindern ungenügend sind. Um ein explizites gesetzliches Verbot durchsetzen zu können, müsste eine Änderung der Mentalität herbeigeführt werden. Diese kann wohl mit langfristig angelegten, aktiven Sensibilisierungskampagnen, welche auf die Gesamtbevölkerung und insbesondere auf die Eltern abzielen, am ehesten erreicht werden.

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