Artikel

Schranken für den Einsatz präventiven Polizeigewahrsams

EGMR: Schwabe und M.G. v. Deutschland (Beschwerde Nr. 8080/08 und 8577/08)

Abstract

Autorin: Evelyne Sturm

Publiziert am 01.02.2012

Bedeutung für die Praxis:

  • Der präventive Freiheitsentzug als Massnahme zur Verhinderung von Gewalt bei Grossanlässen ist nur bei strenger Beachtung der Verhältnismässigkeit zulässig.
  • Mehrtägige Präventivhaft für Demonstranten mit Transparenten, die nach Meinung der Behörden zu Gewalt aufrufen, ist unverhältnismässig, wenn der Text als Aufruf an die Behörden verstanden werden kann und das Einziehen der Transparente die Gefahr beseitigt hätte.

Dem Einsatz präventiven Polizeigewahrsams zur Verhinderung von Gewalt bei Grossanlässen setzt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einem kürzlich ergangenen Urteil betreffend Deutschland Grenzen. Er verlangt von den zuständigen Behörden auch in solchen Situationen eine sorgfältige Überprüfung der Verhältnismässigkeit im Einzelfall.

Inhaftnahme für die gesamte Dauer des G8-Gipfels

Zu beurteilen hatte der EGMR die präventive Inhaftierung zweier Globalisierungsgegner, die an den Demonstrationen gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm teilnehmen wollten. Weil die Polizei die Aufschrift auf den mitgeführten Transparenten („freedom for all prisoners“ und „free all now“) als Aufforderung zur gewaltsamen Befreiung von inhaftierten Aktivisten erachtete, nahm die Polizei die beiden Männer präventiv für insgesamt fünf Tage in Polizeigewahrsam und entliess sie erst nach dem G8-Gipfel.

Unverhältnismässigkeit der Massnahme

Wie der EGMR unterstrich, entfällt der Schutz der Konvention nicht lediglich durch den Umstand der möglichen Gewaltbereitschaft von Demonstrierenden. Zwar kann die Verhinderung künftiger Straftaten einen zulässigen Grund für eine Freiheitsentziehung darstellen (Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK), der EGMR verneinte jedoch klar die Erforderlichkeit der Massnahme und befand, dass die Beschlagnahme der Transparente, deren Texte statt als Aufruf zur Gewalt ohne Weiteres als Appell an die Behörden verstanden werden konnten, ausreichend gewesen wäre, um die befürchtete Anstiftung anderer Demonstrierender zu verhindern.

Verletzung der Versammlungsfreiheit

Die Inhaftierung stellte nach Auffassung des Gerichtshof zusätzlich eine Verletzung der Versammlungsfreiheit dar (Art. 11 EMRK). Die Beschlagnahme der Transparente hätte auch hier eine weniger einschneidende Massnahme dargestellt.

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