Artikel

Eine schwierige Beziehung: Die Schweiz und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte

Abstract

Autor: Walter Kälin

Publiziert am 24.11.2014

Zusammenfassung:

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sieht sich in der Schweiz einer Vielzahl von Vorwürfen ausgesetzt. Im Vordergrund stehen die Argumente,

  • bei den Mitgliedern des EGMR handle es sich um «fremde» Richter;
  • der Gerichtshof befasse sich statt mit schweren Menschenrechtsverletzungen zunehmend mit Bagatellfällen, die ursprünglich von den Garantien der EMRK nicht erfasst gewesen seien;
  • und er missachte in vielen Fällen den Beurteilungsspielraum, welcher den Staaten bei Beschränkungen der Menschenrechte zustehe.

Der Beitrag setzt sich mit dieser Kritik auseinander.

Am 16. April 2013 fällte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Verfahren Udeh gegen die Schweiz Urteil, das wie kaum ein anderes in jüngerer Zeit heftige Diskussionen auslöste. Der Nigerianer Kinsley Chike Udeh hatte 2003 eine Schweizerin geheiratet und eine Aufenthaltsbewilligung erhalten. Im gleichen Jahr wurden seine zwei Töchter geboren. 2006 wurde er in Deutschland mit einem Viertelkilo reinem Kokain im Magen verhaftet und zu 42 Monaten Gefängnis verurteilt. 2009 entschied das Bundesgericht, das Interesse der Schweiz an der Ausschaffung eines schweren Straftäters überwiege im konkreten Fall das Recht Udehs und seiner beiden Töchter, das Familienleben weiterführen zu können. Vier Jahre später kam der EGMR zum Schluss, Udeh habe sich seit der vorzeitigen Entlassung aus dem Strafvollzug nichts zuschulden kommen lassen und er pflege trotz Scheidung einen engen Kontakt zu seinen Töchtern. Deshalb würde die Ausschaffung den Anspruch der Töchter auf Kontakt mit ihrem Vater und damit Art. 8 EMRK auf Schutz des Familienlebens verletzen.

Kritik in Politik und Medien an Urteilen aus Strassburg ist nicht neu. So hat etwa der Ständerat 1988 im Nachgang zum Urteil Belilos gegen die Schweiz, 29.03.1988 ein Postulat Danioth auf Kündigung der EMRK nur knapp abgelehnt. Die aktuelle Diskussion unterscheidet sich allerdings insofern von früheren Diskussionen, als sie weite Kreise der Öffentlichkeit erfasst und die Praxis des EGMR als Hauptgrund für die geplante Lancierung der SVP-Initiative zum Vorrang des schweizerischen Verfassungsrechts vor dem Völkerrecht angeführt wird.

Die Kritiken lassen sich auf drei Kernargumente zurückführen: Erstens handle es sich bei den Mitgliedern des EGMR um «fremde» Richter ohne wirkliche Legitimität. Zweitens behandle der Gerichtshof im Gegensatz zu früher heute zunehmend statt «echter» Menschenrechtsverletzungen rechtsstaatliche Bagatellfragen und weite damit den Begriff Menschenrechte weit über den ursprünglichen Sinn aus. Schliesslich verletze der EGMR die Souveränität der Staaten, indem er den ihnen vorbehaltenen Beurteilungsspielraum missachte. Diese Argumente sind im Folgenden näher zu betrachten.

Fremde Richter?

Mit dem Argument der fremden Richter wird oft an der berühmten Bestimmung im Bundesbrief von 1291 angeknüpft, wonach kein Richter akzeptiert wird, der sein Amt erkauft hat oder nicht «unser Einwohner oder Landmann» ist. Während das erste Element auf die Ablehnung illegitimer Gerichtsbarkeit verweist und nach wie vor aktuell ist, muss das zweite Element im historischen Kontext und der Veränderung der Schweiz und ihrer Stellung in der Welt seit dem 13. Jahrhundert als Ablehnung des aufgezwungenen Richters verstanden werden, auf dessen Ernennung man keinen Einfluss hat.

In diesem Sinn sind die Mitglieder des EGMR keine fremden Richter. Mit der Ratifikation der EMRK und insbesondere jener des 11. Zusatzprotokolls von 1994, welches die Europäische Kommission für Menschenrechte abgeschafft und den EGMR als permanenten Gerichtshof eingerichtet hat, hat die Schweiz die Strassburger Gerichtsbarkeit in einem souveränen Entscheid freiwillig anerkannt. Sie kann auf die Wahl der Richterinnen und Richter durch die Parlamentarische Versammlung des Europarates Einfluss nehmen, da sie in diesem Gremium mit einer parlamentarischen Delegation vertreten ist. Schliesslich hat sie Anspruch auf eine Richterin oder einen Richter schweizerischer Nationalität, die oder der aus einer Liste von drei von ihr vorgeschlagenen Personen gewählt wird (Art. 22 EMRK). Gegen die Schweiz kann kein Urteil ergehen, ohne dass daran ein Gerichtsmitglied schweizerischer Nationalität mitgewirkt hätte (Art. 26 Abs. 4 EMRK).

Die Legitimität des EGMR beruht nicht nur auf diesen Faktoren, sondern auch auf der Tatsache, dass die Menschenrechte der EMRK und die Grundrechte der Bundesverfassung insbesondere seit der Totalrevision von 1999 inhaltlich weitgehend identisch sind und die Zahl der Beschwerden aus der Schweiz sehr hoch ist. So hat sich der EGMR 2013 mit 1679 Beschwerden aus der Schweiz befasst, was trotz der äusserst geringen Erfolgsrate von weniger als einem Prozent ein Hinweis darauf ist, dass der Gerichtshof bei den Verfahrensbeteiligten ein hohes Ansehen geniesst.

In der aktuellen Diskussion wird regelmässig vergessen, dass der EGMR nicht das einzige internationale Gericht oder gerichtsähnliche Organ ist, dem die Schweiz sich unterzogen hat. Bereits 1948 anerkannte die Schweiz die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag (IGH). Später folgten etwa die Anerkennung des Streitbeilegungsmechanismus der WTO oder der Zuständigkeit des durch das UNO Seerechtsübereinkommen errichteten Seegerichtshofs.

Ausweitung der Menschenrechtsgarantien auf Bagatellfälle?

Während das Argument der «fremden» Richter bereits früher zu hören war, ist die Behauptung neueren Datums, im Gegensatz zu früher greife der EGMR heute statt bei schweren Menschenrechtsverletzungen mehrheitlich bei Bagatellfällen in die staatliche Souveränität ein, indem er den Begriff der Menschenrechte weit über den ursprünglichen Sinn der EMRK hinaus ausdehne. In diesem Sinn führte z.B. Prof. Hans Giger in der NZZ zum Fall Udeh gegen die Schweiz, 16.04.2013 aus, es lasse sich «mit Sicherheit feststellen: Die Beurteilung des Aufenthaltsrechts eines mehrfach kriminellen Ausländers in der Schweiz, der die Niederlassungsbewilligung nur durch Heirat mit einer Schweizerin erwarb, kann gemäss der im Jahre 1974 ratifizierten EMRK nicht als durch den Europäischen Gerichtshof zu beurteilendes Menschenrecht gelten.»

Abgesehen davon, dass bereits die frühere Europäische Kommission für Menschenrechte ab 1959 (Beschwerde Nr. 312/57, Dec 9, 1959, Yearbook of the European Convention on Human Rights 1958-1959, S. 352ff) in ständiger Praxis anerkannte, dass sich eine Familie, die wegen der Ausweisung eines straffälligen Familienmitglieds auseinandergerissen wird, auf den Schutz von Art. 8 EMRK berufen kann, verkennt diese Argumentation den Charakter der EMRK. Anders als etwa die Genozidkonvention von 1948 sollte sich die EMRK nicht auf schwerste Menschenrechtsverletzungen konzentrieren, sondern in einem weiten Sinn die Grundlagen für den Ausbau und den Schutz der Rechtsstaatlichkeit in Europa legen. Der damalige Generalsekretär des Europarates führte in seiner Rede anlässlich der Inauguration der Europäischen Kommission für Menschenrechte am 12. Juli 1954 aus, mit der EMRK wolle man auf der einen Seite die Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, auf welchen Europa beruhe, zum Ausdruck bringen, auf der andern Seite aber auch einen Wall gegen den Rückfall in Barbarei und Tyrannei schaffen. Er zitierte Lord Layton, demzufolge konstante Wachsamkeit der Preis der Freiheit sei.

Das Wissen darum, dass der Schutz des Rechtsstaats zu spät kommt, wenn dieser bereits soweit erodiert ist, dass Folter und willkürliche Tötungen durch Staatsorgane mehr als isolierte Einzelfälle sind, kommt im Text der EMRK klar zum Ausdruck: Dieser garantiert nicht nur den Schutz vor schweren Menschenrechtsverletzungen wie willkürlicher Tötung, Folter, Sklaverei und Zwangsarbeit (Art. 2 - 4 EMRK), sondern regelt in äusserst detaillierter Weise die Rechte von Personen in Haft und im Strafverfahren (Art. 5 - 7 EMRK), und spricht Details wie die Freiheit der Korrespondenz (Art. 8 EMRK), die Genehmigungspflicht von Kinounternehmen (Art. 10 EMRK) oder die Gründung von Gewerkschaften (Art. 11 EMRK) an. Mit anderen Worten: Die Schöpfer der Konvention wollten ein Vertragswerk schaffen, welches, wie die Präambel der EMRK sagt, auf dem «gemeinsame[n] Erbe an politischen Überlieferungen, Idealen, Achtung der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit» in Europa aufbaut und dieses sichern soll (vgl. dazu den Beitrag «Die EMRK - ein Katalysator der Freiheit in Europa» im SKMR-Newsletter vom 24. Nov. 2014).

Vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, dass die ersten Fälle aus der Schweiz, welche der EGMR nach der Ratifikation vor 40 Jahren zu beurteilen hatte, keine «schweren» Menschenrechtsverletzungen betrafen, sondern rechtsstaatliche Fragen eher technischer Natur zum Gegenstand hatten. In den ersten fünf Verurteilungen der Schweiz durch den EGMR ging es um die Verpflichtung, trotz Einstellung eines Strafverfahrens wegen Verjährung die Verfahrenskosten von Fr. 974 zu tragen (Minelli gegen die Schweiz, 25.03.1983: Verletzung der Unschuldsvermutung); die 3 ½-jährige Verfahrensdauer in einer Enteignungssache vor Bundesgericht (Zimmermann/Steiner gegen die Schweiz, 13.07.1983: Verletzung des Anspruchs auf ein Urteil innerhalb einer angemessenen Frist); die 46-tägige Dauer zwischen dem Gesuch um Entlassung aus der Untersuchungshaft und dem entsprechenden Bundesgerichtsentscheid (Sanchez-Reisse gegen die Schweiz, 21.10.1986: Verletzung des Anspruchs auf Beurteilung einer Haftbeschwerde innerhalb kurzer Frist); die damalige Wartefrist von maximal drei Jahren nach einer Scheidung, bis eine neue Ehe geschlossen werden durfte (F. gegen die Schweiz, 18.12.1989: Verletzung des Rechts auf Ehe); und den Ausschluss einer umfassenden gerichtlichen Überprüfung bei einer Polizeibusse von Fr. 120 (Belilos gegen die Schweiz, 29.04.1988: Verletzung des Anspruchs auf Beurteilung von Straftaten durch ein Gericht). Ausser im Fall Belilos ging es in keinem dieser Fälle um menschenrechtliche Grundsatzfragen oder Fälle, bei welchen besonders tief in die Menschenrechte der betroffenen Individuen eingegriffen worden war.

Unter den Urteilen, die 2013 und 2014 zur Feststellung führten, die Schweiz habe die EMRK verletzt, finden sich demgegenüber mehrere Fälle von grosser allgemeiner oder individueller Tragweite. Im Fall Al-Dulimi gegen die Schweiz, 26.11.2013 hatte der EGMR zu beurteilen, ob es im Rahmen von UNO-Sanktionen zulässig sei, die Vermögenswerte einer der Terrorismusfinanzierung verdächtigen Person ohne jegliche richterliche Überprüfung einzufrieren. Das Urteil A.A. gegen die Schweiz, 07.01.2014 bewahrte einen sudanesischen Asylsuchenden vor Ausschaffung in den Heimatstaat, wo ihm gemäss Feststellung des EGMR in hohem Mass Folter und Tod drohten. Der viel diskutierte Fall Howald Moor gegen die Schweiz, 11.03.2014 betraf die grundsätzliche Frage, ob ein Staat in Fällen, in welchen eine durch ein Industrieprodukt (Asbest) verursachte tödliche Krankheit regelmässig erst nach vielen Jahren ausbricht, allfällige Schadenersatzklagen gegen einen Arbeitgeber dadurch ausschliessen darf, dass er die Verjährungsfristen zu kurz ansetzt. Ruiz Rivera gegen die Schweiz, 18.02.2014 war die bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug jahrelang mit Hinweis auf eine 1995 diagnostizierte Schizophrenie verweigert worden, ohne dass eine seriöse Überprüfung seines Gesundheitszustands durchgeführt worden wäre, bis sich 2008 herausstellte, dass es sich um eine Fehldiagnose handelte und die Krankheit nie bestanden hatte. Das Urteil im Fall Tarakhel gegen die Schweiz, 04.11.2014 zur Verpflichtung, eine asylsuchende Familie mit kleinen Kindern nicht ohne Zusicherung einer adäquaten Unterkunft und Betreuung durch die dortigen Behörden nach Italien zurückzuschicken, hat Auswirkungen für die Handhabung des Dublin-Übereinkommens in ganz Europa (vgl. dazu den Beitrag «Die Dublin-Rückführungen von Familien nach Italien sind nur zulässig, wenn die Schweiz von Italien Garantien erhält» im SKMR-Newsletter vom 24. Nov. 2014).

Dynamische Auslegung

Es lässt sich also weder belegen, dass die EMRK nur dem Schutz vor besonders schweren Menschenrechtsverletzungen dient, noch zeigen, dass sich der EGMR im Gegensatz zu früher heute v.a. mit menschenrechtlichen Bagatellfällen befasst. Demgegenüber trifft es zu, dass der EGMR die EMRK dynamisch auslegt. Seit dem Urteil Tyrer gegen Grossbritannien 25.04.1978 betont der Gerichtshof, die Konvention sei ein «lebendiges Instrument […], das im Lichte der heutigen Verhältnisse zu interpretieren ist.» Es sei äusserst wichtig, die Konvention so auszulegen und anzuwenden, dass ihre Garantien wirksam bleiben und ihre praktische Bedeutung nicht verlieren würden.

Das ist notwendig, damit die EMRK auch unter gewandelten Umständen ihre Bedeutung behält. 1950 gab es keine Bedrohungen wie den globalen Terrorismus oder die systematische Sammlung von Daten im Internet durch staatliche Stellen. Die Relevanz der Menschenrechte im Bereich des Umweltschutzes war damals ebenso wenig ein Thema wie das Verbot des Tragens von Kopftüchern - Themen, mit welchen sich der EGMR in den letzten Jahren wiederholt befassen musste.

Neue Rechtsprechung kann auch notwendig werden, weil sich relevantes Völkerrecht insgesamt weiterentwickelt hat. So ist beispielsweise das eingangs erwähnte Urteil im Fall Udeh klar vom in der Kinderrechtskonvention verankerten Grundsatz der Beachtung des Kindeswohls geprägt, wenn der Gerichtshof in seinen Schlussfolgerungen ausführt, es sei im überwiegenden Interesse der beiden Töchter, mit beiden Elternteilen aufwachsen zu können.

Auch wenn man durchaus der Ansicht sein kann, der EGMR gehe in Einzelfällen in seiner Interpretation der EMRK-Garantien zu weit, ist die Tatsache nicht zu beanstanden, dass der EGMR die Konvention dynamisch auslegt. Dies ist vielmehr unvermeidlich und in der Struktur der Konvention selbst angelegt. Die meisten Garantien der EMRK sind sehr allgemein und abstrakt formuliert. Die Konvention schützt das «Recht jedes Menschen auf Leben» (Art. 2 EMRK), legt aber nicht fest, wann das Leben beginnt und wann es endet. Sie verbietet «Folter und unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung» (Art. 3 EMRK), sagt aber nicht, was unter diesen Begriffen zu verstehen ist und wie sie sich voneinander unterscheiden. Sie garantiert, dass jede wegen einer Straftat verhaftete Person «unverzüglich» einem Richter vorgeführt werden muss und Anspruch auf ein Urteil innerhalb einer «angemessenen» Frist hat, legt aber keine Zeitrahmen fest (Art. 5 EMRK). Oder sie verankert das Recht auf Achtung des «Privatlebens» (Art. 8 EMRK) ohne Hinweise darauf, was unter diesem Begriff zu verstehen ist. Da die meisten dieser Fragen von den Schöpfern der EMRK nicht diskutiert wurden, lässt sich auch unter Rückgriff auf die Entstehungsgeschichte nicht eruieren, wie diese und andere weit offene Begriffe auszulegen sind. Der EGMR muss somit notwendigerweise die in der EMRK verankerten Begriffe mit konkretem Inhalt ausfüllen, damit er die ihm übertragene Aufgabe erfüllen kann, «die Einhaltung der Verpflichtungen sicherzustellen», welche die Vertragsstaaten übernommen haben (Art. 19 EMRK).

Missachtung des den Staaten zustehenden Beurteilungsspielraums?

Ernsthafter als die Kritik am Grundsatz der dynamischen Auslegung der EMRK ist jene, die dem EGMR vorwirft, den Beurteilungsspielraum zu missachten, welcher den Staaten in Menschenrechtsfragen zusteht. Tatsächlich zeigt sich in vielen Bereichen, dass der EGMR heute Verletzungen feststellt, wo er vor zehn oder zwanzig Jahren eine solche mit dem Hinweis darauf verneint hätte, dass die nationalen Behörden besser als der Gerichtshof beurteilen könnten, ob eine Beschränkung im öffentlichen Interesse notwendig und damit verhältnismässig sei. Zudem hat der EGMR – wie der eingangs erwähnte Fall Udeh illustriert - in gewissen Fällen eine Tendenz, trotz der grundsätzlichen Bindung an die Sachverhaltsfeststellungen der innerstaatlichen Instanzen (Gsell gegen die Schweiz, 08.10.2009, den Sachverhalt erneut zu überprüfen. Das kann problematisch sein, erscheint aber im Lichte des Prinzips, dass Menschenrechte effektiven Schutz gewähren sollen, dort gerechtfertigt, wo seit dem letzten innerstaatlichen Entscheid viel Zeit verstrichen ist und sich die tatsächlichen Verhältnisse inzwischen verändert haben.

Diese Tendenzen haben dazu geführt, dass die Vertragsstaaten des Europarats dem EGMR mit der Betonung des Subsidiaritätsprinzips im 15. Zusatzprotokoll zur EMRK (vgl. dazu den Beitrag «Zusatzprotokoll Nr. 15 zur EMRK – Mehr Spielraum für die Vertragsstaaten?» im SKMR-Newsletter vom 24. Nov. 2014) deutlich signalisieren, dass sie vom ihm erwarten, die Beurteilungsspielräume der Staaten und die Rollenverteilung zwischen Richtern und Gesetzgebern künftig ernster zu nehmen.

Grundsätzlich ist dem EGMR allerdings zuzustimmen, dass der Beurteilungsspielraum der Staaten umso kleiner sein muss, je schwerer ein Eingriff in ein Menschenrecht ist oder je stärker ein Staat in einer gewissen Frage von der allgemeinen Staatenpraxis und dem Konsens in Europa abweicht (z.B. Goodwin gegen Grossbritannien, 11.07.2002. Die Konvention kann ihre Aufgabe, Menschenrechtsstandards in allen Staaten des Europarats durchzusetzen, nur erfüllen, wenn der Beurteilungsspielraum der einzelnen Länder nicht so weit geht, dass die Garantien der EMRK in den verschiedenen Ländern völlig unterschiedliche Bedeutung bekommen und damit der Grundsatz, dass Menschenrechte allen Menschen in gleicher Weise zukommen, ausgehöhlt wird.

Eine positive Bilanz

Es hat sich immer wieder gezeigt, dass Urteile, die ursprünglich heftig kritisiert wurden, sich nachträglich als überzeugende Lösungen erwiesen haben und heute als wichtige Beiträge zur Stärkung von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit gelten. So ist etwa der Grundsatz des oben erwähnten Urteils Belilos gegen die Schweiz, 29.03.1988, dass in allen strafrechtlichen Fällen eine umfassende gerichtliche Überprüfung stattfinden muss, zu einem zentralen Grundsatz des schweizerischen Rechts geworden und mit der Rechtsweggarantie von Art. 29a BV auf Rechtsstreitigkeiten irgendwelcher Art ausgedehnt worden. Die Wartefrist für den schuldigen Partner im Scheidungsverfahren, die im Nachgang zum erwähnten Fall F. abgeschafft werden musste, würde heute auf weitverbreitetes Unverständnis stossen, und die vielen negativen Urteile des EGMR zur EMRK-Widrigkeit von kantonalen Strafprozessordnungen hat den Übergang zur Modernisierung und Vereinheitlichung des Strafprozessrechts auf Bundesebene (Schweizerische Strafprozessordnung von 2007) vorbereitet und wesentlich erleichtert. Trotz einzelner Urteile, die man in guten Treuen als problematisch ansehen kann, hat sich die Rechtsprechung des EGMR insgesamt nicht nur für die betroffenen Parteien, sondern auch für die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit der Schweiz als positiv erwiesen.

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