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Die Dublin-Rückführungen von Familien nach Italien sind nur zulässig, wenn die Schweiz von Italien Garantien erhält

Fall Tarakhel gegen die Schweiz: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erlaubt der Schweiz die Rückführung einer afghanischen Flüchtlingsfamilie nach Italien nur, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind.

Abstract

Autorin: Fanny Matthey
(Übersetzung aus dem Französischen)

Publiziert am 24.11.2014

Zusammenfassung:

  • Anders als bei Griechenland (vgl. Fall M.S.S. gegen Belgien und Griechenland, 21.01.2011) spricht der EGMR nicht von «systematischen Mängeln» im italienischen Aufnahmesystem für Asylsuchende.
  • Daher – und trotz erheblicher Zweifel hinsichtlich der gegenwärtigen Kapazitäten des Systems (Tarakhel gegen die Schweiz, 04.11.2014, Ziff. 115) – bleiben Rückführungen nach Italien grundsätzlich möglich.
  • Die Rückführungen von Familien dürfen jedoch nicht mehr automatisch erfolgen: Bevor eine Familie nach Italien zurückgeschickt werden kann, sind für jeden Einzelfall Garantien bezüglich einer kindgerechten Beherbergung sowie der Wahrung der Familieneinheit einzuholen.
  • Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Familie Tarakhel schlussendlich doch nach Italien überstellt wird, wenn die Schweiz die erforderlichen Garantien erhält.

Fluchtgeschichte der Familie Tarakhel

Der Fall betrifft eine afghanische Familie mit sechs Kindern im Alter zwischen 2 und 14 Jahren. Nachdem sie 15 Jahre im Iran verbracht hatte, begab sich die Familie zunächst in die Türkei und dann nach Italien, wo sie sich als Flüchtlinge festnehmen liess. Die Eltern wurden am 16. Juli 2011 im EURODAC-System als Asylsuchende erfasst und die ganze Familie wurde in einem Aufnahmezentrum in Bari mit unzureichenden sanitären Einrichtungen und in einem Umfeld der Gewalt untergebracht.

Die Familie beschloss, nach Österreich weiterzureisen, wo sie am 30. Juli 2011 erneut im EURODAC registriert wurde und wo sie Asyl beantragte. Da sie fürchtete, nach Italien abgeschoben zu werden, zog sie in die Schweiz weiter, wo sie am 3. November 2011 Asyl beantragte.

Schweizer Asylentscheid

Das Bundesamt für Migration (BFM) lehnte das Gesuch am 24. Januar 2012 ab, ordnete die Rückschiebung nach Italien an und hielt fest, dass die schwierigen Lebensbedingungen in Italien kein Grund seien, die Rückschiebung nicht durchzuführen und dass es Italiens Verpflichtung sei, dieses Asylgesuch zu behandeln.

Daraufhin legte die Familie Tarakhel beim Bundesverwaltungsgericht (BVGer) Beschwerde ein und machte Verletzungen von Art. 3 , Art. 8 und Art. 13 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) geltend. In seinem von einem Einzelrichter gefällten Urteil ist das BVGer der Ansicht, dass das italienische System zur Aufnahme von Flüchtlingen zwar Mängel aufweise, dass dies aber nicht genüge, um anzunehmen, Italien erfülle seine internationalen Pflichten nicht und halte sich insbesondere nicht an das Non-Refoulement-Prinzip und das Folterverbot. Weiter war das Gericht der Ansicht, die Asylsuchenden hätten durch ihre Ausreise nach Österreich und die Weiterreise in die Schweiz den italienischen Behörden keine Gelegenheit gegeben, ihren Pflichten nachzukommen.

Beschwerde und Urteil des EGMR

Im Mai 2012 gelangten die Beschwerdeführer/innen an den EGMR. Sie verlangten, dass ihre Rückschiebung vorläufig ausgesetzt werde. Der Gerichtshof trat darauf ein, erklärte die Beschwerde als zulässig und gab den Fall an die Grosse Kammer weiter, da er der Ansicht war, die Angelegenheit werfe eine Grundsatzfrage auf.

Die Beschwerdeführer/innen stützten ihre Beschwerde auf zwei Punkte: Erstens legten sie dar, eine Rückführung nach Italien würde Art. 3 EMRK und Art. 8 EMRK (Verbot der Folter bzw. Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) verletzen, da die Gefahr bestehe, dass sie gar keine Unterkunft bekommen würden oder dass die Beherbergungsbedingungen unmenschlich oder erniedrigend seien und die Familie getrennt würde. Der Gerichtshof entschied, die Aufnahmebedingungen nur unter dem Gesichtspunkt von Art. 3 EMRK zu prüfen (Tarakhel gegen die Schweiz, 04.11.2014, Ziff. 55 ). Zweitens verwiesen die Beschwerdeführer/innen auf Art. 13 EMRK und Art. 3 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde bzw. Verbot der Folter) und machten geltend, ihre individuelle Lage – insbesondere als Familie – sei nicht mit der gebührenden Aufmerksamkeit geprüft worden und das Schweizer Ausweisungsverfahren sei zu formal und automatisch, wenn nicht gar willkürlich (Ziff. 56 und 123).

Die Grosse Kammer des EGMR war mit 14 gegen 3 Stimmen der Ansicht, die Schweiz verletze Art. 3 EMRK , wenn sie die Familie Tarakhel nach Italien zurückschicke, ohne vorgängig von den italienischen Behörden Garantien für eine kindgerechte Beherbergung und die Wahrung der Familieneinheit erhalten zu haben (Tarakhel gegen die Schweiz, 04.11.2014). Die übrigen Beschwerdepunkte wurden vom Gerichtshof abgewiesen.

Unmenschliche und erniedrigende Behandlung (Art. 3 EMRK)

Zunächst weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Schweiz nach der Souveränitätsklausel in Art. 3 Abs. 2 der Dublin-Verordnung berechtigt ist, den eingereichten Asylantrag selber zu prüfen und damit auf die Rückschiebung der afghanischen Familie zu verzichten, wenn sie der Ansicht ist, Italien erfülle seine internationalen Pflichten nicht. Es kann daher nicht behauptet werden, die Schweiz sei aufgrund einer internationalen Vereinbarung dazu verpflichtet, die Rückführung zu verlangen und anzuordnen. Ganz im Gegenteil, die Schweiz wird somit im Sinne von Art. 3 EMRK verantwortlich (Ziff. 88-91 ).

Generell hat ein Staat, der Asylsuchende ausweisen möchte, die Verantwortung zu übernehmen, wenn ernsthafte und erwiesene Gründe dafür vorliegen, dass die betreffende Person im Ausschaffungsland tatsächlich Gefahr läuft, der Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung ausgesetzt zu werden. Ist dies der Fall, so verbietet Art. 3 EMRK die Rückschiebung in diesen Staat (Ziff. 93 ). Damit eine solche Behandlung unter Art. 3 EMRK fällt, muss sie allerdings eine gewisse Mindestschwere aufweisen, die von der Dauer der Behandlung, den Auswirkungen auf die Psyche des Opfers sowie vom Alter, vom Geschlecht und vom Gesundheitszustand des Opfers abhängt (Ziff. 94 ). In M.S.S. gegen Belgien und Griechenland, 21.01.2011 (Ziff. 251) hält der Gerichtshof fest, dass Asylsuchende aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer besonders benachteiligten und gefährdeten Bevölkerungsgruppe besonderen Schutz benötigten.

Der Gerichtshof prüfte daher die Lage in Italien, um zu ermitteln, ob das Asylverfahren und die Beherbergungsbedingungen «systematische Mängel» aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der Asylsuchenden implizieren. Wäre dies der Fall, würde die Annahme, dass die Dublin-Staaten die Grundrechte der EMRK respektieren, im vorliegenden Fall umgestossen (Ziff. 103-104 ).

Aufnahmebedingungen in Italien nicht mit denjenigen Griechenlands vergleichbar

Gestützt auf verschiedene Berichte von internationalen Organisationen oder NGOs und insbesondere auf denjenigen, der von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) ausgearbeitet wurde, stellte der EGMR fest, dass ein deutliches Ungleichgewicht zwischen der Anzahl der Asylsuchenden und Flüchtlinge (die auf über 60'000 geschätzt werden) und der Anzahl der zur Verfügung stehenden Unterbringungsplätze (8000-10'000) (Ziff. 62 und 110 ) besteht. Es ist also bekannt, dass die heutigen Aufnahmestrukturen Italiens die Beherbergungsnachfrage grösstenteils nicht befriedigen können.

Was die Aufnahmebedingungen in den bestehenden Strukturen betrifft, so erwähnen verschieden Berichte, dass einige Zentren Probleme mit Promiskuität, Gesundheitsgefährdung und Gewalt kennen (Ziff. 66 und 67 ). Das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) führt jedoch keine solchen Situationen an und stellt sogar fest, dass seitens der italienischen Behörden Anstrengungen unternommen worden sind. Der Gerichtshof ist daher der Ansicht, die heutige Lage Italiens sei keineswegs mit der Lage Griechenlands zum Zeitpunkt des M.S.S.-Urteils vergleichbar. Die Struktur und der allgemeine Zustand des Aufnahmesystems in Italien stelle an sich noch kein Hindernis für Rückschiebungen von Asylsuchenden in dieses Land dar, auch wenn Zweifel hinsichtlich der Kapazitäten des Systems nicht ausgeschlossen werden könnten (Ziff. 114 und 115 ).

Angesichts der gegenwärtigen Situation besteht allerdings eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass nach Italien zurückgeführte Asylsuchende keine oder nur eine überfüllte oder gesundheitsgefährdende Unterkunft finden. Um sicherzustellen, dass sich die Asylsuchenden nicht in einer Situation wiederfinden, in der sie unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt sind, müssen daher die Schweizer Behörden von Italien die Zusicherung erhalten, dass für eine kindgerechte Unterbringung gesorgt ist und dass die Einheit der Familie gewahrt wird (Ziff. 120 ). Fehlen detaillierte und glaubwürdige Informationen zur spezifischen Unterkunft, zu den materiellen Beherbergungsbedingungen und zur Wahrung der Familieneinheit, so geht der Gerichtshof davon aus, dass die Schweizer Behörden nicht sicher sein können, dass die Asylsuchenden bei einer Rückschiebung nach Italien eine dem Alter der Kinder angemessene Betreuung erhalten (Ziff. 121 ).

Aus diesen Gründen ist der Gerichtshof der Ansicht, dass die Schweiz gegen Art. 3 EMRK verstösst, wenn sie die afghanische Familie nach Italien zurückschickt, ohne vorher von Italien eine entsprechende und den spezifischen Einzelfall betreffende Zusicherung erhalten zu haben (Ziff. 122 ).

Individuelle Garantien

Mit diesem Urteil anerkennt der Gerichtshof, dass die Aufnahmebedingungen in Italien zumindest schwierig sind. Er meint aber, dass diese Schwierigkeiten noch nicht die kritische Schwelle der «systematischen Mängel» erreicht haben. Deshalb verlangen die Strassburger Richter in ihrem Urteil auch nicht die generelle Sistierung von Rückführungen nach Italien, nicht einmal von Rückführungen besonders Schutzbedürftiger wie z. B. Familien.

Vielmehr wird der Schutz der Familien durch ein zusätzliches Verfahrenserfordernis leicht verbessert: Bevor eine Familie nach Italien zurückgeschickt werden kann, muss das Land, das die Rückführung vornehmen will, erst «individuelle Garantien» erhalten.

Worin diese Garantien genau bestehen müssen, wird vom Gerichtshof nicht explizit erläutert. Er erwähnt lediglich (in Ziff. 121 ) «detaillierte und glaubwürdige Informationen» zur spezifischen Unterkunft, zu den materiellen Beherbergungsbedingungen und zur Wahrung der Familieneinheit. Aus diesen Erklärungen kann man schliessen, dass die Schweiz bei jeder Familie, die sie nach Italien zurückschieben möchte, genaue Informationen zu deren Unterbringung (Lage und Art der Unterkunft) sowie die Garantie erhalten muss, dass die Familienmitglieder nicht getrennt werden.

Es ist nicht uninteressant, wie sich Mario Gattiker, der Direktor des Bundesamtes für Migration, in einem am 6. November 2014 im «Bund » veröffentlichten Interview dazu äusserte. Zwar bestätigte er, dass die Schweiz im Hinblick auf die Umsetzung dieses Urteils bereits mit Italien in Kontakt stehe, gleichzeitig betont er aber, dass das Ziel «ein effizientes und pragmatisches Verfahren» sei. Diesbezüglich weist er insbesondere auf die Möglichkeit hin, dass Italien «nicht nur die Region nennt, in der die überstellten Asylbewerber untergebracht werden sollen, sondern auch die Unterkunft» und beispielsweise «eine überprüfbare Liste mit familientauglichen Unterkünften erstellen» könnte.

Selbst wenn sie überprüfbar ist, bleibt man mit einer solchen Liste aber bei einer allgemeinen Lösung, die keinerlei «individuellen Garantien» liefert, wie dies vom EGMR gefordert wurde. Wie kann man wissen, ob die Familie wirklich in der versprochenen Unterkunft untergebracht wird? Wie kann überprüft werden, ob diese wirklich während der ganzen Dauer des Asylverfahrens der betreffenden Familie zur Verfügung steht, wenn doch das Aufnahmesystem eindeutig überlastet ist?

Würde sich der Staat, der die Rückführung vornehmen will, tatsächlich die Mühe machen, bei jedem Fall individuelle und glaubwürdige Garantien einzuholen – und sich eben nicht mit einer einfachen Liste begnügen, was eigentlich einer Rückkehr zum generalisierten Verfahren entspricht – wäre dies für ihn mit einem hohen Arbeitsaufwand verbunden, möglicherweise sogar mit einem höheren, als wenn er die Souveränitätsklausel anwenden und sich selber als für die Prüfung des Asylbegehrens zuständig erklären würde. Laut Mario Gattiker würde das letztere Vorgehen jedoch «das Dublin-System unterlaufen». Dänemark scheint diesbezüglich allerdings anderer Meinung zu sein, denn es hat nach der Veröffentlichung des Urteils Tarakhel beschlossen, keine Familien mehr nach Italien zurückzuschieben.

Recht auf wirksame Beschwerde (Art. 13 EMRK)

Die Beschwerdeführer/innen machten geltend, das Rückführungsverfahren sei zu formal und automatisch, ja sogar willkürlich, und erlaube keine aufmerksame Prüfung ihrer familiären Situation. Dem folgte der Gerichtshof nicht, er war vielmehr der Ansicht, dass ungeachtet der raschen Abhandlung des Verfahrens durch das Bundesverwaltungsgericht (Dublin-Nichteintretensentscheid) der Forderung von Art. 13 EMRK nach einem Recht auf wirksame Beschwerde Genüge getan wurde. Dem Gerichtshof zufolge ist das Urteil des BVGer auch ausreichend begründet und auf die spezifische Situation der Beschwerdeführer/innen ausgerichtet. Demzufolge wurde dieser Beschwerdepunkt zurückgewiesen.

Wenn in diesem Fall die Schlussfolgerung des Gerichtshof nicht infrage gestellt werden kann, so wirft ein bestimmter Aspekt des Administrativverfahrens Fragen auf. Das Eidgenössische Asylgesetz sieht in Art. 111 nämlich vor, dass in gewissen Fällen ein Einzelrichter entscheiden kann, insbesondere auch – wie in diesem Fall – bei offensichtlich unbegründeten Beschwerden, sofern die Zustimmung eines zweiten Richters vorliegt (Bst. e). Bedenkt man nun, dass diese Angelegenheit am EGMR schliesslich von 17 Richterinnen und Richtern beurteilt wurde, kann man sich zu Recht fragen, ob nicht schon die simple Tatsache, dass eine einzelne Person entscheiden kann und der Fall nicht diskutiert wird (wenn gleich die Zustimmung einer Kollegin / eines Kollegen erforderlich ist), das Risiko einer Verurteilung birgt. Bedenkt man zudem, dass die Entscheide des BVGer in Asylfragen definitiv sind und nicht ans Bundesgericht weitergezogen werden können, so liegt hier vielleicht ein Mangel unseres Rechtssystems vor, der zur Folge haben könnte, dass immer mehr Urteile des BVGer vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte keinen Bestand haben. Dies wäre zweifelsohne Wasser auf die Mühlen derjenigen, die diese Institution infrage stellen wollen (vgl. dazu den Beitrag «Eine schwierige Beziehung: Die Schweiz und der EGMR» im SKMR-Newsletter vom 24. Nov. 2014).

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