Artikel

EGMR: Soziale Vaterschaft darf Vorrang vor biologischer Vaterschaft haben

Urteile in den Fällen Ahrens v. Germany (Beschwerde Nr. 45071/09) und Kautzor v. Germany (Beschwerde Nr. 23338/09), beide vom 22. März 2012

Abstract

Autorin: Iris Glockengiesser

Publiziert am 02.05.2012

Bedeutung für die Praxis:

  • Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stützt den Entscheid Deutschlands, die soziale Vaterschaft stärker als die biologische zu schützen.
    Der EGMR räumt den Staaten bei der Regelung der Anfechtungsbedingungen einer rechtlichen Vaterschaft einen weiten Ermessenspielraum ein.
  • Im Schweizer Recht wird die soziale Vaterschaft bei Heirat zwischen Kindesmutter und rechtlichem Vater gegenüber der biologischen Vaterschaft bevorzugt. Dies erscheint im Lichte der aktuellen EGMR-Praxis mit der EMRK vereinbar.

Fragestellung

In den Fällen Ahrens v. Germany (45071/09) und Kautzor v. Germany (23338/09) hatte der EGMR zu beurteilen, ob die EMRK es erlaubt, die Möglichkeit des (mutmasslich) biologischen Vaters, mit Anfechtungsklage gegen den rechtlich anerkannten Vater vorzugehen, einzuschränken.

In beiden Fällen waren die Kindesmütter zum Zeitpunkt der Geburt nicht mit den Klägern verheiratet, sondern lebten mit je einem anderen Partner zusammen, der die Vaterschaft anerkannt hatte und somit als rechtlicher Vater galt.

Deutsche Rechtslage

Nach deutschem Recht hat der (mutmasslich) biologische Vater nur so lange das Recht, die Anerkennung des rechtlichen Vaters anzufechten, als noch keine sozial-familiäre Beziehung zwischen dem Kind und dem rechtlichen Vater besteht (§1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB). Eine derartige Beziehung besteht laut Gesetz, wenn der rechtliche Vater zum massgeblichen Zeitpunkt für das Kind tatsächliche Verantwortung trägt oder getragen hat. Eine Übernahme tatsächlicher Verantwortung liegt in der Regel vor, wenn die Kindesmutter und der rechtliche Vater miteinander verheiratet sind, oder wenn dieser mit dem Kind längere Zeit in häuslicher Gemeinschaft zusammengelebt hat (§1600 Abs. 4 BGB). Damit sollen der bestehende Familienverband vor Eingriffen Dritter und damit vor allem das Kindeswohl geschützt werden. (Urteil Kautzor, §56 ; Ahrens §48 )

Das deutsche Recht führt somit eine Interessenabwägung zwischen dem Recht des (mutmasslich) biologischen Vaters auf Anerkennung seiner Vaterschaft und dem Recht des Kindes auf seine soziale Familie und Interessen der Rechtssicherheit durch. Dabei entscheidet es zuungunsten des (mutmasslich) biologischen Vaters (Urteil Kautzor, §57; Ahrens §49). Folgerichtig wurden die Klagen der (mutmasslich) biologischen Väter in beiden Fällen abgewiesen.

EGMR: Weiter Ermessensspielraum der Staaten

Beide Kläger gelangten in Folge an den EGMR und rügten eine Verletzung ihres Rechts auf Privat- und Familienleben gemäss Art. 8 EMRK und des Diskriminierungsverbotes gemäss Art. 14 in Verbindung mit Art. 8 EMRK.

Der EGMR anerkannte, dass es sich bei der deutschen Rechtslage um einen Eingriff in das Privatleben der Kläger gemäss Art. 8 EMRK handle (Urteil Kautzor §63; Ahrens, §60). Das Gericht verneinte jedoch einen Eingriff in das Recht auf Familienleben, da es nie eine enge persönliche Beziehung zum Kind gegeben habe (Urteil Kautzor, §62; Ahrens §59). Um die Frage zu klären, ob der Eingriff in das Recht auf Privatleben eine Verletzung von Konventionsrecht darstellt, führte der EGMR einen Rechtsvergleich in den Mitgliedstaaten durch. Dabei kam er zum Schluss, dass es in den Mitgliedstaaten zwar eine Tendenz dazu gäbe, die Anfechtung der Vaterschaft durch den (mutmasslich) biologischen Vater unter ähnlich strengen Voraussetzungen zuzulassen, wie dies das deutsche Recht vorsieht. Dennoch sei die Gesetzgebung derzeit noch sehr unterschiedlich und somit könne noch nicht von einem gefestigten Konsens unter den Staaten ausgegangen werden. Folglich hätten die Staaten in der Regelung dieser Frage einen weiten Ermessensspielraum (Urteil Ahrens §§27f., 70; Kautzor §§37ff., 72).

Die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers, dem bestehenden Familienverband den Vorrang vor den Rechten des (mutmasslich) biologischen Vaters zu geben, bewege sich innerhalb dieses Ermessensspielraums. Folglich läge weder eine Verletzung des Art. 8 EMRK noch eine von Art. 14 in Verbindung mit Art. 8 EMRK vor.

Unterschied zu früheren Urteilen des EGMR

In den Urteilen Schneider v. Germany (17080/07) und Anayo v. Germany (20578/07) hatte der EGMR in ähnlich gelagerten Fällen auf eine Verletzung von Art. 8 EMRK entschieden. Im Unterschied zu den Fällen Ahrens und Kautzor hatten die biologischen Väter in diesen Verfahren jedoch «nur» auf ein Umgangs- bzw. Besuchsrecht geklagt und nicht auf vollständige Anerkennung ihrer Vaterschaft bzw. Aberkennung der rechtlichen Vaterschaft.

Rechtslage in der Schweiz

In der Schweiz werden die Vaterschaftsanerkennung und deren Anfechtung im Zivilgesetzbuch (ZGB) geregelt. Bei verheirateten Paaren gilt die Vaterschaftsvermutung (Art. 255 ZGB). Ist die Kindesmutter jedoch mit dem Vater nicht verheiratet, so muss dieser die Vaterschaft anerkennen, damit ein rechtlich gültiges Verhältnis zwischen ihm und dem Kind entsteht (Art. 260 Abs. 1 ZGB). Dabei ist es nicht notwendig, dass die Vaterschaft mittels Test nachgewiesen wird; ebenso wenig ist eine Zustimmung der Kindesmutter zur Anerkennung erforderlich.

Möchte nun ein (mutmasslich) biologischer Vater die rechtliche Anerkennung anfechten, so müssen zwei Konstellationen unterschieden werden:

  • Haben die Kindesmutter und der rechtliche Vater seit der Anerkennung nicht geheiratet, so kann „jedermann, der ein Interesse hat“ die Anfechtungsklage innerhalb enger zeitlicher Fristen einreichen (Art. 260a Abs.1, Art. 260c ZGB).
  • Sind die Kindesmutter und der rechtliche Vater jedoch inzwischen verheiratet, so können nur mehr diese, das Kind oder die Heimat- oder Wohnsitzgemeinde des Ehemannes die Anerkennung anfechten (Art. 259 ZGB).

Daraus folgt, dass der (mutmasslich) biologische Vater nur im ersten Fall ein Klagerecht hat. Damit ist er gegenüber der Mutter, dem Kind und dem rechtlichen Vater schlechter gestellt (sowie auch gegenüber der Heimat- oder Wohnsitzgemeinde des Ehemannes).
Im Schweizer Recht wird folglich die soziale Vaterschaft bei Heirat zwischen Kindesmutter und rechtlichem Vater bevorzugt und somit ebenfalls das Anrecht des Kindes auf eine stabile Familienbande und die Rechtssicherheit hoch bewertet.

Fazit

Die eingeschränkte Möglichkeit eines (mutmasslich) biologischen Vaters auf Anfechtung der rechtlichen Vaterschaft zeigt, dass der sozialen Vaterschaft und damit bereits bestehenden Familienbanden grosser Wert beigemessen wird. Dies steht in einem Spannungsverhältnis zum Recht des (mutmasslich) biologischen Vaters auf Anerkennung seiner Vaterschaft – sowie den damit verbundenen Rechten und Pflichten –, und zum Recht eines Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung. Geht es nicht nur um die reine Kenntnis der biologischen Abstammung, sondern auch darum, mit Hilfe dieser Kenntnis das bestehende rechtliche Verhältnis zwischen Kind und rechtlichem Vater auflösen zu wollen, so steht der gesellschaftliche Wert der stabilen Familie auf dem Spiel.

^ Zurück zum Seitenanfang