Artikel

Die Allgemeine Bemerkung Nr. 14 des Kinderrechtsausschusses

Wichtige Auswirkungen auf die Schweiz

Abstract

Autor: Jean Zermatten

Publiziert am 18.09.2013

Bedeutung für die Praxis:

  • Im Februar 2013 hat der Kinderrechtsausschuss vier neue Allgemeine Bemerkungen (AB), darunter auch die AB Nr. 14 zum Kindeswohl, verabschiedet. Letztere wurde mit grossem Interesse erwartet, da sie eine Ergänzung zur AB Nr. 12 zum Recht des Kindes auf Anhörung (Art. 12 KRK), darstellt.
  • Das Ziel des vorliegenden Artikels besteht nicht darin, die AB zu beschreiben, es soll vielmehr die Position des Ausschusses bezüglich der Auslegung von Art. 3 Abs. 1 KRK beleuchtet werden.
  • Die Allgemeine Bemerkung ist unter anderem aufgrund der Anerkennung der direkten Anwendbarkeit von Art. 3 Abs. 1 für die Schweiz von Bedeutung. Dasselbe gilt für die Verpflichtung, die Folgen der politischen Massnahmen auf die Kinder laufend zu überprüfen.

Die Allgemeine Bemerkung Nr. 14 – eine lang erwartete AB

Die im Februar 2013 verabschiedete AB Nr. 14 des Kinderrechtsausschusses wurde von der Internationalen Gemeinschaft, den NGOs und allen anderen im Bereich der Kinderrechte tätigen Akteuren zweifellos seit langem erwartet. Die AB beschäftigt sich nämlich mit dem Kindeswohl, einem Konzept, zu dem sowohl viel Kritik als auch Lob geäussert wurde. Zudem wurde der Begriff seit der Verabschiedung der Konvention auf verschiedene Weise verwendet, um teilweise komplett widersprüchliche Positionen zu verteidigen.

Ein weiterer Grund dafür, dass die AB seit langem erwartet wurde, besteht darin, dass Art. 3 Abs. 1 KRK zu den Grundprinzipien der Kinderrechtskonvention (KRK) gehört. Zudem ist die AB sehr eng mit Art. 12 KRK (Das Recht des Kindes, in allen das Kind berührenden Angelegenheiten seine Meinung frei zu äussern) verknüpft, den der Ausschuss 2009 in der Allgemeinen Bemerkung Nr. 12, die mittlerweile allen Akteuren bekannt ist, behandelt hat.

Es gilt nun aufzuzeigen, was unter dem Kindeswohl zu verstehen ist und welches dessen Bestandteile und Komponenten sind. Zudem wird eine Anleitung erstellt, wie das Wohl des Kindes ermittelt werden kann. Allerdings kann hier nicht erläutert werden, worin in den jeweiligen individuellen oder kollektiven Situationen das Wohl des Kindes besteht, einzig eine Analyse der jeweiligen Einzelfälle ermöglicht, diese Gleichung mit vielen Unbekannten zu lösen.

Die Allgemeine Bemerkung Nr. 14: Der Mehrwert

Um den Mehrwert der AB grob zusammen zu fassen, muss erwähnt werden, dass sie das Kindeswohl von einem völlig anderen Standpunkt aus betrachtet als dies in früheren Texten, die von verschiedenen Experten/-innen zu diesem Thema verfasst wurden, der Fall war.

a) Das Kindeswohl als Rechtsanspruch

Der Ausschuss erachtet das Kindeswohl in erster Linie als Recht: Muss eine Entscheidung gefällt werden, die das Kind betrifft, hat dieses das Recht, dass seine Interessen im Hinblick auf das Kindeswohl ermittelt werden. Bei dieser Ermittlung handelt es sich nicht um eine blosse Pflichtübung. Vielmehr muss auf seriöse Weise abgeklärt werden, worin das Kindeswohl besteht, wenn nötig von einem interdisziplinären Team, das die Situation des Kindes genau untersucht, die verschiedenen Interessen abwägt und am Ende festlegt, worin das Kindeswohl besteht. Dies verdeutlicht, dass das Kind im Zentrum steht.

Diese Position unterscheidet sich vom bisherigen Verständnis des Kindeswohls (und auch der bisherigen Allgemeinen Bemerkungen des Ausschusses), da Art. 3 bisher als Ganzes (zusammen mit Abs. 2 und 3) und als allgemeines Konzept betrachtet wurde, sozusagen als Grundsatz der KRK, bzw. als eine Art magisches Schutzinstrument, oder gar als abstrakte Auslegungsregel der Konvention.

Betrachtet man Abs. 1 von Art. 3 der KRK hingegen isoliert und geht davon aus, dass das Kind ein Rechtssubjekt ist, wird klar, dass jedes Kind im Sinne dieses Absatzes über einen Rechtsanspruch verfügt: Den Anspruch, dass seine Situation ernsthaft überprüft wird, sobald es darum geht, einen Entscheid zu fällen, von dem es betroffen ist. Dies hat nicht nur vordergründig zu geschehen, es geht vielmehr darum, die bestmögliche Lösung für das Kind zu finden.

Der Ausschuss führt weiter aus, eine entsprechende Überprüfung sei bei jedem Entscheid durchzuführen. Das bedeutet, dass alle Entscheidungsorgane dieses Vorgehen berücksichtigen müssen. Dieser Punkt ist also als Verfahrensschritt vom Gesetzgeber in die jeweiligen Verfahrensvorschriften aufzunehmen.

Schliesslich führt der Ausschuss in Abs. 6 der Allgemeinen Bemerkung Nr. 14 (dreidimensionales Konzept) aus, dass bei jeder Debatte, Diskussion, Auslegung eines Gesetzesartikels, eines Konzepts und bei Auswirkungen eines Aktes in Verbindung mit der Konvention die Frage gestellt werden muss, worin das Wohl des jeweiligen Kindes (individuell) oder der jeweiligen Gruppe von Kindern (kollektiv) besteht. Ausser zur Feststellung des subjektiven Rechts, das jedem Kind zusteht, bzw. diesem dem Entscheidungsträger aufgezwungenen Verfahrensschritt, kann das Konzept des Kindeswohls bei der gesamten Auslegung der KRK herbeigezogen werden (siehe Abs. 4).

b) Überprüfung der Wirkung der politischen Prozesse

Ein weiterer Mehrwert der AB besteht darin, dass der Ausschuss bekräftigt, wie wichtig es für die politischen Entscheidungsträger ist, sich mit dem Kindeswohl zu befassen. Bei Gerichtsurteilen ist dies offensichtlich. Weniger klar, jedoch nicht weniger zwingend, ist es bei Entscheiden von Verwaltungsinstanzen; während es bei gesetzgebenden Organen oft nicht mehr als ein frommer Wunsch bleibt. Der Ausschuss erwähnt mit Nachdruck, dass die Staaten verpflichtet sind, für ihre Entscheide ein Ermittlungs- und ein Überprüfungsverfahren auszuarbeiten.

Dies wird in Abs. 31 der AB Nr. 14 besonders deutlich, wo der Ausschuss den Unterschied zwischen der individuellen Situation eines einzelnen Kindes und der Situation von Kindern als Kollektiv herausarbeitet. Er erinnert die Staaten in der Folge daran, dass sie sich die Frage des Wohls der Kinder als Gruppe stellen müssen, und zwar nicht nur bei der Verabschiedung oder Revision eines Gesetzes, sondern auch bei allen Massnahmen, die einen Einfluss auf das Budget, die Ausarbeitung von Projekten, die Umsetzung von Programmen usw. haben.

In Abs. 35 führt der Ausschuss das Konzept CRIA (Child Rights Impact Assessment) ein, das von den Regierungen verlangt, regelmässig zu überprüfen, wie sich ihre Politik auf Kinder auswirkt. Diese Thematik wird in Abs. 99 weiter ausgeführt und ist eine der Verfahrensgarantien, zu denen die Staaten verpflichtet sind, um die Berücksichtigung des Kindeswohls ermöglichen zu können.

c) Konkrete Elemente

Die AB Nr. 14 analysiert in einem ersten Teil das Konzept, welches dem Kindeswohl zu Grunde liegt, entfernt sich dann von dieser beschreibenden Rolle, um konkrete Hinweise zu formulieren, wie die Staaten (und somit die Experten) das Recht des Kindes im Sinne von Art. 3 Abs. 1 umzusetzen haben. Teil V der AB verlangt von den Staaten Folgendes:

  • Es ist zwischen der Ermittlung und Bestimmung des Kindeswohls zu unterscheiden. Zudem sind eine bestimmte Anzahl Komponenten festzulegen, die es bei der Ermittlung des Kindeswohls zu berücksichtigen gilt (Abs. 48 bis 79). Dazu gehören u.a.: die Meinung des Kindes, seine Identität, die Aufrechterhaltung des familiären Umfelds und der Beziehungen des Kindes, die besondere Verletzlichkeit des Kindes sowie sein Schutz und seine Sicherheit.
  • Die bei der Ermittlung des Kindeswohls berücksichtigten Komponenten sind abzuwägen (Abs. 80 bis 84). Denn sie sind nicht alle in jedem Einzelfall ein wichtiger Punkt für das Kind, auch können sie je nach Fall anders beurteilt werden. Und genau hier kommt die komplexe Beurteilung des Entscheidungsorgans ins Spiel.
  • Es sind minimale Verfahrensgarantien dafür bereitzustellen, damit das Recht des Kindes, sein Wohl als vorrangig zu berücksichtigenden Gesichtspunkt zu behandeln, umgesetzt wird. Dies sollte das Fällen von Entscheiden erleichtern (Abs. 85 bis 99). Zu den in der AB Nr. 14 aufgeführten Garantien gehören u.a.: Berücksichtigung des Rechts des Kindes auf Anhörung, objektives Zusammentragen der Fakten, Berücksichtigung der unterschiedlichen Zeitwahrnehmung der Kinder, Garantie einer Rechtsvertretung, Einsatz qualifizierter Experten, Begründung der gefällten Urteile.

d) Direkte Anwendbarkeit

Da Art. 3 Abs. 1 als subjektives Recht des Kindes betrachtet wird, führt dies zu ausdrücklichen Verpflichtungen für die Staaten. So hält der Kinderrechtsausschuss ohne Umschweife fest: „Absatz 1 von Artikel 3 stellt eine Verpflichtung für die Staaten dar, ist direkt anwendbar (self-executing) und kann vor Gericht geltend gemacht werden“ (Abs. 6 a) AB Nr. 14).

Die Allgemeine Bemerkung Nr. 14: Einige Auswirkungen auf die Schweiz

Die oben aufgeführten vier Punkte haben einige wichtige Auswirkungen auf unser Land.

a) Die Tatsache, dass das Kindeswohl als subjektives Recht jedes einzelnen Kindes betrachtet wird, stellt einen Paradigmenwechsel dar. Bisher wurde dieser Begriff nämlich vor allem als vages und undeutliches Konzept oder bestenfalls als Auslegungsprinzip betrachtet. Nun aber müssen die Behörden dieses Recht in allen Verfahren anerkennen, d.h. sie müssen es den Kindern ermöglichen, das Kindeswohl rechtlich geltend zu machen, sich durch eine Rechtsvertretung vertreten zu lassen und nicht zuletzt müssen die Behörden verlangen, dass Entscheide im Sinne von Art. 3 Abs. 1 begründet werden, damit gegen sie rekurriert werden kann.

Die Behörden sind zudem verpflichtet ein Verfahren zu entwickeln, in welchem das Kindeswohl evaluiert und dann festgestellt wird. Auch besteht ein spezifischer Bedarf an Weiterbildungen für die Experten/-innen und es müssen interdisziplinäre Teams aufgeboten werden, die in den heikelsten Fällen beigezogen werden können.

b) Der Aspekt der gesetzgebenden Organe hat auch Auswirkungen auf unser Land. Art. 3 Abs. 1 verpflichtet die Staaten, bei jedem Gesetzgebungsakt das Wohl von Kindergruppen der Schweiz, des Kantons Waadt oder von Sempach zu berücksichtigen. Im Moment sieht das Schweizer Gesetzgebungsverfahren (Parlamentsgesetz 2002) keine systematische Überprüfung der Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit dem Kindeswohl vor.

Der Hinweis auf das Child Rights Impact Assessment (CRIA) bedeutet, dass unsere Regierungen (auf Bundes-, Kantons-, und Gemeindeebene) bei jeder einzelnen Regierungshandlung (nicht nur bei Gesetzen) die positiven und negativen Auswirkungen der Entscheide auf die Kinder (und auf deren Entwicklung) eruieren müssen. Es besteht derzeit keine Übersicht über allfällige Initiativen in diesem Bereich.

c) Die in der AB aufgeführten Komponenten und Regeln zur Umsetzung des mit dem Kindeswohl einhergehenden Rechtsanspruchs sind eine wertvolle Quelle für sämtliche Personen oder Institutionen, die sich mit Kindern beschäftigen. Es muss somit eine Anpassung der bestehenden Verfahren vorgenommen, resp. müssen neue Verfahren ausgearbeitet werden, um die Situation von einzelnen Kindern oder ganzen Gruppen zu untersuchen und die Entscheidungsträger zu unterstützen. Es ist davon auszugehen, dass in Zivil- (Familienrecht, Kinderschutz) und Strafverfahren (JStPO) die Situation der Kinder bereits untersucht und die Interessen der Kinder abgewägt werden. Bei den administrativen Beschlüssen hingegen dürfte noch viel Aufholbedarf bestehen.

d) Die vom Ausschuss hervorgehobene direkte Anwendbarkeit stellt natürlich die bereits oft aufgeworfene Frage nach einer Bundesgerichtsrechtsprechung,
in welcher anerkannt wird, dass Art. 3 Abs. 1 (gleich wie Art. 12 KRK) genügend bestimmt ist, um in der Schweiz direkt angewendet werden zu können.

Schlussfolgerungen

Die Allgemeine Bemerkung Nr. 14 enthält Ausführungen zu einem grundlegenden Punkt: Jedes Kind hat das Recht, dass bei allen Entscheiden, die das Kind betreffen, abgeklärt wird, worin das Wohl des Kindes besteht und dass dieses mit anderen möglichen Interessen abgewogen wird. Dadurch werden die Staaten verpflichtet, Schutzmassnahmen zu ergreifen und sicherzustellen, dass dieses Recht eingehalten und angewandt wird. Die Schweiz muss sich die Frage stellen, welche Auswirkungen dieser Text auf Bundes-, Kantons-, und Gemeindeebene auf die Gesetzgebung und die Verfahren hat und entsprechend konkrete Massnahmen ergreifen.

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