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Deutliche Worte aus Lausanne zur Gleichstellung — aber Abweisung der Beschwerde

Die Kantone sind verpflichtet, wirksame Massnahmen zur Gleichstellung zu ergreifen. (BGer-Entscheid 1C_549/2010 vom 21. November 2011)

Abstract

Autorin: Judith Wyttenbach

Publiziert am 01.02.2012

Bedeutung für die Praxis:

  • Gegen eine Nichtverlängerung des Mandats einer kantonalen Gleichstellungskommission kann Beschwerde beim Bundesgericht geführt werden.
  • Die Bundesverfassung und das UNO-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau (CEDAW) verpflichten die Kantone dazu, wirksame Massnahmen zur Herstellung tatsächlicher Gleichstellung zu ergreifen.
  • Weder aus der Verfassung noch aus dem CEDAW-Übereinkommen ergibt sich eine Pflicht der Kantone zu ganz bestimmten Massnahmen wie der Schaffung einer Kommission oder einer Fachstelle. Falls sie eine Kommission abschaffen, sind sie aber verpflichtet, wirksame Ersatzmassnahmen anzuordnen.

Vorgeschichte: Das Ende der Zuger Gleichstellungskommission

Gleichstellungsinstitutionen haben im Kanton Zug einen schweren Stand. So überlebte das 1991 vom Zuger Kantonsrat eingeführte Büro für die Gleichstellung gerade einmal vier Jahre — es wurde 1995 wieder abgeschafft. Drei Jahre später entschied der Kantonsrat, eine auf vier Jahre befristete Kommission für die Gleichstellung von Frau und Mann einzuführen. Das Mandat dieser Kommission wurde zweimal, 2002 und 2006, um je vier Jahre verlängert. Am 2. Februar 2010 beantragte der Regierungsrat dem Kantonsrat, die Fachkommission mit einer angepassten Struktur unter dem neuen Namen „Kommission für Chancengleichheit von Frau und Mann“ für acht Jahre weiterzuführen. Am 28. Oktober 2010 lehnte der Kantonsrat die Vorlage mit einer Stimme Unterschied äusserst knapp ab. Damit endete das Mandat der alten Kommission am 31.12.2010; die von ihr geplanten Projekte wurden eingestellt, darunter auch der Aktionsplan für die Gleichstellungsarbeit in der Legislaturperiode 2011-2014. Mehrere Vereinigungen und Einzelpersonen erhoben daraufhin Beschwerde beim Bundesgericht. Sie beantragten, dass der Kanton Zug zu verpflichten sei, die Aufträge zur Verwirklichung der Gleichstellung von Frau und Mann umzusetzen.

Anwendbare rechtliche Grundlagen

Der Gleichstellungsartikel in Art. 8 Abs. 2 Satz 2 der Bundesverfassung verlangt, dass das Gesetz für die rechtliche und tatsächliche Gleichstellung von Frau und Mann sorgt, vor allem in Familie, Ausbildung und Arbeit. Gestützt auf §5 Abs. 2 KV Zug hat der Kanton die Verwirklichung der tatsächlichen Gleichstellung von Mann und Frau zu fördern. Mit Art. 2 lit. a des UNO-Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau (im Folgenden CEDAW-Übereinkommen) schliesslich verpflichten sich die Vertragsstaaten, mit „allen geeigneten Mitteln unverzüglich eine Politik zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau zu verfolgen“ und zu diesem Zweck „durch gesetzgeberische und sonstige Massnahmen für die tatsächliche Verwirklichung dieses Grundsatzes zu sorgen“.

Darf das Bundesgericht die Untätigkeit des kantonalen Gesetzgebers überprüfen?

Der Entscheid des Bundesgerichts vom 21.11.2011 beschäftigt sich zunächst mit anspruchsvollen Eintretensaspekten, also mit der Frage, ob das Bundesgericht überhaupt verpflichtet ist, die Beschwerde materiellrechtlich zu behandeln. Die Frage ist zentral, weil sich bei der Umsetzung von grund- oder menschenrechtlichen Gesetzgebungsaufträgen immer wieder das Problem stellen kann, ob und wie gegen nicht ausreichende Umsetzung oder gar Untätigkeit der gesetzgebenden Behörden der Kantone vorgegangen werden kann. Entscheidend ist für das Bundesgericht im vorliegenden Fall, dass sich die Beschwerdeführenden auf einen hinreichend bestimmten Auftrag in Verfassung und CEDAW-Übereinkommen berufen konnten und geltend machten, diese Untätigkeit verletze sie in ihren grund- und menschenrechtlichen Ansprüchen. Auch ihre Legitimation zur Erhebung der Beschwerde wird bejaht: „Zwar sind sie nicht mehr (und nicht weniger) berührt, als andere Bewohner des Kantons Zug. Ein besonderes Berührtsein kann jedoch nicht verlangt werden, sofern ein Erlass beantragt wird, d.h. eine generell-abstrakte bzw. organisatorische Regelung, die definitionsgemäss allen Gesetzesadressaten (…) zukommen wird (…)“ (E.2.6). Das Bundesgericht tritt folglich auf den Antrag der Beschwerdeführenden ein, wonach der Kanton Zug zu verpflichten sei, eine (neue) gesetzliche Grundlage für eine Kommission oder Fachstelle zu schaffen.

Wie steht es um die Gleichstellung im Kanton Zug?

In der Folge legt das Bundesgericht in bemerkenswerter Ausführlichkeit und unter Hinweis auf Daten des Bundesamtes für Statistik, den Gleichstellungsbericht des Kantons Zug, den Staatenbericht der Schweiz an den CEDAW-Ausschuss von 2008 und den Schattenbericht der Nichtregierungsorganisationen die unbefriedigende Gleichstellungssituation im Kanton Zug, namentlich in den Bereichen Familie, Bildung und Arbeit, dar (E.4). Es zeige sich, so die Schlussfolgerung, dass die tatsächliche Gleichstellung im Kanton Zug noch nicht erreicht und der Gleichstellungsauftrag, wie er in Verfassung und CEDAW-Übereinkommen enthalten sei, nicht als erfüllt gelten könne.

Welche Einrichtungen und Verfahren kommen in Frage?

Das Gericht erkennt in Art. 8 Abs. 3 Satz 2 BV einen Sozialgestaltungsauftrag: Mit gezielten Vorkehrungen sollen die Behörden von Gemeinden, Kantonen und dem Bund diskriminierende Strukturen und Stereotypisierungen abbauen (E.3.1), wobei die Verfassung keine konkreten Massnahmen und Instrumente vorgebe, sondern den Gemeinwesen einen erheblichen Ermessensspielraum belasse. Das Bundesgesetz über die Gleichstellung von Frau und Mann (Gleichstellungsgesetz) von 1995 setze zwar die Grundlagen für das Eidg. Gleichstellungsbüro, doch verpflichte es die Kantone nicht zu vergleichbaren Einrichtungen. Dennoch hätten die meisten Kantone die institutionellen und organisatorischen Vorkehrungen zur Förderung der Gleichstellung mit Gleichstellungsbüros, Kommissionen oder verwaltungsinternen Fachstellen getroffen. Auch wenn diese Institutionen zweckmässig und weit verbreitet seien, so könnten auch andere Massnahmen zielführend sein, etwa (verwaltungsintern) der Erlass von Richtlinien, die Einführung von Controlling, die Durchführung spezieller Vernehmlassungsverfahren, Kaderschulung oder die Anstellung von Fachpersonen in den Direktionen (E.5).

Auseinandersetzung mit den Vorgaben von CEDAW

Zur Konkretisierung der Pflichten staatlicher Behörden im Bereich der Gleichstellung zieht das Gericht anschliessend das CEDAW-Übereinkommen und die Dokumente des CEDAW-Ausschusses heran. Die Allgemeinen Empfehlungen des Ausschusses Nr. 6 („mécanismes nationaux et publicité efficaces“, 1988) und Nr. 28 („concernant les obligations fondamentales des Etats parties découlant de l’article 2 CEDAW“, 2011) halten die Vertragsstaaten dazu an, Mechanismen und Institutionen zu schaffen, die sich mit der Planung, der Koordination und der Überwachung von Gleichstellungsstrategien befassen und die Behörden beraten (E.6.3ff.). Aus den konkret auf die Schweiz bezogenen Empfehlungen zu den Staatenberichten gehe hervor, dass nicht nur der Bund, sondern auch die Kantone verpflichtet seien, die notwendigen Fachkenntnisse, Kompetenzen und Ressourcen zu schaffen. Hingegen lasse sich auch aus dem CEDAW-Übereinkommen keine verbindliche Vorgabe für eine ganz konkrete organisatorische Einrichtung ableiten, vielmehr sei den Vertragsstaaten die Wahl der geeigneten Mittel überlassen (E.6.6). Das Bundesgericht qualifiziert die Empfehlungen zwar als nicht unmittelbar verbindlich und verpflichtend, aber doch als wichtige rechtliche Erkenntnisquelle für die Auslegung der Konvention, stammten die Aussagen doch von einem Vertragsorgan, welches als Expertengremium mit besonderer Autorität ausgestattet sei.

Kritische Worte und deutliche Aufforderung an die Zuger Behörden, aber Abweisung der Beschwerde

Es sei im Kanton Zug künftig völlig unklar, so das Bundesgericht weiter, in welcher Form und von wem Gleichstellungsprojekte erarbeitet, unterstützt und finanziert werden sollten: „Dieser Zustand ist geeignet, die Umsetzung des verfassungsrechtlichen Auftrags zur Gleichstellung von Frau und Mann im Kanton Zug zu gefährden oder sogar zu vereiteln“ (E. 5.4). Im Ergebnis ist der Kanton Zug verfassungs- und völkerrechtlich zwar nicht verpflichtet, eine Gleichstellungskommission oder Fachstelle zu schaffen. Er kann den Gleichstellungsauftrag auch mit anderen Mitteln verfolgen. Notwendig ist aber, dass er eine Ersatzlösung für die abgeschaffene Kommission finden, d.h. klären muss, „von wem wie und mit welchen Mitteln der Gleichstellungsauftrag künftig umgesetzt werden soll. Ein Verzicht auf staatliche (bzw. staatlich geförderte) Massnahmen wäre verfassungswidrig“ (zit. E.5.5; E.7).

Nach Ansicht des Bundesgerichts ist für die Beurteilung des Beschwerdeantrags aber letztlich entscheidend, dass Art. 2 lit. a des CEDAW-Übereinkommens und Art. 8 Abs. 3 Satz 2 BV zwar einen klaren Handlungsauftrag an Bund und Kantone enthalten, die Behörden aber völker- wie verfassungsrechtlich nicht zu einer bestimmten Art von institutionellen Massnahme verpflichtet seien (E.4 und 6.6). Das Gericht weist die Beschwerde daher ab.

Bewertung

Das Bundesgericht verwendet das CEDAW-Übereinkommen zur Konkretisierung des bundesverfassungsrechtlichen Gleichstellungsartikels und setzt sich in dieser Form erstmalig ausführlich sowohl mit den Allgemeinen Empfehlungen wie mit den Abschliessenden Empfehlungen des CEDAW-Ausschusses an die Schweiz auseinander. Dass das Gericht diese Dokumente als wichtige Auslegungshilfen erachtet, ist zu begrüssen. Ingesamt dürfte der Entscheid eine Ermutigung für Rechtsuchende sein, sich auf das CEDAW-Übereinkommen zu berufen — und er wird hoffentlich auch dazu beitragen, dass sich kantonale Gerichte vermehrt mit Menschenrechtsabkommen auseinandersetzen.

Es ist nicht das erste Mal, dass das Bundesgericht im Bereich der Gleichstellung eine Rüge an die kantonalen (gesetzgebenden) Behörden richtet und gleichzeitig eine Beschwerde abweist. Allerdings hat es sich nun erstmals vertieft mit allgemeinen, politikübergreifenden organisatorisch-institutionellen Vorkehrungen beschäftigt, die auf kantonaler Ebene sicherstellen sollen, dass die Gleichstellungsaufträge von Bundesverfassung und CEDAW-Übereinkommen tatsächlich an die Hand genommen werden. Der „Appell“ an die kantonalen Behörden in der Entscheidbegründung macht deutlich, dass auch offen formulierte, so genannt programmatische Vorgaben in Verfassung und CEDAW-Übereinkommen, die dem Gesetzgeber und der Regierung einen Spielraum belassen, nicht als unverbindlich missverstanden und ignoriert werden dürfen. Diese Gewährleistungspflichten bedeuten vielmehr, dass innert nützlicher Frist wirksame gesetzgeberische oder verwaltungsinterne Massnahmen angeordnet werden müssen, um Defizite zu beheben. Dies gilt nicht nur für das CEDAW-Übereinkommen: Weitere Konventionen, etwa die von der Schweiz ebenfalls ratifizierte Kinderrechtskonvention, das Anti-Rassendiskriminierungsübereinkommen und die (noch) nicht ratifizierte Behindertenrechtskonvention enthalten ähnliche Aufträge, die sich nur mit einer angemessenen Strategie und den notwendigen institutionellen Vorkehrungen verwirklichen lassen.

Auch andere Kantone dürften sich durch diesen Entscheid angesprochen fühlen. Der Kanton Zug ist nicht der einzige Kanton mit einem Gleichstellungsdefizit, in welchem keine ausreichenden Fachinstitutionen oder andere angemessene Gleichstellungsinstrumente zu finden sind. Die wechselhafte Geschichte der Gleichstellungsinstitutionen im Kanton Zug ist vielmehr repräsentativ für die politische und rechtliche Abstützung mancher Gleichstellungseinrichtungen auch in einigen anderen Kantonen: nicht selten ist ihr Status prekär bzw. befristet. Unter diesen Voraussetzungen ist nachhaltige Gleichstellungspolitik natürlich nur beschränkt möglich. Falls die vom Bundesgericht geforderten Ersatzmassnahmen nicht innert angemessener Frist ergriffen werden, stellt sich natürlich die Frage, ob eine erneute Beschwerde gegen den Kanton Zug zu einer strengeren Beurteilung durch das Gericht und zu einem Feststellungsurteil führen könnte.

Weil die Schweiz inzwischen das Fakultativprotokoll zum CEDAW-Übereinkommen ratifiziert hat und die Beschwerde formell abgewiesen wurde, steht den Beschwerdeführenden grundsätzlich das Mitteilungsverfahren an den CEDAW-Ausschuss zur Verfügung.

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