Artikel

Auferlegung einer Busse als unzulässiges Zwangsmittel

Geltung der EMRK-Verfahrensgarantien in einem Nachsteuerverfahren

Abstract

Autorin: Evelyne Sturm

Publiziert am 27.06.2012

Bedeutung für die Praxis:

  • Das Verbot, sich selber belasten zu müssen, ist unter besonderen Umständen auch im Verwaltungsverfahren von Bedeutung.
  • Nicht kooperatives Verhalten ist kein zulässiger Grund zur Verweigerung der Akteneinsicht.

Die Verhängung einer Busse für die Verweigerung, Dokumente offen zu legen, kann – wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) jüngst in einem Urteil gegen die Schweiz feststellte – gegen das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, verstossen. Diese in Art. 6 Abs. 1 EMRK implizit enthaltene Garantie, die für zivil- und strafrechtliche Verfahren gilt, ist auch bei einem verwaltungsrechtlichen Verfahren zu beachten, wenn dieses in einem besonders engen Zusammenhang mit einem strafrechtlichen Verfahren steht.

Busse als unzulässiges Druckmittel

Gegenstand der Verurteilung gegen die Schweiz (Chambaz v. Schweiz, Beschwerde Nr. 11663/04) bildete ein von den kantonalen Steuerbehörden eingeleitetes Nachsteuerverfahren. In diesem Verfahren verweigerte der Beschwerdeführer die Offenlegung gewisser Dokumente, weshalb gegen ihn eine Busse verhängt wurde. Weil jedoch zugleich gegen den Beschwerdeführer auch ein strafrechtliches Verfahren wegen Steuerhinterziehung hängig war, sei mit der Auferlegung der Busse, so der EGMR, im verwaltungsrechtlichen Nachsteuerverfahren Druck ausgeübt worden, Informationen offen zu legen, die gegen den Beschwerdeführer auch im strafrechtlichen Hinterziehungsverfahren hätten verwendet werden können. Insofern erachtete der EGMR den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK als gegeben und das Recht zur Aussageverweigerung als verletzt an. In zwei Minderheitsvoten wurde allerdings der damit gewährte Schutz für ein verwaltungsrechtliches Steuerverfahren scharf kritisiert.

Neue EMRK-konforme Rechtslage

Bereits im Jahr 2001 kam der EGMR in einem anderen Urteil (J.B. v. Schweiz, Beschwerde Nr. 31827/96) zu einem ähnlichen Schluss. Als Folge dieses Urteils wurde 2008 die Rechtslage angepasst, womit das Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer nun die Möglichkeit vorsieht, die Mitwirkung zu verweigern (Art. 153 Abs. 1bis und Art. 183 Abs. 1bis DBG). Zu dieser geänderten Rechtslage äusserte sich der EGMR positiv, sie hatte allerdings für den Fall Chambaz noch keine Geltung.

Einschränkung des Akteneinsichtsrechts nur bei zwingenden Gründen

Im Fall Chambaz stellte der EGMR zudem eine Verletzung des Rechts auf Akteneinsicht fest und unterstrich, dass das Prinzip der Waffengleichheit (Art. 6 Abs. 1 EMRK) zur Einsicht in die Verfahrensakten berechtigt, ausser es stünden zwingende nationale Interessen oder Grundrechte Dritter entgegen. Indem die kantonale Behörde jedoch wegen des nicht kooperativen Verhaltens des Beschwerdeführers die Einsicht in gewisse Dokumente verweigert hatte und auch das Bundesgericht diesen Mangel nicht korrigierte, sondern sich darauf berief, die Dokumente seien unerheblich bzw. die Einsicht müsste im Hinterziehungsverfahren geltend gemacht werden, lag ein Verstoss gegen den Anspruch auf Akteneinsicht vor.

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