Bücher & Broschüren
Geschlechtergleichstellung im Migrationskontext
Bevormundung oder Emanzipation?
Abstract
Dieses Buch widmet sich der aktuellen schweizerischen Migrationspolitik aus dem Blickwinkel der Geschlechterfrage. Es setzt sich aus verschiedener Optik mit den oft stereotypen Annahmen über Migrantinnen und Migranten auseinander und geht der Frage nach, ob – und wenn ja wie – die aktuelle (Migrations-)Politik genderspezifische Gegebenheiten berücksichtigt. Ausgehend von dominanten Bildern von Migrantinnen und Migranten in der Schweiz und von statistischen Daten werden geschlechtsspezifische Dimensionen der Integrationsgesetzgebung sowie der konkreten Integrationsmassnahmen aufgezeigt und reflektiert. Weiter werden die neuen zivilrechtlichen Bestimmungen zum Umgang mit Zwangsverheiratung sowie die aktuellen strafrechtlichen Bemühungen zum Schutze von Migrantinnen vor sexueller Verstümmelung kritisch unter die Lupe genommen und kommentiert.
Bedeutung für die Praxis:
- Die Publikation regt an, die häufig immer noch stereotypen Vorstellungen über Migrantinnen zu überdenken. Zu diesem Zweck beschreibt sie anhand aktueller Statistiken die Entwicklung, das Ausmass und die Formen der heutigen weiblichen Migration.
- Die geschlechtsspezifischen Auswirkungen der konkreten Integrationsmassnahmen sowie der Integrationsgesetzgebung werden analysiert.
- Die neu eingeführten Bestimmungen gegen Zwangsheirat im Zivilrecht und der Strafgesetzbuch-Artikel gegen weibliche Genitalverstümmelung werden kritisch hinterfragt.
Die Bedeutung der weiblichen Migration wurde lange unterschätzt. Obwohl die Migrationsphänomene zunehmen und komplexer werden, bleiben die Frauen wenig beachtet in den Diskussionen über die Migration in der Schweiz. Studien zur Situation der Migrantinnen sind hierzulande immer noch selten. Ins Blickfeld geraten sie einzig als Opfer, die es zu emanzipieren gilt.
Stereotypen in Frage stellen
Das Werk, das in der Schriftenreihe des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte (SKMR) herausgegeben wurde, beinhaltet eine Zusammenstellung von Artikeln, die darauf abzielen, diese Sichtweise zu differenzieren, indem bestehende Stereotypen über Migrantinnen hinterfragt und die unterschiedlichen Facetten der Frauenfrage in der schweizerischen Migrationspolitik ausgeleuchtet werden. Es beinhaltet Beiträge von Migrations- und Genderexperten/innen, die einige wichtige Themen aufgreifen und damit die aktuellen Diskussionen in diesem Fachgebiet anregen. Es liefert eine Bestandsaufnahme darüber, wann und wie Geschlechterfragen in der Migrationspolitik berücksichtigt werden. Ebenso werden das Integrationsgesetz und die konkrete Integrationspolitik aus der Geschlechteroptik analysiert. Schliesslich liefert das Buch eine kritische Auseinandersetzung mit den neuen Gesetzesbestimmungen im Zivilgesetzbuch zur Verhinderung von Zwangsheiraten und zum eingeschlagenen Weg, weibliche Genitalverstümmelung mittels einer speziellen Bestimmung im Strafgesetzbuch zu bekämpfen.
Wie es bereits der Titel des Buches andeutet, besteht zwischen dem erklärten Willen der Behörden, des Gesetzgebers und der Politik, die Migrantinnen von ihrem «traditionellen Umfeld» zu emanzipieren und den damit unter Umständen verbundenen diskriminierenden Folgen für die Migrantinnen ein Spannungsfeld. Das Buch «Geschlechtergleichstellung in der Migration – Bevormundung oder Emanzipation» hat zum Ziel, wichtige Komponenten der Gleichstellung von Mann und Frau in der Migration hervorzuheben. Eine Gleichstellung, die sich gleichzeitig als unverzichtbar für eine gelungene Integration von Migrantinnen in der Schweiz erweist.
Geschlecht und Migration: Überblick
Der erste Teil des Buches legt die Grundlagen für die Diskussion der Geschlechterfragen im schweizerischen Migrationskontext. In einem einführenden Kapitel stecken die Herausgeber/innen Walter Kälin und Christina Hausammann den Rahmen ab für die (Geschlechter-) Gleichstellung im Migrationskontext aus dem Blickwinkel der Grundrechte. Sie beschreiben die Probleme, die sich in der aktuellen Migrationspolitik stellen und befassen sich mit der die Integrationsdiskussionen seit längerem beherrschenden Frage bezüglich dem bestehenden Spannungsfeld zwischen dem Recht auf Freiheit und Individualität jedes/r Einzelnen und dem Recht auf Gleichbehandlung und Chancengleichheit, die ja beide durch die Grundrechte garantiert sind. Die Autoren/innen zeigen dabei ein Dilemma auf, für dessen Lösung es keine standardisierte Lösung gibt, jedoch bieten sie Lösungsansätze.
Auch wenn seit einigen Jahren Geschlechterfragen oder sogar eine Feminisierung der Migration in öffentlichen und wissenschaftlichen Diskursen thematisiert werden, beruhen die Bilder von Migrantinnen noch immer häufig auf stereotypen Vorstellungen, die nicht die ganze Realität der Migration in der Schweiz wiedergeben. Im Kapitel «Geschlechterdimensionen der Migration in der Schweiz» beschreibt Brigitte Schnegg anhand von aktuellen Statistiken die Entwicklung, das Ausmass und die Charakteristika der weiblichen Migration heute. Sie stellt unter anderem die Ursachen für eine spezifisch weibliche Migration dar und erklärt, welchen Einfluss diese Ursachen, die sich häufig von denjenigen der Männer unterscheiden, auf das Aufenthaltsrecht der Frauen haben. Sie betont zudem, dass im Diskurs über weibliche Migration die qualifizierten Frauen, die einwandern um in der Schweiz in Kaderpositionen zu arbeiten, ignoriert werden. Das Kapitel von Brigitte Schnegg hinterfragt eine stereotype Darstellung von Migrantinnen und zeichnet ein differenziertes und vielschichtiges Porträt der weiblichen Migration in der Schweiz.
Dimensionen von Geschlecht und Integration
In einem zweiten Teil nimmt sich die Publikation der Frage der Integration aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive an und schlägt eine kritische Auseinandersetzung mit dem Integrationsgesetz vor. Im Beitrag «Geschlechterspezifische Dimensionen von Integrationsmassnahmen» zeigt Nicole Wichmann die Merkmale der Integrationsmassnahmen auf, die sich speziell an Migrantinnen richten und erklärt anhand der verfügbaren Daten zur Situation der Migrantinnen in der Schweiz die unterschiedlichen bestehenden Herangehensweisen. Sie stellt fest, dass gewisse Integrationsmassnahmen die traditionelle Rollenverteilung zwischen Frau und Mann verstärken. Die Autorin liefert zudem einige Erklärungen für die mangelnde Chancengleichheit in der Integrationspolitik.
Alberto Achermann analysiert im Kapitel «Geschlechterspezifische Dimensionen der Integrationsgesetzgebung» die Integrationsbestimmungen und -anforderungen (insbesondere im Rahmen des Familiennachzugs). Er zeigt auf, welche spezifischen Auswirkungen das Ausländergesetz je nach Geschlecht der Person hat und hebt hervor, dass viele Fragen zum Integrationsgesetz offen bleiben. Er stellt die Sachdienlichkeit gewisser Instrumente in Frage, wie zum Beispiel den Sprachtest, der insbesondere Migrantinnen aus Drittstaaten betrifft. Er erklärt, dass die Integrationsanforderungen Migrantinnen und Migranten auf unterschiedliche Art betreffen und dass sie von der Politik häufig mit dem Wunsch gerechtfertigt werden, die Frauen in ihrer Emanzipation zu unterstützen. Schliesslich stellt Alberto Achermann in Frage, ob die Integrationsanforderungen mit dem Recht auf Familienleben zu vereinbaren sind.
Neue Gesetzgebung
Eine kritische Analyse neuerer Gesetze, welche die Migrationsbevölkerung in der Schweiz betreffen, bildet den dritten Teil der Publikation. Der Beitrag von Thomas Geiser zum Verbot von Zwangsheirat und derjenige von Martino Mona zum neuen Artikel im Strafgesetz zur Ahndung weiblicher Genitalverstümmelung illustrieren, wie die Geschlechter- und Migrationsthematik in den neuen Gesetzen integriert wurde. Beide Autoren zeigen die teilweise widersprüchlichen Auswirkungen der neuen Rechtsnormen auf.
Im Kapitel zum Verbot der Zwangsheirat stellt Thomas Geiser die Reglementierung der Heirat im internationalen Privatrecht vor und erklärt, dass das Schweizerische Zivilrecht mehrere Instrumente zum Schutz vor Zwangsheirat enthält. Er kritisiert Art. 99 Abs. 1 Ziff. 3 Zivilgesetzbuch (Änderung vom 15. Juni 2012; in Kraft seit 1. Juli 2013) und stellt fest, dass die neue Bestimmung in Wirklichkeit Zwangsheirat nicht verhindert, sondern ihr sogar Vorschub leisten kann. Dabei weist er insbesondere darauf hin, dass die Überprüfungsmöglichkeiten während der Heiratsvorbereitungen durch die Gesetzesänderung geschwächt und dadurch den Zwangsheiraten Tür und Tor geöffnet wurden.
Martino Mona analysiert kritisch den neuen Art. 124 Strafgesetzbuch (StGB), der am 1. Juli 2012 in Kraft getreten ist und weibliche Genitalverstümmelung (FGM) explizit unter Strafe stellt. Auch dieser Beitrag macht auf die Konsequenzen der Gesetzesanpassung aufmerksam und zeigt auf, inwiefern die Absichten, die zur Ausarbeitung des Artikels im StGB geführt haben, widersprüchlich oder sogar diskriminierend sind. Er zeigt auf, wie politisch aufgeladen die dem Gesetz vorangegangenen Diskussionen waren, und konstatiert eine Spannung zwischen dem angestrebten Ziel und einer faktischen Diskriminierung der Migrantinnen durch den neuen Strafartikel. Er prangert eine uneinheitliche Gesetzgebung an, die lediglich auf Migrantinnen aus afrikanischen Ländern abzielt und die Frage von Genitaloperationen, wie sie in der Schweiz praktiziert werden, ausklammert.