Bilanzbericht

Polizei, Justiz und Menschenrechte – ein komplexes Verhältnis

Abstract

Wie steht es um die Umsetzung internationaler Menschenrechtsverpflichtungen in den Bereichen Polizei, Haft und Justiz? Das SKMR hat die Situation in der Schweiz während der vergangenen elf Jahre kritisch beobachtet und festgestellt, dass die Menschenrechte insbesondere im Freiheitsentzug und in der Polizeiarbeit oft zu kurz kommen. Welche Veränderungen konnten angestossen werden? Wo besteht nach wie vor Handlungsbedarf?

Publiziert am 22.10.2022

Menschenrechte für Polizei und Justiz konkretisieren

Zahlreiche Menschenrechtsverträge, wie die Europäische Menschenrechtskonvention, die beiden UNO-Pakte, die Antifolterkonvention und die Kinderrechtskonvention, beinhalten spezifische Garantien zum Schutz von Personen in Haft, während Justizverfahren oder bei der Ausübung staatlichen Zwangs.

Der Themenbereich Polizei und Justiz befasste sich seit Beginn seiner Existenz damit, diese oft abstrakt formulierten internationalen Menschenrechte sowie die offen gehaltenen Grundrechtsgarantien der Bundesverfassung in konkrete Vorgaben für den Alltag der kantonalen Polizei- und Justizbehörden zu übersetzen.

Defizite bei der Umsetzung

Die Schweiz hat die genannten Abkommen bereits vor mehreren Jahrzehnten ratifiziert. Trotzdem stellen internationale Organe regelmässig Defizite bei der Umsetzung fest, so bspw. im Kontext polizeilicher Gewaltanwendung, der Auslagerung von Sicherheitsaufgaben an private Sicherheitsunternehmen, der menschenrechtskonformen Ausgestaltung von Haftbedingungen, der Gewährleistung von Rechten in Justizverfahren sowie hinsichtlich der Möglichkeit für Individuen, sich direkt auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte berufen zu können (Justiziabilität). Es sind diese Punkte, auf welche der Themenbereich einen besonderen Fokus legte.

Menschenrechte im Freiheitsentzug

Der Themenbereich beschäftigte sich schwerpunktmässig mit den Menschenrechten von Personen in verschiedenen Formen des Freiheitsentzugs, insbesondere mit der Ausgestaltung von Haftbedingungen. Analysiert wurden – häufig in Zusammenarbeit mit der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) und oft mit Unterstützung verschiedener Haftinstitutionen – etwa die Einzelhaft in Hochsicherheitsabteilungen, die Haftbedingungen in der Untersuchungshaft und während des Verwahrungsvollzugs, der Rechtsschutz für Personen im Freiheitsentzug, die menschenrechtlichen Standards bei unfreiwilliger Unterbringung in Alters- und Pflegeheimen, die Umsetzung des Rechts auf Gesundheit im Freiheitsentzug, die Bedeutung der Nelson-Mandela-Regeln für die Schweiz sowie die Zulässigkeit von Privatisierungen im Justizvollzug. Weitere Studien widmeten sich freiheitsbeschränkenden Massnahmen im Migrationsbereich, etwa der Unterbringung von Asylsuchenden oder der Ausgestaltung der ausländerrechtlichen Administrativhaft.

Verschiedene Haftregimes zu wenig unterschiedlich ausgestaltet

Als zentrales Fazit ist festzuhalten: Den Unterschieden zwischen den verschiedenen Haftarten und damit dem fundamentalen Grundsatz, dass sich die Haftbedingungen am Haftzweck zu orientieren haben, wurde und wird in der Praxis zu wenig Rechnung getragen. So sind bspw. die Haftbedingungen in der Untersuchungshaft in vielen Kantonen immer noch restriktiver ausgestaltet als jene im ordentlichen Strafvollzug; dies obschon für Personen in Untersuchungshaft die Unschuldsvermutung gilt. Auch der Verwahrungsvollzug ist noch weitgehend identisch mit dem Strafvollzug ausgestaltet, obwohl Verwahrte ihre Strafe abgesessen haben und «nur noch» zum Schutz der Gesellschaft inhaftiert sind. Ebenso wurde, zumindest bis vor Kurzem, die Forderung nach spezialisierten Einrichtungen für den Vollzug der ausländerrechtlichen Administrativhaft in der kantonalen Praxis noch nicht konsequent umgesetzt.

Verschiedene vom SKMR angeregte Veränderungen wurden in der kantonalen Haftrealität aber zumindest partiell umgesetzt:

  • In mehreren Kantonen wird gegenwärtig das Regime der Untersuchungshaft den menschenrechtlichen Vorgaben entsprechend angepasst, indem insbesondere bei fehlender Kollusionsgefahr von Einzelhaft abgesehen und ein Gruppenvollzug eingeführt wird.
  • In der Justizvollzugsanstalt Solothurn wurde eine getrennt geführte Wohngruppe für den Verwahrungsvollzug eingeführt.
  • Mehrere Institutionen des geschlossenen Freiheitsentzugs haben Spezialabteilungen mit gelockerten Haftbedingungen eingerichtet, etwa für Langzeitinhaftierte oder ältere Gefangene, von welchen u.a. auch Verwahrte profitieren.
  • Das Strafvollzugskonkordat Nordwest- und Innerschweiz ist aktuell damit beschäftigt, seine Vorgaben zur Ausgestaltung des Verwahrungsvollzugs zu überarbeiten.

Förderung menschenrechtskonformer Polizeiarbeit

Ein weiterer Fokus des Themenbereichs galt der menschenrechtskonformen Ausgestaltung der Polizeiarbeit. Zahlreiche internationale Menschenrechtsorgane zeigen sich seit Jahren besorgt über Vorfälle übermässiger Gewaltanwendung und diskriminierenden Verhaltens seitens der Polizei sowie über das Fehlen eines unabhängigen und allgemein zugänglichen Beschwerdemechanismus.

Mit dem Ziel, Polizeimitarbeitende für die Menschenrechte zu sensibilisieren, führte der Themenbereich sieben Fachtagungen zum Polizeirecht durch. Diese befassten sich bspw. mit den menschenrechtlichen Vorgaben bei Demonstrationen, diskriminierenden Polizeikontrollen, dem Filmen während Polizeieinsätzen und dem Umgang mit Beschwerden gegen polizeiliche Gewaltanwendung. Zudem wurden verschiedene Studien erarbeitet, welche sich u.a. den Standards und Good Practices zur Vermeidung von Racial Profiling sowie den menschenrechtlichen Schranken bei Zwangsrückführungen ausländischer Staatsangehöriger widmeten.

Handlungsbedarf bleibt gross

Anders als im Bereich des Freiheitsentzugs lassen sich im Polizeibereich aber nur wenige Veränderungen beobachten. Zwar konnte das SKMR in Zusammenarbeit mit der NKVF einen Beitrag leisten, dass dem Prinzip der Verhältnismässigkeit bei Zwangsrückführungen ausländischer Staatsangehöriger stärker Rechnung getragen und auf routinemässige Ganzkörperfesselungen verzichtet wird. In allen anderen Bereichen sind die von aussen zu beobachtenden Veränderungen aber marginal.

Viele Empfehlungen des SKMR fanden in der polizeilichen Praxis kaum Beachtung und sind daher bis heute aktuell, wie etwa jene nach:

  • unabhängigen Untersuchungen in Fällen polizeilicher Gewaltanwendung,
  • mehr Diversität in der Zusammensetzung der Polizeibehörden,
  • einer offenen Fehlerkultur innerhalb der Polizeikorps,
  • einer umfassenden Kennzeichnungspflicht für Polizist*innen,
  • einer stärkeren Vermittlung systematischer Kenntnisse zu nichtdiskriminierendem Verhalten, interkultureller Kommunikation, Gewaltprävention und zum Umgang mit vulnerablen Personen im Rahmen der Polizeiaus- und weiterbildung.
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