Artikel

Suizidales Verhalten bei Jugendlichen

Förderung der sozialen Werte als mögliche Prävention?

Abstract

Autoren*innen: Philip Jaffé, Nicole Hitz Quenon

Publiziert am 14.03.2013

Bedeutung für die Praxis:

Der vorliegende Artikel behandelt die Problematik und die Folgen der Empfehlung 123.82 der UPR 2012, insbesondere:

  • das alarmierend ausgeprägte suizidale Verhalten bei Schweizer Jugendlichen;
  • die Notwendigkeit einer soliden sozialen Prävention durch den Staat und die Gesellschaft;
  • die Ausarbeitung und Umsetzung einer Politik der öffentlichen Hand zur Förderung der positiven Elternschaft.

Am 27. Februar 2013 hat der Bundesrat die bis dahin offene Empfehlung 123.82 akzeptiert.

Einleitung

Nach der Auswertung einer Studie über die Suizidalität bei Kindern zwischen 5 und 12 Jahren benutzte der renommierte Psychiater und Verhaltensforscher Boris Cyrulnik die Parabel des Kanarienvogels in der Kohlemine: Suizide von Kindern sind alarmierend und ein Indikator für soziale Störungen. Nicht weniger beunruhigend ist die Lage in der Schweiz, wo das suizidale Verhalten bei Jugendlichen deutlich über dem europäischen Durchschnitt liegt (WHO, suicide rates per 100,000 by country, year and sex). Obwohl die internationalen Menschenrechtsgremien kontinuierlich auf die Problematik hinweisen und trotz einer verstärkten Präsenz im Bewusstsein der Bevölkerung und der Politik kommt ein koordiniertes öffentliches Programm nur schwer in Gang, insbesondere was die Förderung der sozialen Werte betrifft, was bei den Jugendlichen eindeutig eine präventive Wirkung hätte. Dies ist auch im Sinne der Empfehlung 123.82 (Nicaragua) der UPR 2012, welche die Schweiz dazu auffordert, "[d]ie sozialen Werte bei Kindern und Jugendlichen weiterhin mit staatlichen Programmen [zu] fördern, die zu einer positiven Entwicklung beitragen und Tragödien wie Selbstmord und Drogenkonsum verhindern".

Ausmass und Umfang der Problematik

In der Schweiz ist Selbstmord eine der häufigsten Todesursachen bei Jugendlichen zwischen 15 und 19 Jahren. Da einige Suizidformen in der Statistik als Unfälle erfasst werden, sind die Zahlen nur beschränkt aussagekräftig. Man leugnet zwar den Ernst der Lage im Bereich der Suizide nicht, doch sogar bei Fachleuten ist eine gewisse tabuähnliche kognitive Distanzierung festzustellen. Zu den tödlichen Suizidfällen kommen noch die zahlreichen Selbstmordversuche hinzu. Ein objektives Element schliesslich sind die Umfragen zur öffentlichen Gesundheit, aus denen hervorgeht, dass viele Jugendliche mit Suizidgedanken spielen.

Zudem kommen im Bereich des Suizids von Kindern zwei neue, nicht zu vernachlässigende Dimensionen hinzu. Erstens können das Internet und die sozialen Netzwerke das suizidale Verhalten verstärken. Das Internet ist gerade für Kinder, die sich nicht wohl fühlen, attraktiv, birgt aber zugleich das Risiko, dass eine exzessive Nutzung depressive Symptome nach sich zieht oder diese verstärkt. Auch haben die sozialen Netzwerke einen Antriebseffekt für Jugendliche, die sich in Chaträumen aufhalten, in denen Suizid verherrlicht wird. Zweitens besteht ein Zusammenhang zwischen suizidalem Verhalten und starker Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen mit nicht traditioneller sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität, wie überzeugende wissenschaftliche Studien gezeigt haben.

Aufforderungen ohne grosse Folgen

Angesichts dieser Umstände würde man eine starke sozialpolitische und gesundheitliche Mobilisierung erwarten, um die hohe Anzahl persönlicher Dramen mit verheerenden Folgen für das Umfeld der Jugendlichen mit suizidalem Verhalten (tödliche oder erfolglose Versuche) einzudämmen. Die Reaktionen fallen jedoch bescheiden aus. So hält das Bundesamt für Gesundheit in seinem Bericht aus dem Jahr 2005 in Erfüllung des Postulates Widmer fest, dass "das Angebot an suizidpräventiven Massnahmen in der Schweiz gering ist und sich auf einige wenige regionale Zentren vor allem in der Westschweiz beschränkt" und dass "die Möglichkeiten des Bundes im Bereich der Suizidprävention aktiv zu werden sehr beschränkt [sind]".

Auch der UNO-Kinderrechtsausschuss hat sich zum Thema Suizidalität geäussert und betonte im Jahr 2002 seine Beunruhigung angesichts der beschränkten Massnahmen zur Bekämpfung dieser Problematik. Bei der Universellen Periodischen Überprüfung der Schweiz 2008 und 2012 wurde das Thema der hohen Suizidrate bei Jugendlichen aufgenommen, wobei die bereits erwähnte Empfehlung 123.82 (Nicaragua) 2012 diesbezüglich als Beispiel erwähnt werden kann.

Förderung der sozialen Werte

Der Ansatz einer Suizidprävention über die Förderung sozialer Werte, berücksichtigt ältere und aktuelle Methoden, um im sozialen Umfeld diejenigen Faktoren zu stärken, welche die Entwicklung der Kinder positiv beeinflussen. Die erste nationale Kampagne zur Prävention von Jugendsuizid (Pro Juventute 2011) etwa signalisierte den Jugendlichen, dass die Schweizer Gesellschaft im Sinne des von Alfred Adler beschriebenen Gemeinschaftsgefühls besorgt ist und ein offenes Ohr für die Probleme hat.

Mit der Stärkung der sozialen Werte sollen alle Prozesse, die zu einer gesunden psychologischen Entwicklung der Kinder beitragen, beispielsweise ein positives Bild von sich selbst oder ein positives Selbstwertgefühl, gefördert werden. Diese Ziele bilden die Grundlage für die Unterstützung des sozialen Netzwerks des Kindes, in erster Linie die Familie und die Eltern aber auch die Schule.

In diesem Zusammenhang enthält die Empfehlung Rec(2006)19 des Europarats für eine Politik zur Unterstützung positiver Elternschaft zahlreiche nützliche Elemente, die in die richtige Richtung zielen. Diese sollten die Politik der öffentlichen Hand dazu bewegen, die Rahmenbedingungen zu schaffen, damit bei den Eltern ein Verhalten gefördert wird, dass im Sinne des Kindswohls ist. Im Zentrum steht dabei eine gewaltfreie Beziehung, in der die Eltern das Kind mit seinen besonderen Bedürfnissen anerkennen, es in seiner Entwicklung unterstützen, indem sie für ein kindgerechtes Umfeld sorgen und es gleichzeitig ermächtigen, Verantwortung zu übernehmen.

Um die Familien unterstützen zu können, muss deren Zugang zu angemessenen und vielfältigen Ressourcen sichergestellt sein (materielle, psychologische, soziale und kulturelle). Auch müssen die Bedürfnisse der Kinder und der Eltern in den verschiedenen Lebensbereichen berücksichtigt werden. Dazu muss der Zusammenhalt zwischen den Familienmitgliedern gestärkt werden und die Kinder müssen in einem harmonischen Umfeld ohne Misshandlung aufwachsen können.

In Fachkreisen besteht ein Konsens, dass entsprechende Programme, die auf der Förderung der sozialen Werte aufbauen, wenn sie von allen Exponenten – vom Staat wie auch von den Verbänden – proaktiv unterstützt werden, zu einem deutlichen Rückgang der Suizidfälle unter den Schweizer Jugendlichen führen würden.

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