Artikel

Stärkung der Menschenrechte von LGBTIQ*-Menschen in der Schweiz

Aktuelle Entwicklungen und Handlungsbedarf

Abstract

2022 bringt positive Änderungen für LGBTIQ*-Personen: Langjährige Formen der Diskriminierung werden durch die Einführung der "Ehe für alle" und der vereinfachten Anpassung des Namens- und Geschlechtseintrags beendet. Trotzdem besteht auch weiterhin erheblicher Handlungsbedarf, vor allem zum Schutz der körperlichen Integrität von intergeschlechtlichen Menschen und dem Recht auf Selbstbestimmung und Anerkennung von intergeschlechtlichen und nicht-binären Menschen.

Autorin: Luisa Jakob

Publiziert am 08.12.2021

Einführung der "Ehe für alle"

Mit der Zustimmung für eine "Ehe für alle", die am 1. Juli 2022 in Kraft tritt, wird eine bis anhin bestehende Diskriminierung von (amtlich) gleichgeschlechtlichen Paaren über weite Teile beseitigt. Neu gibt es für alle Personen, unabhängig ihres amtlichen Geschlechtseintrags, die Möglichkeit zur Heirat. Paare, die in einer eingetragenen Partner*innenschaft leben, können diese ab 2022 in eine Ehe umwandeln lassen; neue eingetragene Partner*innenschaften können nicht mehr begründet werden.

Mit der Einführung der geschlechtsunabhängigen Ehe wird damit der Forderung der Gleichbehandlung nicht-heterosexueller Beziehungen in vielerlei Hinsichten Folge geleistet. Allerdings bestehen weiterhin Ungleichbehandlungen. Z.B. können Frauenpaare nur Schweizer Samenbanken in Anspruch nehmen, wenn beide Frauen ab Geburt automatisch als Mütter anerkannt werden sollen. Bei heterosexuellen Ehen hingegen wird der Mann immer automatisch als Vater eingetragen, auch wenn z.B. eine ausländische Samenbank in Anspruch genommen wurde.

Unbürokratische Änderung des Geschlechts- und Namenseintrags

Bereits ab dem 1. Januar 2022 ist es für trans und intergeschlechtliche Personen möglich, den Geschlechts- und Vornamenseintrag beim Zivilstandsamt einfach und unbürokratisch zu ändern. Damit werden die Forderungen vom SKMR und von trans und anderen Menschenrechtsorganisationen nach einem schnellen, transparenten und zugänglichen Verfahren, das allein auf Selbstbestimmung basiert, im Grundsatz umgesetzt.

Allerdings steht das neue Verfahren nicht allen Menschen offen: So bedürfen bspw. Jugendliche unter 16 Jahren und Personen unter umfassender Beiständ*innenschaft der Zustimmung ihrer gesetzlichen Vertretung. Der Ständerat hatte gegenteilige Forderungen des Transgender Network Switzerland (TGNS) und von InterAction Suisse verworfen.

Keine weiteren Optionen bei Geschlechtseinträgen

Trotz der anstehenden Gesetzesänderung wird es in der Schweiz auch weiterhin nicht möglich sein, einen Geschlechtseintrag zu haben, der nicht "weiblich" oder "männlich" lautet, oder den Geschlechtseintrag zu streichen oder leer zu lassen. Solche Möglichkeiten werden seit Längerem von verschiedenen internationalen Menschenrechtsorganen und von intergeschlechtlichen, nicht-binären und trans Organisationen gefordert – in mehreren Ländern weltweit sind sie bereits Realität.

Bei der konkreten Ausgestaltung zusätzlicher und/oder gestrichener Geschlechtseinträge gilt es unterschiedlichen Bedürfnissen Rechnung zu tragen. Die erlebte Diskriminierung und rechtlichen Forderungen von intergeschlechtlichen und nicht-binären Menschen überschneiden sich zwar, sind aber nicht identisch. Z.B. sind flexible Möglichkeiten zur (Nicht-)Eintragung von (einer Auswahl von) Geschlechtseinträgen in die Geburtsurkunde eine wichtige Antidiskriminierungs- und Schutzmassnahme für intergeschlechtliche Neugeborene.

Internationale Menschenrechtsorgane unterstützen die Forderungen

Bereits 2015 empfahl der Kommissar für Menschenrechte des Europarats, dass das Recht auf Selbstbestimmung von intergeschlechtlichen Personen durch eine erleichterte rechtliche Anerkennung respektiert werden soll (u.a. in Geburtsurkunde, Zivilstandesregistrierung und Pass). 2017 hielt das 31. Yogyakarta +10 Prinzip fest, dass für alle Menschen eine "multiplicity of gender marker options" möglich sein muss, solange Geschlecht (noch) staatlich erfasst wird.

Der UNO-Sonderberichterstatter zum Recht auf Privatsphäre bemerkte in seinem Bericht "Artificial intelligence and privacy, and children’s privacy" im Januar 2021, dass die Unmöglichkeit eines passenden Geschlechtseintrags für die "Würde, Identität, Privatsphäre und Entwicklung" von intergeschlechtlichen und trans Kindern problematisch sein kann.

Um Diskriminierung und der Verletzung der Menschenwürde entgegenzuwirken, empfiehlt die Schweizerische Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK) – als ersten Schritt – die Einführung eines dritten Geschlechtseintrags. Dabei sind verschiedene Ausgestaltungsmöglichkeiten denkbar, die in der Stellungnahme Nr. 36/2020 der NEK detailliert ausgeführt sind. Jede der vorgestellten Optionen stelle eine Verbesserung gegenüber dem Status quo dar. Parallel zu diesem ersten Schritt, so die NEK, soll aber auch die "allgemeine Abschaffung des Geschlechtseintrags" geprüft werden.

Abwarten auf das Urteil des Bundesgerichts

Bewegung in die Thematik des Geschlechtseintrags könnte auch ein Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau bringen. Dieses hat am 29. März 2021 eine Beschwerde über eine zunächst verweigerte Anerkennung eines im Ausland gestrichenen Geschlechtseintrags gutgeheissen. Konkret ging es in dem Fall um eine nicht-binäre Person Schweizer Nationalität, die in Deutschland ihren Geschlechtseintrag entsprechend geändert hatte.

Das Gericht stellt fest, dass "bei der strikt binären Geschlechtsordnung nicht (mehr) von einem fundamentalen Rechtsgrundsatz die Rede sein kann". Ein leerer Eintrag sei damit "keine offensichtliche Verletzung der Ordre public i. S. V. Art. 27 Abs. 1 IPRG" und daher zu bewilligen. Gegen dieses Urteil hat die Bundesverwaltung Beschwerde eingelegt. Der Fall ist zurzeit beim Bundesgericht hängig.

Auf politischer Ebene bestehen parallel dazu ebenfalls Vorstösse zur Einführung weiterer Geschlechtseinträge. So fordert bspw. das Postulat Ruiz 17.4185, zu prüfen was notwendig wäre für die Einführung eines dritten Geschlechtseintrags, den vollständigen Verzicht auf die Angabe des Geschlechts oder einen vorübergehenden Aufschub des Eintrags bei intergeschlechtlichen Kindern im elektronischen Personenstandsregister. Das Postulat Arslan 17.4121 will die Folgen der Einführung eines dritten Geschlechtseintrags im Personenstandsregister oder eines generellen Verzichts auf einen Geschlechtseintrag abklären lassen. Beide Vorstösse wurden vom Bundesrat zur Annahme empfohlen und 2018 im Nationalrat angenommen. Die Beantwortungen liegen noch nicht vor.

Trotz internationaler Kritik: weiterhin ungenügender Schutz von intergeschlechtlichen Kindern

Akuter Handlungsbedarf besteht in der Schweiz noch immer beim Schutz der körperlichen Integrität von intergeschlechtlichen Personen, d.h. Menschen mit Variationen der Geschlechtsmerkmale. Verschiedenste Menschenrechtsorgane, darunter auch der UNO-Antifolterausschuss, haben die Schweiz wiederholt gerügt, zu wenig gegen medizinisch unnötige Behandlungen bei intergeschlechtlichen Kindern zu unternehmen, obschon diese gegen das Verbot unmenschlicher Behandlung verstossen.

An einer Fachtagung zur Intergeschlechtlichkeit im Jahr 2019 hatten InterAction Suisse und das SKMR bestehende menschenrechtsverletzende Praktiken ebenfalls scharf kritisiert. 2020 hat die NEK in ihrer Stellungnahme Nr. 36/2020 darauf hingewiesen, dass "medizinisch nicht indizierte geschlechtsangleichende Operationen an urteilsunfähigen intergeschlechtlichen Kindern zu untersagen sind". So besteht zwar der Straftatbestand gegen die Verstümmelung weiblicher Genitalien (Art. 124 StGB). Dieser erfasst allerdings nicht alle geschlechtsverändernden Eingriffe an intergeschlechtlichen Kindern und die Anwendung auf intergeschlechtliche Mädchen ist ausserdem umstritten.

Aktuell fordert die Interpellation Brenzikofer 21.3568 den Bundesrat dazu auf, zum Recht von intergeschlechtlichen Kindern auf ihre körperliche Unversehrtheit Stellung zu beziehen. Der Vorstoss wurde vom Bundesrat im September 2021 schriftlich beantwortet. Die Behandlung im Nationalrat steht noch bevor.

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