Artikel

Integrationsanliegen sollen im obligatorischen Schulunterricht überwiegen

Das Bundesgericht äussert sich erneut zu religiös motivierten Gesuchen für Schuldispense

Abstract

Autorin: Irene Grohsmann

Publiziert am 13.06.2013

Bedeutung für die Praxis:

  • Geringfügige Eingriffe in die Religionsfreiheit müssen zugunsten der sozialen Integration im Rahmen des obligatorischen Unterrichts hingenommen werden.
  • Insbesondere, wenn flankierende Massnahmen den religiös begründeten Anliegen der Eltern Rechnung tragen, muss kein Dispens vom obligatorischen Sportunterricht gewährt werden.

Hintergrund

Kontroversen zwischen einer eher säkular geprägten Schweizer Öffentlichkeit und stark religiös orientierten Gruppen entzünden sich regelmässig an Geschlechterfragen und an Vorstellungen über die angemessene Rolle der Frauen und Mädchen in der Gesellschaft. Dabei ist es immer wieder der obligatorische Schwimmunterricht für Mädchen, der zu Auseinandersetzungen führt. Das Bundesgericht hat sich schon verschiedentlich zu diesem Thema geäussert und tat dies auch jüngst wieder. Dabei hat es der sozialen Integration der Kinder durch den Sportunterricht ein hohes Gewicht beigemessen, zumal wenn im konkreten Fall mit verschiedenen Massnahmen auf die religiös begründeten Bedenken der Eltern Rücksicht genommen worden ist.

Urteil 2C_1079/2012 vom 11. April 2013

Ein 14-jähriges muslimisches Mädchen sollte auf Wunsch der Eltern nicht am obligatorischen Schwimmunterricht teilnehmen. Der Schwimmunterricht wurde geschlechtergetrennt durchgeführt und das betroffene Mädchen durfte zum Baden einen sog. Burkini (Ganzkörperbadeanzug) tragen.

Dennoch störten sich die Eltern daran, dass der Unterricht durch eine männliche Lehrperson betreut und in einem von aussen einsehbaren Hallenbad abgehalten wurde. Dadurch könnten auch andere Männer das Mädchen beobachten. Da das Mädchen einen privaten Schwimmkurs für muslimische Mädchen besuche, sei der Besuch des obligatorischen Schwimmunterrichts zur Unfallprävention laut Einschätzung der Eltern nicht erforderlich.

Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die Schule des Mädchens den religiösen Anliegen der Eltern durch flankierende Massnahmen bereits weit entgegengekommen sei. Der Schwimmunterricht würde geschlechtergetrennt durchgeführt und es bestehen separate Umkleidekabinen. Durch das Tragen eines Ganzkörperbadeanzugs sei der Unterschied zum Unterricht im Klassenzimmer nicht mehr leicht ersichtlich und die Beobachtung durch fremde Männer könne z.B. auch auf dem Schulweg nicht verhindert werden. Da das Mädchen bereits privaten Schwimmunterricht besuche, sei auch ein allfälliger Körperkontakt mit dem Schwimmlehrer nicht nötig.

Das Bundesgericht bestätigte seine 2008 für Jungen und 2012 für Mädchen geänderte Rechtsprechung und betonte wiederum den grundsätzlichen Vorrang der schulischen Pflichten vor der Beachtung religiöser Gebote einzelner Bevölkerungsteile. Generelle Dispensationen von regelmässig stattfindenden obligatorischen Unterrichtsfächern müssen demnach nur noch beim Vorliegen besonderer Umstände gewährt werden. Die Pflicht zur Beachtung religiöser Gebote allein stellt keinen besonderen Umstand dar. Dies gelte sowohl für Jungen als auch für Mädchen. Bei der Teilnahme am Unterricht stehe der Aspekt der sozialen Integration der Kinder im Vordergrund (zum Urteil des Bundesgerichts 2C_666/2011 vom 7. März 2012 vgl. den Artikel „Keine Dispensation vom Schwimmunterricht aus religiösen Gründen“ im SKMR Newsletter Nr. 5 vom 2. Mai 2012,). Es solle bereits früh verhindert werden, dass Kinder aus religiösen Gründen in Aussenseiterrollen gedrängt werden. Der geringfügige Eingriff in die Religionsfreiheit der Eltern müsse hingenommen werden. Es ist darauf hinzuweisen, dass sich das Urteil nur auf generelle Dispensationen vom obligatorischen Unterricht bezieht. Dispensationen vom Unterricht an religiösen Feiertagen z.B. sind immer noch grosszügig zu gewähren.

Urteil 2C_897/2012 vom 14. Februar 2013

Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf den Entscheid des Bundesgerichts vom 14. Februar 2013 zum Fall eines Dispensationsgesuches christlicher Eltern. Die Eltern eines Jungen im Kindergartenalter verlangten, dass ihr Sohn nicht an einem durch Yoga-Elemente geprägten Unterricht teilnehmen muss. Die gläubigen Christen hielten Yoga für eine hinduistisch-religiöse Praxis und argumentierten, die zwingende Teilnahme ihres Sohnes verletze ihre Religionsfreiheit. Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass in die Religionsfreiheit der Eltern nur geringfügig eingegriffen werde. Bei den Yoga-Übungen handle es sich nicht um einen bekenntnishaften Akt im Rahmen eines religiösen Unterrichts, sondern um rein motorisch-akrobatische Übungen, die religionsneutral praktiziert werden können. Auch hier überwiege das Anliegen der sozialen Integration des Kindes.

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