Artikel

Integration ausländischer Personen: Zwischen Assimilation und Liberalismus

Entwicklung der eidgenössischen Politik und Analyse der kantonalen Praxis: der Fall Neuenburg.

Abstract

Autorin: Flora Di Donato
(Originalbeitrag in Italienisch, Übersetzung aus dem Französischen)

Publiziert am 11.05.2015

Bedeutung für die Praxis:

  • Der Blick auf die historische Entwicklung der Schweizer Politik in Sachen Aufnahme und Aufenthaltsregelung von ausländischen Personen im 20. Jahrhundert zeigt ein ständiges Hin und Her zwischen assimilierenden und liberalen Tendenzen.
  • Das Ergebnis dieser Politik ist eine vage Definition des Begriffs «Integration» in der Gesetzgebung, die sich zum einen an die Grundsätze der gegenseitigen Achtung und Toleranz zwischen einheimischer und ausländischer Wohnbevölkerung anlehnt und zum anderen sowohl von der Bereitschaft der Ausländer/innen sich zu integrieren, als auch von der Offenheit der schweizerischen gegenüber der ausländischen Bevölkerung ausgeht (vgl. Art. 4 AuG).
  • Dementsprechend kommen in den Kantonen mal «inklusive» und mal «exklusive» Integrationsmodelle zur Anwendung. Die Bandbreite bewegt sich zwischen einer Tendenz zu Restriktionen, wie sie bei Integrationsvereinbarungen vorkommen, bis zu einer liberalen Praxis, die Formen von multikulturellem Zusammenleben anstrebt.
  • Das Beispiel einer liberalen Politik wie derjenigen des Kantons Neuenburg, die sich an den Grundsätzen der gleichen Würde aller Menschen sowie der Bürgerbeteiligung orientiert, zeigt, dass die Integration – die alles andere als ein einseitiger Prozess ist, wie es das Bundesrecht zu suggerieren scheint (siehe Art. 4 Abs. 4 AuG) – das Ergebnis einer gegenseitigen Anpassung von einheimischer und ausländischer Bevölkerung sein kann.
  • Programme zur staatsbürgerlichen Bildung, welche die Menschenwürde achten, wie diejenigen, die im Kanton Neuenburg angeboten werden, genügen, um ein friedliches Zusammenleben zu gewährleisten, bei dem die Menschenrechte gewahrt werden.

Entwicklung der eidgenössischen Integrationspolitik

Zwischen Einbürgerung und Integration: 1920 bis 1980

Das Pendeln zwischen assimilierenden und liberalen Tendenzen bei der Aufnahme und Aufenthaltsregelung von ausländischen Personen brachte es mit sich, dass im Verlaufe der Zeit unterschiedliche gesetzgeberische Massnahmen zur Anwendung kamen: in den 1920er-Jahren solche, die eine Art «Zwangseinbürgerung» anstrebten, um der «Überfremdung» entgegenzuwirken; in den 1940er-Jahren die Einführung einer Niederlassungsbewilligung; in den 1950er-Jahren der Erlass eines Gesetzes über Erwerb und Verlust des Schweizer Bürgerrechts (das 1990 und 2014 revidiert wurde); ab den 1970er-Jahren schliesslich die Umsetzung von Integrationsmassnahmen, die zunächst auf die Integration der ausländischen Arbeiter/innen ausgerichtet waren, bis sie in den 1980er-Jahren Teil einer allgemeinen Integrationspolitik wurden.

Integration als Staatsaufgabe: die 1990er-Jahre

Erst seit den 1990er-Jahren sieht sich die Schweiz zunehmend mit den Herausforderungen der weltweiten Migrationsströme, der Personenfreizügigkeit, den neuen Flüchtlingsströmen aus den Ländern Osteuropas, dem Bedarf an ausländischen Arbeitskräften, dem demografischen Wandel und demzufolge mit der Notwendigkeit konfrontiert, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Einheimischen und ausländischen Personen herzustellen. Seit dieser Zeit dreht sich die Debatte nicht mehr um ein Assimilationskonzept, wie dies von 1920 bis 1970 der Fall gewesen war, sondern vielmehr – wenn auch immer noch etwas zögerlich – um ein Integrationskonzept. In seiner Botschaft zur Totalrevision des Asylgesetzes sowie zur Änderung des Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer vom 4. Dezember 1995 bestätigt der Bundesrat ausdrücklich, dass Integration eine staatliche Aufgabe ist. Die Integrationsförderung muss über die soziale und fürsorgerische Ebene hinausreichen und eine staatspolitische Dimension erhalten.

«Fördern und Fordern»: die Jahre 2000-2014

Mit der Verabschiedung des Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer vom 16. Dezember 2005, übernimmt es der Bundesrat, die «wichtigen Grundsätze» zur Förderung der Integration ausländischer Personen zu verankern. Im neuen Gesetzestext steht zwar tatsächlich die Integration als Grundprinzip im Fokus, da die Bedeutung dieses Begriffes dem Wandel der gesellschaftlichen Vorstellungen im Verlaufe unterworfen ist, wurde auf eine ausführliche Definition des Begriffs verzichtet. Liest man die Botschaft vom 8. März 2002 zum Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer, kann man schliessen, dass die Integration im Allgemeinen als beidseitiger und gegenseitiger Prozess verstanden wird, wobei davon ausgegangen wird, dass die ausländischen Personen bereit sind, sich in den gesellschaftlichen Kontext der Schweiz einzufügen, und dass die Gemeinschaft sie offen aufnimmt. Art. 4 AuG weist jedoch auch auf die Erfordernis hin, dass Ausländerinnen und Ausländer sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen und Lebensbedingungen in der Schweiz auseinandersetzen und insbesondere eine Landessprache erlernen müssen. Die Verordnung über die Integration von Ausländerinnen und Ausländern vom 24. Oktober 2007 besteht in Kapitel 2 ebenfalls auf «Beitrag und Pflichten der Ausländerinnen und Ausländer» und in Art. 4 auf den «Beitrag der Ausländerinnen und Ausländer zu ihrer Integration», um auf diese Weise die Zuhilfenahme von Integrationsvereinbarungen zu rechtfertigen.

Zwischen 2011 und 2013 waren sowohl das AuG als auch das Bundesgesetz über Erwerb und Verlust des Schweizer Bürgerrechts (Bürgerrechtsgesetz, BüG) – einschliesslich der dortigen Integrationskriterien – Gegenstand von Diskussionen und Revisionsplänen. Der Revisionsbedarf rührt daher, dass sowohl im Ausländer- als auch im Einbürgerungsrecht in Sachen Integration gleichlautende Schlüsselbegriffe verwendet werden. Gemäss dem Bundesrat ist dies mit «Verständnisschwierigkeiten und sogar Missverständnissen» verbunden, weshalb eine «Klarstellung der Begriffe» geboten ist. Der Entwurf zur Änderung des AuG (2003) sieht die Umsetzung von verschärften Massnahmen vor, mit dem Ziel, die «Potenziale der Wohnbevölkerung» zu nutzen und die «Eigenverantwortung der Ausländerinnen und Ausländer bei der Integration» einzufordern. Insofern verstärkt der Änderungsentwurf den verpflichtenden Charakter (und die Einseitigkeit) der Integration. Die Absicht, den Integrationsgrad auch bei der Erteilung von Niederlassungsbewilligungen zu berücksichtigen, bestätigt die Verschärfung der Migrationspolitik (BBl 2013 2397). Im Juni 2014 wurde der Totalrevision des Bürgergesetzes zugestimmt und schliesslich ein neues Gesetz verabschiedet, welches das Konzept der «erfolgreichen Integration» und eine breitere Definition der Integrationskriterien einführt.

Kantonale Politik und Integrationsvereinbarungen

Entsprechend der gemeinsamen Verantwortung bei der «sozialen, kulturellen und politischen Integration» (Art. 41 Abs. 1 Bst. g BV) und bezogen auf die Kompetenzaufteilung (Art. 121 BV) bemühen sich der Bund und die Kantone in Anwendung von Art. 53 AuG um die «Förderung der Integration» von Ausländerinnen und Ausländern. Die Praxis in den Kantonen stützt sich zwar auf die Bundesgesetzgebung, fällt aber aufgrund der verschiedenen lokalen Strategien und normativen Verankerungen, die sich die Kantone geben, von Kanton zu Kanton unterschiedlich aus.

Eine vom Schweizerischen Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien (SFM) 2011 veröffentlichte Studie (Gestaltungsspielräume im Föderalismus: Die Migrationspolitik in den Kantonen, S. 11-14) über die in Sachen Integration kantonal unterschiedliche Migrationspolitik hat aufgezeigt, dass die kantonale Praxis zwischen den inklusiven und exklusiven Tendenzen hin- und herpendelt. Von einem «hohen Inklusionsgrad» spricht man, wenn die Kantone die Anforderungen an die Zugewanderten tief ansetzen und viele Ausnahmen gewähren. Als exklusiv gilt hingegen eine kantonale Migrationspolitik, wenn sie hohe Integrationsanforderungen stellt und wenige Ausnahmen gewährt. Die Studie des SFM prüfte zudem die Praxis der verpflichtenden Integration, insbesondere hinsichtlich des Instruments der Integrationsvereinbarung, das mit der Integrationsverordnung (VIntA) vom 24. Oktober 2007 eingeführt wurde und in erster Linie Personen ohne Anspruch auf Aufenthalt in der Schweiz betrifft. Die Untersuchung zeigt, dass in zwölf Deutschschweizer Kantonen Integrationsvereinbarungen eingesetzt werden. Diese Vereinbarungen, die vor allem das Erlernen der am Wohnort gesprochenen Landessprache oder die Teilnahme an einem Integrationskurs betreffen, haben ein recht breites Anwendungsfeld. «Die verschiedenen Zielsetzungen werden entweder im Fordern-Setting, im Fördern-Setting oder im Fördern-und-Fordern-Setting umgesetzt. Im Fordern-Setting wird den Betroffenen klar gemacht, dass die Integrationsauflage erfüllt werden muss, wenn die Bewilligung verlängert werden soll. Im Fördern-Setting stehen die Beratung und die Begleitung der betroffenen Personen im Vordergrund. Im Fördern-und-Fordern-Setting wird zwar durch Informationen und Ratschläge Hilfe geleistet, doch ist die Beratung von «sanftem Druck» begleitet. Während das Fordern-Setting vor allem bei seit Langem anwesenden Personen mit Integrationsdefiziten zur Anwendung kommt, sind die anderen beiden Settings im Umgang mit den Neuzuziehenden und den Zuziehenden im Familiennachzug zu beobachten.» (SFM-Studie, S. 68)

Alternativen zu den Integrationsvereinbarungen: das Gesetz für Integration und multikulturellen Zusammenhalt des Kantons Neuenburg

Gemäss der SFM-Studie (S. 35) zeichnet sich Neuenburg durch die Anwendung einer liberalen Migrationspolitik und durch eine beachtliche Einbürgerungsquote aus. Neuenburg gehörte zu den ersten Kantonen, die ein Gesetz zur Integration der ausländischen Bevölkerung verabschiedeten, nämlich das Loi sur l’intégration et la cohésion multiculturelle (Gesetz für Integration und multikulturellen Zusammenhalt), das am 26. August 1996 verabschiedet und 2013 revidiert wurde. Mit diesem Gesetz soll durch die Entwicklung harmonischer Beziehungen und durch gegenseitiges Verständnis zwischen schweizerischer und ausländischer Bevölkerung der soziale Zusammenhalt, die gleiche Würde und das Wohlergehen aller im Kanton Neuenburg wohnhaften Personen erreicht werden. Artikel 1 definiert die Integration als einen Prozess der gegenseitigen Anpassung zwischen der schweizerischen und der ausländischen Bevölkerung mittels Teilhabe am wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Es handelt sich also klar weder um eine einseitige Anpassung der Ausländerinnen und Ausländer, wie dies in Art. 4 AuG anscheinend stillschweigend angenommen wird, noch um einen Prozess, der mittels Integrationsvereinbarungen umgesetzt wird. Integration setzt ganz im Gegenteil eine beiderseitige und gegenseitige Anpassung der ausländischen Personen und der Einheimischen voraus (siehe Service de la cohésion multiculturelle, COSM [Dienststelle für multikulturellen Zusammenhalt] des Kantons Neuenburg, Coexistence des populations et politique d’intégration des étrangers dans le canton de Neuchâtel [Zusammenleben der Bevölkerungsgruppen und Integration der Ausländerinnen und Ausländer im Kanton Neuenburg]).

Mit der Verabschiedung dieses Gesetzes im Jahr 1996 haben sich die lokalen Behörden zur liberalen Ausländerpolitik bekannt, die im Kanton Neuenburg schon seit jeher Tradition ist. Neuenburg ist der Schweizer Kanton, der den Ausländerinnen und Ausländern am meisten Bürgerrechte einräumt. Auf Gemeindeebene besitzen sie das Stimmrecht schon seit 1848, auf Kantonsebene seit dem Jahr 2000 und seit 2007 können sie auf Gemeindeebene sogar in die Legislative und die Exekutive gewählt werden. (Siehe S’engager pour la diversité: la charte de la citoyenneté de Neuchâtel)

Die Neuenburger Behörden achten bei der Umsetzung der «Mission» darauf, die Entwicklung der harmonischen Beziehungen zwischen ausländischen und schweizerischen Staatsangehörigen zu fördern und mithilfe der Ausländervereinigungen die Suche nach praktischen Lösungen auf dem Gebiet der Integration zu unterstützen. Diese liberale Integrationspolitik nutzt den Spielraum, den die Bundesgesetzgebung den Kantonen und Gemeinden lässt (siehe COSM, Coexistence des populations et politique d’intégration des étrangers dans le canton de Neuchâtel).

Instrumente für eine liberale Integrationspolitik: die Staatsbürgercharta und das Prinzip der «gleichen Würde aller Menschen»

Der liberale Charakter der von der Neuenburger Regierung verfolgten Politik stützt sich auf Art. 1 der kantonalen Verfassung vom 24. September 2000, in welchem der Kanton Neuenburg als «demokratisches, säkulares und soziales Staatswesen, das die Grundrechte gewährleistet», definiert ist. Wie in der Staatsbürgercharta vom März 2008 – die in mehreren Sprachen zur Verfügung steht und den Neuankömmlingen sowie den bereits im Kanton wohnhaften Personen hilft, die Grundsätze und Fundamente der Neuenburger Verfassung besser zu verstehen – erklärt wird, garantiert der «liberale» und «demokratische» Staat allen Einwohnerinnen und Einwohnern Freiheiten und Grundrechte sowie die Beteiligung am demokratischen Leben, an der Willensbildung und an der Machtausübung. Bei der Definition des Kantons Neuenburg als liberaler Staat rückt die Charta den Grundsatz der «Menschenwürde» in den Vordergrund: Der Staat gesteht jedem Menschen Unabhängigkeit und Freiheit zu, was bedeutet, dass es Aufgabe der Behörden ist, die Grundrechte zu schützen. Laut Charta ist die Menschenwürde zugleich das Fundament und das erste aller Rechte des Menschen. Dieser Begriff, der seit 1999 in der schweizerischen Bundesverfassung steht, erwies sich als ein für die Gewährleistung und den Schutz der Grundrechte wesentliches Prinzip (Art. 7 BV: «Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen»). Eine ähnliche Formulierung findet sich auch in der Neuenburger Verfassung (Art. 7 Abs. 1: «Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen.»).

Die Übereinstimmung zwischen Art. 7 der Bundesverfassung und Art. 7 der kantonalen Verfassung – sowohl hinsichtlich des Titels als auch hinsichtlich der Stellung im Text – ist bestimmt kein Zufall, da die Kantone den Bürger/innen ja nicht weniger Garantien zugestehen dürfen, als diesen vom Bundesrecht gewährt werden. Die Zuerkennung von Grundrechten und Freiheiten auf Kantonsebene entspricht zudem einer langjährigen Tradition, die mit der demokratischen Tradition der Schweiz selber und deren Verbundenheit mit den Freiheitsrechten übereinstimmt (siehe Jubiläumsausgabe des SKMR-Newsletter vom 24. November 2014, «Die schweizerische Demokratie und ihre Verbundenheit mit den Rechten Einzelner»).

Umsetzung: Bürgerbeteiligungsprogramme

Bei der Umsetzung des oben beschriebenen «liberalen» Integrationsprozesses entwickelte der Kanton Neuenburg Programme für die Staatskundeausbildung von Ausländerinnen und Ausländern und für das Zusammenleben von einheimischen und ausländischen Personen. Diese Programme werden vom COSM durchgeführt, um ausländischen Personen die lokalen Gewohnheiten und die in der Verfassung festgehaltenen Werte näherzubringen und beschränken sich nicht auf die Möglichkeit, Sprachkurse zu besuchen. Diese Staatskundeprogramme sind dank der Verbreitung der Staatsbürgercharta möglich. Die Charta richtet sich vor allem an Neuzuziehende (Schweizer/innen, Staatsangehörige der EU oder von Drittstaaten) sowie an die Verantwortlichen und Mitglieder der Ausländervereinigungen. Im Unterschied zu den in der Deutschschweiz bekannten Integrationsvereinbarungen, die eine Art Vertrag zwischen Behörden und Ausländer/in darstellt und der betreffenden Person bestimmte Pflichten auferlegt, wird die Charta zwar gegen eine unterzeichnete Empfangsbestätigung abgegeben, hat aber keine rechtliche Verbindlichkeit. Im Vordergrund steht das «Willkommen heissen» und die gegenseitige Achtung, wodurch die mit der Integration verbundenen Pflichten besser akzeptiert werden. Die Charta ist beim COSM in mehreren Sprachen erhältlich.

Der COSM wurde in den 1990er-Jahren als kantonale Dienststelle gegründet und befasst sich mit der Integration von Ausländerinnen und Ausländern sowie der Rassismusprävention. Seine Aufgabe besteht in der Umsetzung der kantonalen Gesetzgebung im Bereich der Ausländerintegration, in der Förderung der harmonischen Beziehungen zwischen schweizerischen und ausländischen Staatsangehörigen sowie in der Förderung der Integration der ausländischen Bevölkerungsgruppen im Kanton Neuenburg. Bei der Ausübung seiner Funktionen arbeitet der COSM mit den auf kantonaler Ebene aktiven Ausländervereinigungen zusammen. Tatsächlich schafft das kantonale Gesetz von 1996 ausdrücklich eine Grundlage für die Umsetzung von Projekten nicht nur des COSM, sondern auch der Communauté pour l’intégration et la cohésion multiculturelle (Gemeinschaft für Integration und multikulturellen Zusammenhalt), kurz CICM. Diese Gemeinschaft hat den Auftrag, die internationale Migration und die Beziehungen zwischen den schweizerischen und den ausländischen Bevölkerungsgruppen zu untersuchen und die Integration der ausländischen Bevölkerungsgruppen in die Neuenburger Gesellschaft zu fördern. Die konkrete Umsetzung der Projekte, Ideen und Aktionen der CICM ist Aufgabe des COSM. Die CICM hat verschiedene Unterkommissionen, u.a. die Kommission für Fragen der Frauenmigration und die Kontaktgruppe «Muslime/-innen», die sich der Untersuchung und Prävention von Diskriminierung und Rassismus widmet. Im Rahmen der Aktivitäten zur Integrationsförderung hat der COSM in sprachlicher Hinsicht einige sehr bedeutende Innovationen entwickelt. Dank spezifischen Dolmetscherprogrammen, die vom kantonalen Gesetz vorgesehen und vom COSM umgesetzt wurden (siehe Rapport d’activités 2013 du COSM et de la CICM) wird die Verständigung zwischen Einheimischen, ausländischen Personen und Institutionen vereinfacht.

Ausweitung des Grundsatzes der Menschenwürde: Staatsbürgerschaft als (universale) Zugehörigkeit

Die Staatsbürgercharta definiert die Erlangung der politischen Rechte (Stimm- und Wahlrecht und das Recht, sich aktiv am politischen Leben zu beteiligen) durch die Einbürgerung als abschliessender Schritt des Integrationsprozesses.

An diesem Punkt stellt sich die Frage, ob – angesichts des beschriebenen liberalen Integrationsmodells – das klassische Konzept der Nationalität, verstanden als identitäre und territoriale Zugehörigkeitsbande, noch sinnvoll ist oder ob es nicht vielmehr zugunsten eines globalen oder postnationalen Konzepts der Bürgerschaft, definiert aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, aufgegeben werden sollte.

Übrigens ordnete der Verfassungsrechtler Jean-François Aubert, Professor an der Universität Neuenburg, bereits in den 1960er-Jahren den Begriff der «Nation», verstanden als identitäres, ethnisches, kulturelles und politisches Band, dem Begriff «Bevölkerung» unter, den er seinerseits als nicht zufällige Begegnung zwischen Menschen definierte. Für ihn ist die «Bevölkerung» eine «notwenige Gemeinschaft von Menschen, die aufgrund eines ähnlichen Schicksals dauerhaft auf demselben Territorium leben» (nach Aubert, Le statut des étrangers en Suisse, in «Zeitschrift für schweizerisches Recht», I, 1958, S. 249-250, Übersetzung des SKMR). Aubert kritisierte die Willkür des Konzepts «Nation», das die Menschen in zwei verschiedene Gruppen teilt: die Bürgerinnen und Bürger einerseits und die Ausländerinnen und Ausländer andererseits. Ausgehend vom Konzept der Menschenwürde schlug der Verfassungsrechtler vor, auch der ausländischen Wohnbevölkerung ein minimale Anzahl individueller Freiheiten zu garantieren, zu denen beispielsweise die Gewissens- und Religionsfreiheit sowie das Recht auf freie Meinungsäusserung und auf Unverletzlichkeit der Wohnung gehören. Was seine Definition des Konzepts «Bevölkerung» betrifft, war Aubert der Ansicht, dass die Bürgerinnen und Bürger und die Ausländerinnen und Ausländer, die auf demselben Territorium wohnen und zusammen die beständige menschliche Substanz der Gesellschaft bilden, vom Staat zwangsläufig auch dieselben Rechte zuerkannt bekommen müssten. Diese Gleichheit könnte seines Erachtens auch als intrinsischer, in der Natur der Sache liegender Wert existieren, ohne dass sie in internationalen Abkommen definiert werden müsste. Basierend auf einer solchen Gleichheit wäre es nicht gerechtfertigt, bei den Grundrechten eine Unterscheidung zwischen der schweizerischen und ausländischen Wohnbevölkerung zu machen. Das Prinzip der «Nationalität» sollte hingegen den Weg für die Anerkennung anderer Rechte und den vollen Genuss der bürgerlichen und politischen Rechte, insbesondere des Stimmrechts, freimachen.

Basierend auf Auberts Lehre könnte man schliessen, dass die Erlangung der Staatsbürgerschaft durch Einbürgerung als der eigentliche abschliessende Schritt des Integrationsprozesses interpretiert werden könnte. Durch das Aufzeigen der Verbindung zwischen der Menschenwürde und den Grundrechten und durch seine Kritik am klassischen Nationenverständnis nahm Aubert die philosophischen und politischen Standpunkte der heutigen Debatte vorweg. Bei einer pluralistischen Auffassung des Rechts ist die Staatsbürgerschaft nicht mehr an die Territorialität des Staates, sondern vielmehr an eine universale und kosmopolitische Zugehörigkeit gebunden. So könnten Ausländerinnen und Ausländer, Staatenlose und Flüchtlinge als Angehörige der Menschheit und nach dem Grundsatz der «gleichen Würde aller Menschen» statt der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation eine universale und abstrakte Form der Zugehörigkeit geltend machen.

Gemäss Aubert wird die Gleichheit zwischen ausländischen Personen und Bürgerinnen und Bürgern «von der Natur der Sache gefordert: eine internationale Vereinbarung ist dafür nicht erforderlich» (Aubert, op. cit., S. 250, Übersetzung des SKMR). Folgt man seiner Lehre konsequent, so könnte man folgende Schlussfolgerung ziehen:

Programme zur staatsbürgerlichen Bildung, welche die Menschenwürde achten, wie diejenigen, die im Kanton Neuenburg angeboten werden, sollten genügen, um ein friedliches Zusammenleben zu gewährleisten, bei dem die Menschenrechte gewahrt werden. Dann wäre es nicht nötig, auf (Integrations-)Vereinbarungen zurückzugreifen, die als willkürlich und dem Grundsatz der Menschenwürde widersprechend wahrgenommen werden könnten. Die Wahrung dieses Grundsatzes sollte schliesslich das letztendliche Ziel eines Rechtssystems darstellen.

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