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Die schweizerische Demokratie und ihre Verbundenheit mit den Rechten Einzelner

Publiziert am 24.11.2014

Zusammenfassung:

Ein Blick auf die Geschichte der Schweiz und ihre Prägung durch Demokratie, Föderalismus, Rechtsstaat und Sozialstaatlichkeit bringt eine grosse Verbundenheit des Landes mit den Rechten Einzelner zum Vorschein, die tief in Tradition und nationaler Selbstwahrnehmung verankert ist. Dass auch zahlreiche ausländische und internationale Entwicklungen zur Stärkung und Weiterentwicklung der Menschenrechte in der Schweiz beigetragen haben, steht nicht im Widerspruch zu dieser engen Verbundenheit. Die schweizerischen, oft kantonalen und kommunalen Ursprünge der Grundrechte und die ausländischen Ideen und Konzepte, die hier Wurzeln geschlagen haben, entwickelten sich vielmehr zu einem leistungsfähigen System, das die Rechte und Freiheiten von Einzelnen und Gruppen verlässlich gewährleistet und Teil eines europäischen und internationalen Menschenrechtssystems bildet.

Frühe Verankerung in der Eidgenossenschaft

Wie alle anderen Staaten kann auch die Schweiz auf eine wechselvolle Geschichte der Menschenrechte zurückblicken. Auf dem Gebiet, das heute die schweizerische Eidgenossenschaft ausmacht, haben viele fundamentale Rechte der Individuen und der Gemeinschaft schon sehr früh eine zentrale Rolle gespielt, so etwa das Recht auf Selbst- und Mitbestimmung, das Bemühen um Schutz und faire Konfliktlösung und die Auflehnung gegen Unterdrückung jeder Art. Andere Ansprüche mussten in langen Auseinandersetzungen errungen und erweitert und für jene Personen zugänglich gemacht werden, die von den allgemeinen Rechten zunächst ausgeschlossen waren oder weitergehende Beschränkungen in Kauf nehmen mussten.

Sicherheit im Innern, Freiheit gegen aussen

Neben vielen anderen Traditionen bestimmten genossenschaftliche Gewohnheiten und Ideale der republikanischen Partizipation das Zusammenleben der Eidgenossen: Danach entstand Freiheit durch die Teilnahme des Einzelnen am Staatswesen und wurde durch diese gesichert. Das Öffentliche wurde gemeinsam verwaltet und ging dem Privaten im Konfliktfall vor. Erste Priorität der politischen Ordnung war nicht die Gleichheit aller, sondern die Sicherheit im Innern und die Freiheit von fremder Herrschaft und Einmischung von aussen. Diese Ziele riefen nach Loyalität und Solidarität im Innern.

Die vielfältige Schweiz, die ihre Identität weder auf Gemeinsamkeiten der Sprache, der Religion noch auf homogene geografische und sozioökonomische Bedingungen gründen konnte, war besonders darauf angewiesen, das Zusammenleben im Bereich der politischen Kultur zu harmonisieren und die Einheit, welche die Vielfalt ergänzen und einschränken sollte, auf die Zustimmung zum Staat zu gründen. Die wehrhafte Republik versprach allen Mitgliedern, sich an den staatlichen Entscheiden und der Gestaltung der Zukunft gleichberechtigt beteiligen zu können und ihnen faire Chancen zu eröffnen, sich im Staat zu entfalten; den Staat in seine Schranken zu weisen und den Einzelnen vor ihm zu schützen erschien nicht als vordringliche Aufgabe. Gleichzeitig war das Land als Willensnation versucht, seine zunächst fragile Einigkeit durch Abgrenzung nach aussen zu stärken.

Liberale Elemente im Bundesstaat

Mit der Gründung des Bundesstaats im Jahre 1848 erhielt die Schweiz eine liberale Verfassung und begründete eine repräsentative Demokratie, die Schweizer Männer (zumindest jene, die die Steuern bezahlt hatten und am Wahltermin verfügbar waren) zur Auswahl ihrer Vertreter in der neuen Bundesversammlung berechtigte.

Die erste Verfassung nahm aber nicht nur republikanische Elemente auf, sondern enthielt auch liberales Gedankengut, das in jenen Kreisen Fuss gefasst hatte, die sich im Sonderbundskrieg durchgesetzt hatten und den jungen Bundesstaat prägten. Staat und Gesellschaft wurden zunehmend ausdifferenziert, das Öffentliche vom Privaten abgegrenzt und dem Einzelnen nicht nur die Mitwirkung im Staat, sondern auch die Freiheit vom Staat versprochen. Schon zuvor war in den liberalen Kantonen der Schweiz klar geworden, dass das revolutionäre Gedankengut aus den USA und Frankreich, das von den Verfechtern der alten Ordnung zunächst abgelehnt worden war, nun doch, wenn auch selektiv und behutsam, übernommen werden sollte.

Die ersten Grundrechte…

Der junge Bundesstaat sicherte den Zusammenhalt dadurch, dass er bestimmte kantonale Normen und Verhaltensweisen verbot. Die Kantone sollten es fortan nicht nur unterlassen, die Errichtung des schweizerischen Binnenmarkts durch Zölle oder andere protektionistische Vorkehrungen zu verhindern, sondern im Interesse eines friedlichen und gerechten Zusammenlebens auch zur Achtung und zum Schutz gesamteidgenössischer Grundrechte verpflichtet werden.

Die Verfassung enthielt deshalb namentlich mit der Rechtsgleichheit, der Kultus- und der Niederlassungsfreiheit erste Grundrechte, die sowohl den Einzelnen vor ungerechter Behandlung durch den Staat und vor Eingriffen in Freiheiten schützten, als auch Bund und Kantonen, obwohl demokratisch legitimiert, mit der Pflicht zur Achtung der Rechte Einzelner Schranken setzten. Der Einzelne konnte danach im politischen Prozess zwar überstimmt oder von seinen Vertretern enttäuscht werden, aber nicht sein Recht verlieren, vor dem (unliebsamen) Gesetz gleich zu sein, seine (unerwünschte) Religion auszuüben oder seinen Wohnsitz von einem Gemeinwesen in ein anderes zu verschieben, das ihm günstiger gesonnen war.

…mit Einschränkungen

Der junge Bundesstaat vollzog diese Schritte allerdings nur zögerlich, liess Einschränkungen allgemeiner Rechte zu oder sah selber solche vor. Das Recht zur Beteiligung an Wahlen erschien mehr als Ausdruck der Zugehörigkeit zur politischen Gemeinschaft denn als ein Recht, das sich aus dem Anspruch auf Mitwirkung am Staat ergibt, dem man angehört und der eng mit der Autonomie und Würde des Einzelnen verbunden ist. Die Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen in den Kantonen und Gemeinden war jenen vorbehalten, die sich als verlässliche und ehrenhafte Mitglieder dieser Gemeinschaft bewiesen hatten; sie war Privileg, nicht Recht. Der Bund behielt die politischen Rechte den Männern vor und duldete zunächst kantonale Experimente mit dem Zensuswahlrecht. Auch die anderen Grundrechte, die der Bund sicherte, waren Schweizerinnen und Schweizern vorbehalten und galten nur für Angehörige der christlichen Religionen. Mit dem Jesuitenverbot enthielt die Bundesverfassung auch eine gegen den Katholizismus gerichtete religiöse Sondernorm.

Einführung der Volksinitiative

1874 erfolgte mit der Einführung des fakultativen Referendums, das ab 1921 auch auf langfristige Staatsverträge Anwendung fand, einerseits eine Stärkung der direkten Demokratie, anderseits wurde im Zuge des Kulturkampfes auch eine weitere gegen eine Minderheit gerichtete Sondernorm in die totalrevidierte Bundesverfassung aufgenommen. Der sogenannte Bistumsartikel machte die Errichtung katholischer Bistümer von einer Bewilligung des Bundes abhängig und sollte den religiösen Frieden in der Schweiz sichern, indem er den Papst und seine Anhänger in die Schranken wies.

Aufgrund des Drucks von Frankreich gelang 1866 eine Verbesserung der grundrechtlichen Situation der jüdischen Bevölkerung, die neu ebenfalls Rechtsgleichheit und Niederlassungsfreiheit geniessen konnte und nicht mehr zum Wohnsitz in den beiden Gemeinden Endingen und Lengnau genötigt war.

Die Stärkung der direkten Demokratie, die während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in vielen Kantonen einsetzte, führte 1891 zur Einführung der Volksinitiative auf Teilrevision der Bundesverfassung. Ausgerechnet die erste, trotz gegenteiliger Empfehlung von Bundesrat und Bundesversammlung erfolgreiche Initiative bescherte der Bundesverfassung mit dem Schächtverbot jedoch eine weitere, nun gegen die jüdische Minderheit gerichtete religiöse Sondernorm.

Fehlende Überprüfbarkeit von Bundesgesetzen

Für die kantonale Ebene fand sich bald ein Konsens, den sich in vielen Bereichen rasch entwickelnden Staat in die Schranken zu weisen und das Funktionieren der Demokratie in Kantonen und Gemeinden auch dadurch zu sichern, dass Verlierer einer Abstimmung zwar einem unerwünschten Gesetz Folge zu leisten hatten, dieses aber nicht willkürlich oder beliebig in ihre Rechte und Freiheiten eingreifen durfte.

Auf eidgenössischer Ebene erschien es nicht als erforderlich, den Grundrechtsschutz gleichermassen auszubauen und Gesetzen die Anwendung zu verweigern, die die Verfassung verletzten. Man hoffte, dass die Bundesversammlung mit der Zeit auf den Wunsch nach engerer Zusammenarbeit reagieren und harmonisierende Gesetze verabschieden würde, die allenfalls sogar über die minimalen Zuständigkeiten der Bundesverfassung hinausgehen würden.

Weil eine dynamische Entwicklung dieser Art durchaus erwünscht war und man glaubte, die Kantone durch einen starken Ständerat zureichend vor ungerechtfertigten Zentralisierungstendenzen zu schützen, hielt man es nicht für sinnvoll, eine Verfassungskontrolle der Bundesgesetze institutionell zu verankern. Sollte es National- und Ständeräten gemeinsam gelingen, in weiteren Bereichen als zunächst vorgesehen, gemeinsame Regeln zu schaffen und fanden diese die ausdrückliche oder stillschweigende Zustimmung des Volks, so sollte es den Gerichten verwehrt sein, den Harmonisierungsschritt aufgrund einer allfälligen Verfassungswidrigkeit zu verhindern. Eine Ablehnung der Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber Bundesgesetzen schien zur Dynamik des sich entwickelnden Bundesstaats zu passen.

Neue Ausgangslage nach dem Zweiten Weltkrieg

Tatsächlich veränderten sich der Staat und seine Funktionsweise im Verlaufe des 20. Jahrhunderts fundamental. Auf allen Ebenen übernahm dieser immer vielfältigere und anspruchsvollere Aufgaben, um den Einzelnen die freie Entfaltung zu ermöglichen, soziale Risiken abzusichern, den Zusammenhalt zu fördern und die Umwelt zu schützen. Die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und das Bewusstsein, dass auch demokratische Staaten nicht vor dem Absturz in die Barbarei gefeit waren und ein auf Verfassung und Gesetzen beruhender Staat dabei versagt hatte, den Ausschluss von Minderheiten aus dem Rechtssystem und deren Vernichtung zu verhindern, führten zu fundamentalen Neuerungen im nationalen und internationalen Recht. Es schien offensichtlich, dass ein dichteres und verlässlicheres System von Machtbeschränkungen und -kontrollen notwendig war, um ähnliche Entwicklungen künftig zu verhindern. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde auf nationaler und internationaler Ebene der Menschenrechtsschutz ausgebaut (vgl. dazu den Beitrag «Die EMRK - ein Katalysator der Freiheit in Europa» im SKMR-Newsletter vom 24. Nov. 2014).

Rechtsentwicklung in der Schweiz

Dies galt auch für die Schweiz, die von ausländischen und internationalen Tendenzen nicht nur beeinflusst war, sondern tatkräftig an ihnen mitwirkte. Gleichzeitig reagierte das Land auf neue inländische Herausforderungen, die die rasanten Veränderungen der Nachkriegszeit, der wirtschaftliche Aufschwung und der Kalte Krieg mit sich brachten.

Die Kantone anerkannten in ihrer Rechtspraxis immer mehr Grundrechte, die sie teilweise in kantonale Verfassungen niederschrieben oder als ungeschriebene Grundrechte anerkannten. Sie begründeten beispielsweise ein Recht auf Eigentumsgarantie, auf persönliche Freiheit, auf Meinungsäusserungs- und auf Sprachenfreiheit.

Diese Grundrechte wurden mit der Zeit auch auf Bundesebene anerkannt. Das Besondere an dieser Entwicklung war, dass ein fundamentaler Wandel des Verfassungsrechts im Wesentlichen ohne Revisionen der Bundesverfassung erfolgte und das Bundesgericht im Rahmen einer dynamischen Rechtsprechung auf die Zeichen der Zeit reagierte und jene Grundrechte als ungeschriebene Grundrechte der Bundesverfassung anerkannte, die in den meisten Kantonen bereits verankert und geschützt waren und als Bestandteil der schweizerischen Rechtsordnung gelten konnten.

Durch die Anerkennung als ungeschriebene Grundrechte der Bundesverfassung erlangten ursprünglich kantonale Grundrechte auch für die anderen Kantone Verbindlichkeit. Die Festigung der Menschenrechte in der Schweiz erfolgte somit in einem Wechselspiel zwischen Bund und Kantonen, das mit der Zeit zusätzlich von internationalen und europäischen Entwicklungen befruchtet und beeinflusst wurde.

Den Kantonen und dem Föderalismus kam dabei alles andere als die Rolle einer Bremse oder eines Hindernisses zu. Im Gegenteil, es waren jene Kantone, die am stärksten von neuen gesellschaftlichen Entwicklungen betroffen waren, die als erste den Grundrechtsschutz ausbauten und mit innovativen Änderungen einen Erfahrungsschatz für die Entwicklungen auf Bundesebene zur Verfügung stellten (vgl. dazu den Beitrag «Die EMRK und die Kantone» im SKMR-Newsletter vom 24. Nov. 2014).

Spannungen zwischen Demokratie und Rechtsstaat begleiteten die Entwicklung, vor allem dann, wenn kantonalen Gesetzen oder Verfassungsnormen wegen Verletzung eidgenössischer Grundrechte die Anwendung verweigert wurde oder eine neue grundrechtskonforme Bedeutung erhielten, wie dies etwa beim Appenzeller Frauenstimmrechtsentscheid der Fall war.

Ratifizierung der EMRK

Als die Ratifizierung der EMRK in der Schweiz zur Diskussion stand, entsprach die Rechtslage in der Schweiz weitgehend den auf europäischer Ebene gewährleisteten Garantien. Die religiösen Sondernormen galten jedoch als unvereinbar mit den Rechten der EMRK und das fehlende Frauenstimm- und Wahlrecht widersprach offensichtlich dem Sinn und Geist der Konvention sowie dem menschenrechtlichen Standard, der sich in den anderen Mitgliedstaaten des Europarats durchgesetzt hatte.

Mit der Einführung des Frauenstimmrechts auf Bundesebene im Jahre 1971 und der Abschaffung des Jesuitenartikels und des Klosterverbots kurz darauf, war im Jahre 1974 der Weg frei für den Beitritt der Schweiz zur EMRK. Die völkerrechtliche Ratifikation erfolgte nach bewährter Praxis der Schweiz erst, nachdem das Landesrecht in allen wesentlichen Punkten in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht gebracht worden war und Vorbehalte und auslegende Erklärungen ausreichten, um allfällige verbleibende Wiedersprüche oder Unklarheiten zu regeln.

Rückwirkungen der EMRK auf das Schweizer Recht

Schon bald zeigte sich jedoch, dass die EMRK nicht nur als dynamisches Instrument der europäischen Zusammenarbeit konzipiert war, sondern dank den Strassburger Institutionen auch als solches zu funktionieren vermochte. Vorbehalte und auslegende Erklärungen der Schweiz erwiesen sich bald als unzulässig und die Schweiz sah sich genötigt, punktuelle Änderungen an ihrer Rechtsordnung vorzunehmen, um diese in Einklang mit der EMRK zu bringen.

Die weitaus grösste Bedeutung kam dabei den Verfahrensgarantien zu, die zunächst im Strafverfahren, später auch im öffentlich-rechtlichen Verfahren zu erheblichen gesetzlichen und institutionellen Neuerungen führten. Die EMRK hatte namentlich einen erheblichen Einfluss auf den Ausbau der Kontrolle von Verwaltungsakten und auf die Schaffung bzw. Festigung unabhängiger Verwaltungsgerichte auf kantonaler und eidgenössischer Ebene und prägt damit nicht nur die Rechtsordnung, sondern auch die Institutionen, die mit ihrem Vollzug betraut sind.

EMRK als Teil des schweizerischen Rechtssystems

Die EMRK wurde auch dadurch bald zum festen Bestandteil des schweizerischen Rechtssystems, als sie von Verwaltungsbehörden angewandt, von Privaten und ihren Anwältinnen und Anwälten angerufen, von Gerichten angewandt, an Universitäten gelehrt und von Gesetzgebern berücksichtigt wurde. Kaum ein Rechtsgebiet wurde nicht auf die eine oder andere Weise von den Rechten der EMRK berührt.

Während einige Anpassungen kurz und schmerzlos erfolgten (so etwa die Abschaffung der befristeten Eheverbote nach der Scheidung), erforderten andere ein langes Ringen um eine grundrechtskonforme und mehrheitsfähige Lösung (so etwa die Regelung des Familiennamens). Es zeigte sich dabei auch, dass die Grundrechtsprechung der Gerichte Private zwar im Einzelfall vor ungerechtfertigten Verletzungen ihrer Ansprüche zu schützen, gesetzgeberische Entscheide aber nicht zu ersetzen vermochte. Die grundrechtskonforme Ausgestaltung der Rechtsordnung blieb die Aufgabe der Parlamente und Regierungen, die dabei gesellschaftlichen Bedürfnissen und rechtlichen Rahmenbedingungen, zu denen die EMRK gehört, Rechnung zu tragen haben.

Die Grundrechte der revidierten Bundesverfassung

Im Verlaufe der vierzigjährigen Geltung der EMRK in der Schweiz ist diese auf engste Weise mit der nationalen Rechtsordnung verwachsen. Der Katalog der Grundrechte der Bundesverfassung, die im Jahre 2000 in Kraft getreten ist, ist dafür symptomatisch: Er nahm Gedankengut und Formulierungen aus der EMRK auf, gewichtete und systematisierte die einzelnen Grundrechte aber anders und ergänzte sie – so wie es dem schweizerischen Kontext entsprach und im obligatorischen Referendum eine Mehrheit von Volk und Ständen fand.

Auch das neue Erwachsenenschutzgesetz, die eidgenössischen Zivil- und Strafprozesskodifikation sowie zahlreiche andere gesetzliche Neuerungen sind einerseits inspiriert und geprägt von der EMRK und der Rechtsprechung der Strassburger Instanzen, gehen aber anderseits weit über diese hinaus, indem sie schweizerische Bedürfnisse und Prioritäten aufnehmen, den institutionellen Kontext berücksichtigen und innovative Neuerungen vorsehen.

Die Schweiz stellt damit den anderen Mitgliedstaaten und den Strassburger Behörden einen reichen Erfahrungsschatz und erprobte Ideen zur Verfügung, die als schweizerischer Beitrag an den gemeinsamen grundrechtlichen Rahmen die Rechtsentwicklung in Europa mitbeeinflussen.

Grundrechte und Volkswille

Spannungen zwischen demokratischen Entscheiden und grundrechtlichen Erwägungen sind damit nicht aus der Welt geschafft. Sie gehören vielmehr zum Verfassungsstaat, der staatliche Entscheide auf den Willen des Volkes zurückführt, Einschränkungen der Grundrechte aber an zusätzliche Anforderungen knüpft: Diese müssen nicht nur gesetzlich vorgesehen (und damit direkt oder indirekt demokratisch legitimiert sein), sondern auch im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sein.

Grundrechte geben deshalb dem Gesetzgeber nicht nur programmatische Leitplanken vor, sondern setzen diesem auch Schranken. Deren Durchsetzung ist auch im halbdirekt-demokratischen System der Schweiz unerlässlich, aber mit besonderen Herausforderungen verbunden.

Auslagerung des Grundrechtsschutzes an die EMRK

Liesse die Schweiz die Verfassungsgerichtsbarkeit im gleichen Mass wie andere Verfassungsstaaten zu, so könnten die Gerichte staatliche Handlungen auch dann auf ihre Übereinstimmung mit der Verfassung überprüfen, wenn der Eingriff in das Grundrecht in einem Bundesgesetz vorgesehen ist. Weil Art. 190 BV das Bundesgericht aber dazu auffordert, Bundesgesetze auch dann anzuwenden, wenn sie die Bundesverfassung (und zwar die Zuständigkeitsordnung oder die Grundrechte) verletzen, besteht die Tendenz, rechtliche und politische Auseinandersetzungen und Normenkonflikte zwischen Bundesgesetzen und Grundrechten an das nach Art. 190 BV ebenfalls verbindliche Völkerrecht zu delegieren. Durch eine «Verfassungsgerichtsbarkeit durch die Hintertür» werden Bundesgesetze dann nicht angewendet, wenn sie die EMRK verletzen und damit im Ergebnis auch dann nicht, wenn sie gleichlautende Bestimmungen der Bundesverfassung verletzen. Durch diese Auslagerung hat die EMRK in der Schweiz eine Rolle übernommen, die ihr nicht zugedacht war: Sie gewährleistet nicht nur einen minimalen Menschenrechtsstandard, sondern fungiert darüber hinaus als Schiedsrichterin zwischen Bundesgesetzen (und dem Bundesgesetzgeber) und der Verfassung (und dem Verfassungsgeber).

Neuerdings wird der EMRK sogar noch eine weitere Aufgabe zugewiesen: Sie soll die Schranke ziehen, wenn es um die Zulässigkeit von Volksinitiativen oder die Auslegung von Verfassungsbestimmungen geht und der Massstab sein, mit dessen Hilfe Konflikte innerhalb der schweizerischen Bundesverfassung gelöst werden. Angesichts dieser Last, die der EMRK dadurch aufgebürdet wird, erstaunt es nicht, dass das bewährte und erfolgreiche Instrument des europäischen Grundrechtsschutzes zunehmend in Bedrängnis gerät.

Ausgleich zwischen Demokratie und Grundrechten

In dieser Situation ist es sowohl angezeigt, an die enge Verbundenheit der Schweiz mit den Rechten der Einzelnen zu erinnern und die Verflechtung der schweizerischen Rechtsordnung mit den Rechten der EMRK zu bedenken, als auch dazu aufzurufen, offene und umstrittene verfassungsrechtliche Fragen nach der Zulässigkeit und Umsetzung von Volksinitiativen, nach der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Hierarchie der Normen dort zu lösen, wo sie sich stellen, nämlich in der schweizerischen Bundesverfassung.

Der richtige Ausgleich zwischen demokratischen Entscheiden und den Rechten von Einzelnen und Minderheiten muss immer wieder neu erstritten und errungen werden. Die EMRK dient dabei als wichtige Wegleitung. Eine politische Kampagne gegen die EMRK schafft das grundlegende Problem des Ausgleichs nicht aus der Welt, sondern lenkt nur davon ab (vgl. dazu den Beitrag «Eine schwierige Beziehung: Die Schweiz und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte» im SKMR-Newsletter vom 24. Nov. 2014). Die Schweiz weiss aufgrund ihrer Geschichte, dass die Demokratie nur dann gut funktioniert, wenn sie auf Konsens beruht und auf Minderheiten Rücksicht nimmt, besonders auf jene, die aufgrund ihrer Sprache, Religion, Herkunft oder aus anderen Gründen wenig Aussicht darauf haben, je zur Mehrheit zu werden. An diese Erfahrung sollte sich die Schweiz erinnern und nicht der Versuchung erliegen, Demokratie mit einer Herrschaft gleichzusetzen, die der Mehrheit erlaubt, auf Kosten anderer zu reagieren.

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