Artikel

Die Ratifizierung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen durch die Schweiz

Die doppelte Diskriminierung behinderter Kinder in der Schweiz dargelegt anhand zweier Beispiele

Abstract

Autorin: Paola Riva Gapany (Übersetzung aus dem Französischen)

Publiziert am 05.06.2014

Bedeutung für die Praxis:

  • Das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UNO-Behindertenrechtskonvention, BRK), das in der Schweiz seit dem 15. Mai 2014 in Kraft ist, übernimmt hinsichtlich der Kinder einige der allgemeinen Grundsätze des Übereinkommens über die Rechte des Kindes (UNO-Kinderrechtskonvention, KRK).
  • Die BRK führt eine ganze Reihe von Massnahmen auf, wie etwa Gesetzesreformen oder die verfassungsrechtliche Anerkennung der Gebärdensprache als offizielle Sprache, mit denen Verstösse gegen die Konvention behoben und die gesellschaftliche Integration von Menschen mit Behinderungen erleichtert werden können.
  • Das Recht auf Anhörung gemäss Artikel 12 KRK und das Recht auf volle Beteiligung am kulturellen und künstlerischen Leben gemäss Artikel 31 Abs. 2 KRK sind zwei Beispiele für die doppelte Diskriminierung behinderter Kinder: zum einen als Kinder und zum andern als Menschen mit Behinderungen.

Parallelen zwischen KRK und BRK

Artikel 23 KRK behandelt spezifisch die Rechte von Kindern mit Behinderungen; die BRK bezieht sich in Artikel 7 ausdrücklich auf Kinder und übernimmt dort die KRK-Grundsätze der Gleichbehandlung (Art. 2 KRK: Diskriminierungsverbot), des Kindeswohls (Art. 3 KRK) und der Mitwirkung des Kindes (Art. 12 KRK). Hinsichtlich der Mitwirkung verlangt Artikel 7 Abs. 3 BRK, dass die Kinder eine behinderungsgerechte sowie altersgemässe Hilfe erhalten, damit sie dieses Recht verwirklichen können (vgl. Art. 23 Abs. 3 KRK). Artikel 3 Bst. h BRK erhebt die Achtung vor den sich entwickelnden Fähigkeiten von Kindern mit Behinderungen und die Achtung ihres Rechts auf Wahrung ihrer Identität zum Grundsatz (vgl. Art. 23 Abs. 3 KRK).

Die BRK und das Schweizer Recht

Am 15. April 2014 trat die Schweiz der BRK vom 13. Dezember 2006 bei; sie ist am 15. Mai 2014 in Kraft getreten.

Die BRK stellt eine weitere Stärkung des bisherigen Schweizer Rechts dar, das mit dem Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) und dem Invalidenversicherungsgesetz (IV) bereits weitgehend mit den Grundsätzen der Konvention in Einklang steht, auch wenn aufgrund des Föderalismus die Umsetzung der Grundrechte – z. B. des Rechts auf Bildung – von Kanton zu Kanton unterschiedlich ausfällt. Die BRK bringt jedoch zusätzliche Massnahmen und Lösungen, damit Menschen mit Behinderungen vollwertige aktive Mitglieder einer sich der Inklusion verpflichtenden Gesellschaft werden.

Die BRK und die Rechte des Kindes in der Schweiz

Bei der Frage nach den Rechten der Kinder mit Behinderungen wird in erster Linie das Recht auf inklusive Bildung genannt. Die beiden nachfolgend beschriebenen Beispiele zeigen jedoch auf, dass die Umsetzung einiger Rechte (etwa das Recht auf Anhörung und das Recht auf Freizeit) schon bei Kindern ohne Behinderung zu Kritik Anlass bietet. Dies ist umso mehr der Fall bei Kindern mit Behinderung, die schlicht ausser Acht gelassen werden. Letztere werden demzufolge gleich doppelt diskriminiert: einmal aufgrund ihrer Stellung als Kind und ein anderes Mal aufgrund ihrer Behinderung.

Die Mitwirkung von Kindern mit Behinderungen

In seinen Schlussbemerkungen an die Schweiz vom Jahr 2002 betonte der UNO-Kinderrechtsausschuss, dass besonderes Gewicht auf das Mitwirkungsrecht zu legen ist und dass dabei verletzlichen Gruppen, zu denen Kinder mit Behinderungen gehören, besondere Aufmerksamkeit zu schenken ist. Diese Empfehlung gilt es insbesondere bei den Vorgehen für die Anordnung sonderpädagogischer Massnahmen zu beachten, sind doch bisher gemäss Artikel 2 Bst. d) der Interkantonalen Vereinbarung über die Zusammenarbeit im Bereich der Sonderpädagogik nur die Erziehungsberechtigten in diesen Entscheidprozess einzubeziehen. In Bezug auf die Anhörung von Kindern mit Behinderungen bei Massnahmen, die sie direkt betreffen, besteht also eine rechtliche Hürde. Dies verletzt nicht nur Artikel 12 KRK, sondern widerspricht auch Artikel 4 Abs. 1 b) BRK, der den Staat verpflichtet, „alle geeigneten Massnahmen einschliesslich gesetzgeberischer Massnahmen zur Änderung oder Aufhebung bestehender Gesetze, Verordnungen, Gepflogenheiten und Praktiken zu treffen, die eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen darstellen“.

Das Recht auf Freizeit und Information

Die besondere Situation von Kindern mit Behinderungen muss in den in Artikel 31 KRK und Artikel 30 Abs. 5 d) BRK angesprochenen Bereichen berücksichtigt werden, insbesondere das Recht auf Beteiligung am kulturellen und künstlerischen Leben, sowie den Zugang zu geeigneten Informationen (Art. 17 KRK). In diesem Zusammenhang verweist die Schweizer Regierung in ihrem Zweiten, dritten und vierten Bericht der Schweizerischen Regierung zur Umsetzung des Übereinkommens über die Rechte des Kindes auf die Radio- und Fernsehverordnung (RTVV), die ihr zufolge den Kindern mit Behinderungen den Zugang zu kulturellen, künstlerischen und Freizeitaktivitäten gewährleistet. Doch die RTVV berücksichtigt Kinder nur unter dem Schutzaspekt (Art. 4 RTVV), nicht jedoch in Bezug auf ihr Recht auf Information und Kultur. Die in Artikel 7 Abs. 1, 2 und 3 RTVV vorgesehenen Massnahmen, die das Recht der Menschen mit Behinderungen auf Information gewährleisten sollen, betreffen Sendungen für Erwachsene, Kindersendungen bleiben unerwähnt. Es handelt sich also nicht um Informationen, die im Sinne von Artikel 17 KRK für das Kind von Nutzen sind bzw. die altersgerecht aufbereitet sind.

Für die beiden angeführten Beispiele müssten also gesetzliche Anpassungen hinsichtlich der Rechte des Kindes vorgenommen werden, damit die Praxis den Forderungen von Artikel 4 Abs. 1 b) BRK genügt. Um die Gleichbehandlung von Menschen mit und ohne Behinderungen unabhängig vom Alter sicherzustellen, stehen der Schweiz aber noch weitere Aufgaben bevor. Es handelt sich dabei insbesondere um die verfassungsrechtliche Anerkennung der Gebärdensprache als offizielle Sprache sowie der Gehörlosenkultur als spezifische kulturelle Identität Art. 30 Abs. 4 BRK.

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