Abschlusspublikation

Föderalismus als Chance für die Menschenrechte

Publiziert am 28.09.2022

Einführung

Fallbeispiel: Verletzung des Mindeststandards durch den Kanton

Das Genfer Gefängnis Champ-Dollon ist seit Jahren chronisch überbelegt: Die für 398 Personen konzipierte Anstalt beherbergte zeitweise 900 Personen, was einer Überbelegung von 233 Prozent entspricht. Nationale und internationale Menschenrechtsakteur*innen bezeichneten die Haftbedingungen in Champ-Dollon wiederholt als unhaltbar. Das Bundesgericht hielt 2014 in einem Leiturteil fest, dass die engen Platzverhältnisse in Kombination mit weiteren Elementen, wie etwa dem langen Zelleneinschluss, die Menschenwürde verletzen können. Trotz der klaren Stellungnahme und obwohl seit dem Entscheid bereits sieben Jahre vergangen sind, bestehen die Probleme fort. Ende 2020 lag die Überbelegung immer noch bei 151 Prozent.

Fallbeispiel: Lückenhafte Berichterstattung des Bundes

Im Dezember 2020 verabschiedete der Bundesrat den jüngsten Bericht zur Umsetzung der Kinderrechtskonvention. Darin schreibt er bezüglich der Inklusion von Kindern mit Behinderungen in die Regelschule, das Gesetz in verschiedenen Kantonen sehe vor, dass eine integrierte Schulung Vorrang vor einer separativen Schulung hat. In wie vielen Kantonen dies tatsächlich so ist (drei? vier? zehn?) bleibt offen, ebenso, ob und wie die übrigen Kantone die Integration fördern. Bezüglich Kindern ohne Aufenthaltsberechtigung versichert der Bundesrat, dass die Einschulung von Sans-Papiers-Kindern in den meisten Kantonen – und insbesondere in den urbanen Zentren Genf, Zürich, Basel-Stadt oder Bern – gängige Praxis sei. In welchen Kantonen die Einschulung nicht gewährleistet ist und was der Bund dagegen unternimmt, wird nicht gesagt. Es handelt sich nicht um den einzigen Staatenbericht der Schweiz, der die Situation in den Kantonen unvollständig darstellt und damit kein repräsentatives Bild der Menschenrechtssituation in der Schweiz vermittelt.

Wie die Demokratie kann auch der Föderalismus die Grund- und Menschenrechte stärken oder aber ihrer umfassenden Verwirklichung im Wege stehen.1 Auf der einen Seite erlaubt der Föderalismus den Kantonen und Gemeinden, Rechte und Freiheiten bürger*innennah umzusetzen, mit neuen Rechten und Durchsetzungsmechanismen zu experimentieren und die Menschenrechte bottom-up zu stärken und weiterzuentwickeln. Auf der anderen Seite kann die lokale Autonomie die Umsetzung neuer Bestimmungen verzögern und eine Hürde beim Vorgehen gegen Menschenrechtsverletzungen darstellen. Es gilt deshalb, den Föderalismus so auszugestalten, dass er sich möglichst positiv auf die Grund- und Menschenrechte auswirkt. Wie dies gelingen kann, soll im Folgenden analysiert werden.

Analyse

In internationalen Menschenrechtsgremien wird der Föderalismus häufig als Gefahr für die Menschenrechte gesehen. So haben sich fast alle UNO-Vertragsausschüsse in der Vergangenheit besorgt über die föderalistische Struktur der Schweiz – und anderer Bundesstaaten – geäussert.2 Sie fordern regelmässig ein stärkeres Engagement des Bundes, entweder in der Form einer besseren Koordination oder in der Form einer Vereinheitlichung der Gesetzgebung auf Bundesebene.3 Auch in Schweizer Menschenrechtskreisen wird regelmässig der Ruf nach Top-down-Interventionen laut.4

Dass einheitliche Lösungen nicht zwingend fortschrittlicher sind und der Bund oft nur nachvollzieht, was innovative Kantone und Gemeinden bereits praktizieren, zeigt ein Blick in die Geschichte. Die Entwicklung der Grundrechte ging in der Schweiz lange hauptsächlich von den Kantonen aus.5 Als das Bundesgericht Mitte des 20. Jahrhunderts dazu überging, ungeschriebene Grundrechte der Bundesverfassung anzuerkennen, stützte es sich massgeblich auf die Verfassungswirklichkeit in den Kantonen. So anerkannte es etwa 1963 die persönliche Freiheit als ungeschriebenes Grundrecht, weil «die meisten Kantonsverfassungen diese Freiheit umfassend gewährleisten».6 Bis heute garantieren verschiedene Kantonsverfassungen neue, auf Bundesebene nicht enthaltene oder weniger weit gehende Rechte. So gewährleistet etwa die Verfassung des Kantons Genf seit 2012 ein Recht auf eine gesunde Umwelt. Erst heute, beinahe zehn Jahre später, wurde ein solches Recht auf UNO-Ebene anerkannt.7 Die Debatte über eine Verankerung dieses Rechts in der Bundesverfassung hat gerade erst begonnen.8

Auch im Bereich der politischen Rechte zeigen verschiedene Beispiele, dass die Gewährung regionaler Autonomie zu einem Mehr an Rechten führen kann. So haben verschiedene Kantone und Gemeinden der Schweiz das Stimm- und/oder Wahlrecht für Ausländer*innen,9 Jugendliche10 und Urteilsunfähige11 geöffnet, während Vorstösse zur Ausweitung der politischen Rechte auf Bundesebene bislang erfolglos blieben (vgl. Kapitel 6).

Die Bedeutung der kantonalen Autonomie ergibt sich auch daraus, dass sich viele Probleme des Zusammenlebens zuerst auf lokaler Ebene bemerkbar machen. Die untersten Ebenen eines Staats sind deshalb verlässliche Sensoren für neue Anliegen, Bedürfnisse und Bedrohungen. Kantone und Gemeinden können auch in Krisensituationen schnell und flexibel reagieren. Dies zeigte sich in der Schweiz deutlich während der Coronapandemie: Es waren die Städte, die reagierten, als deutlich wurde, dass die klassische Sozialhilfe aufgrund ihrer Verknüpfung mit der Migrationsgesetzgebung viele Bedürftige ausschloss. So startete etwa die Stadt Zürich das Pilotprojekt «Wirtschaftliche Basishilfe», das Menschen, die beim Bezug von Sozialhilfe Risiken eingehen, finanziell unterstützt.12

Die Beispiele zeigen, weshalb Sinn und Zweck des internationalen und nationalen Menschenrechtsschutzes nicht die Vereinheitlichung des Rechts sein kann. Vielmehr geht es darum, einen Minimalstandard zu sichern, der nicht unterschritten werden darf.13 Die Überschreitung dieses Standards durch einzelne Länder, Kantone oder Gemeinden ist hingegen nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. Innovationen auf lokaler Ebene sichern die Anpassungsfähigkeit der Grund- und Menschenrechte und regen regionale und universale Entwicklungen an.

Der Föderalismus und die damit verbundene Vielfalt an Lösungen können sich also positiv auf die Menschenrechte auswirken. Das Gegenteil ist aber, wie die Fallbeispiele zeigen, auch möglich. Die internationale und innerstaatliche Kritik an unklaren Zuständigkeiten und stossenden Ungleichheiten verweist auf ernst zu nehmende Defizite beim Schutz der Menschenrechte in der Schweiz, die teilweise im Zusammenhang mit dem föderalistischen Staatsaufbau stehen. Die Herausforderungen betreffen insbesondere folgende drei Bereiche:

  • die Durchsetzung der internationalen und nationalen Mindeststandards gegenüber den Kantonen und Gemeinden;
  • den Prozess des gegenseitigen Lernens zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden;
  • die vertikale und horizontale Kommunikation und Koordination bei der Umsetzung internationaler Verpflichtungen im dreistufigen Staat.

Im Folgenden werden diese Aspekte untersucht und Mittel vorgestellt, die dabei unterstützen können, das Potenzial des Föderalismus für die Grund- und Menschenrechte besser zu nutzen.

Mindeststandards gerichtlich definieren und durchsetzen

Bundesrecht – und damit auch Völkerrecht – geht entgegenstehendem kantonalem und kommunalem Recht vor.14 Die Autonomie der Kantone und Gemeinden bei der Umsetzung von Grund- und Menschenrechten ist deshalb beschränkt. Namentlich ist es ihnen nicht erlaubt, den bundes- und völkerrechtlichen Mindeststandard zu unterschreiten. Dass es trotzdem dazu kommt, liegt u. a. daran, dass der Mindeststandard nicht immer klar definiert ist und effektive Mittel zu seiner Durchsetzung fehlen oder nicht eingesetzt werden.

Internationale Menschenrechtsübereinkommen enthalten justiziable und programmatische Garantien. Justiziable Garantien können von Betroffenen unmittelbar vor Gericht eingeklagt werden. Das Bundesgericht spielt denn auch bei ihrer Durchsetzung eine zentrale Rolle. Es konkretisiert die Rechte, legt den Mindeststandard fest und kritisiert dessen Unterschreitung. So garantiert das Bundesgericht auch eine gewisse Harmonisierung innerhalb der Schweiz. Dass verschiedene menschenrechtlich relevante Bereiche, wie etwa die Polizei oder die Sozialhilfe, in der Zuständigkeit der Kantone liegen, ist hier für den Rechtsschutz sogar von Vorteil. Kantonale Gesetze können – anders als Bundesgesetze – uneingeschränkt gerichtlich überprüft und, im Falle einer Grundrechtsverletzung, aufgehoben werden (vgl. Kapitel 1).

Programmatische Verpflichtungen richten sich in erster Linie an die Legislative. Sie sind verbindlich; weil sie aber eher o en und allgemein formuliert sind, ist ihre Durchsetzung schwierig. Versäumt es die Legislative, tätig zu werden, versagen etwa die traditionellen Mittel der Justiz, die auf die Aufhebung von Entscheiden ausgerichtet sind. Dass Gerichte aber durchaus auch dann eine Rolle spielen können, wenn die Hauptverantwortung für die Verwirklichung eines menschenrechtlichen Anspruchs bei den Parlamenten liegt, zeigen folgende Beispiele:

Good Practice: Konkretisierung Mindeststandard durch Bundesgericht

Das Zuger Kantonsparlament hatte 2010 die Weiterführung der kantonalen Gleichstellungskommission abgelehnt, und zwar ohne jegliche Ersatzmassnahmen. Das Bundesgericht musste sich daraufhin mit der Frage auseinandersetzen, ob der Kanton Zug damit den in der Bundesverfassung und im CEDAW- Übereinkommen15 verankerten Au rag zur Förderung der tatsächlichen Gleichstellung von Frau und Mann verletzt hatte. Es verneinte dies zwar im Ergebnis, konkretisierte im Rahmen des Entscheids aber den institutionellen Mindeststandard, der sich aus dem übergeordneten Recht ergibt. Dazu gehört, dass der Kanton Stellen bezeichnet, die mit der Förderung der Gleichstellung betraut sind, ihre Kompetenzen festlegt, sie mit genügend personellen und finanziellen Ressourcen ausstattet und sicherstellt, dass die notwendigen Fachkenntnisse vorhanden sind.16 Dies schränkt zwar die Gestaltungsfreiheit der Kantone ein, überlässt es ihnen aber z. B. zu entscheiden, ob sie eine Fachstelle oder Kommission mit diesen Aufgaben betrauen oder eine dezentralisierte Umsetzung bevorzugen.17

Good Practice: Reasonableness-Test

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sind in Südafrika – anders als in der Schweiz – justiziabel, d. h. vor Gericht einklagbar. Weil der Legislative aber dennoch ein weiter Spielraum bei der Umsetzung zukommt, hat das südafrikanische Verfassungsgericht den sogenannten Reasonableness-Test entwickelt. Gemäss diesem müssen Behörden gegenüber den Gerichten nachweisen, dass sie alle möglichen und sinnvollen Schritte zur Umsetzung ihrer Pflichten unternehmen. Gelingt es den Behörden nicht, darzulegen, dass sie vernünftige gesetzgeberische und finanzielle Vorkehren getroffen haben, liegt eine Menschenrechtsverletzung vor.18

In der Schweiz sind Entscheide, die wie derjenige zur Zuger Gleichstellungskommission programmatische Verpflichtungen konkretisieren – anders als in Südafrika – selten. Dies gilt zwar auch in Bereichen, wo der Bund kompetent ist. Es ist aber im kantonalen Kompetenzbereich problematischer, weil es zu grossen Unterschieden zwischen den Kantonen führen kann und auch die Aufsichtsmittel beschränkt sind. Es wäre deshalb zentral, dass das Bundesgericht bei der Konkretisierung und Durchsetzung internationaler Menschenrechte eine aktivere Rolle spielt. Südafrika kann hier als Vorbild dienen (Empfehlung a).

Bundesaufsicht ausbauen

Die Frage der Zuger Gleichstellungskommission gelangte vor Bundesgericht, weil Private Beschwerde erhoben hatten. Es darf aber nicht Einzelpersonen oder Verbänden überlassen werden, gegen Kantone oder Gemeinden vorzugehen, die sich nicht an die in der Bundesverfassung und im Völkerrecht verankerten Grund- und Menschenrechte halten. Dies ist vielmehr – auch wenn dies heute noch kaum so praktiziert wird – klassische Aufgabe der Bundesaufsicht.19 Als Bundesaufsicht wird die Tätigkeit bezeichnet, mit welcher der Bund sicher- stellt, dass Kantone und Gemeinden den Vorrang des Bundesrechts (inklusive Völkerrecht) beachten. Ausgeübt wird sie in erster Linie durch den Bundesrat bzw. durch untergeordnete Verwaltungsbehörden.20

Die Bundesaufsicht erstreckt sich – dies ist grundsätzlich unbestritten – auf den autonomen und den delegierten Wirkungsbereich der Kantone.21 In der Praxis beschränkt sie sich jedoch meist auf den delegierten Wirkungsbereich, also den Bereich, in dem die Kantone Bundesgesetze vollziehen, z. B. in der Raumplanung oder dem Ausländerrecht, nicht aber auf den originären Zuständigkeitsbereich, z. B. den Bereich der Polizei, der Bildung und der Sozialhilfe. Dies ist weitgehend historisch bedingt. Im autonomen Bereich gab es zu Beginn wenig übergeordnetes Recht, das Kantone und Gemeinden verletzen konnten. Mit der Schaffung internationaler und nationaler Menschenrechtskataloge hat sich dies aber geändert, sodass die Bundesaufsicht neu gedacht werden muss. Es kann nicht sein, dass der Bund tatenlos zusieht, wenn ein Kanton die Bundesverfassung und das Völkerrecht verletzen und z. B. trotz des EGMR-Urteils gegen das Bettelverbot22 ein völkerrechtswidriges Bettelverbot einführen würde. Die Autonomie der Kantone findet ihre Grenze am – hier durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte konkretisierten – völkerrechtlichen Mindeststandard.

Der Bund braucht deshalb effektive Instrumente, um die Einhaltung des völker- und verfassungsrechtlichen Mindeststandards durch die Kantone zu kontrollieren und seine Aufsichtsfunktion wahrnehmen zu können. Hier sollen erste Überlegungen dazu angestellt werden, wie drei bestehende Mittel der Bundesaufsicht – die Genehmigung kantonaler Erlasse, der Erlass von Weisungen sowie die Behördenbeschwerde23 – vermehrt für den Grund- und Menschenrechtsschutz eingesetzt werden können.24 Welches Mittel im konkreten Fall das richtige ist, hängt u. a. von der verletzten Bestimmung, der Schwere des Verstosses, aber auch den jeweiligen Zuständigkeiten ab.25

Genehmigungspflicht kantonaler Erlasse

Die Bundesverfassung sieht vor, dass Bundesgesetze in gewissen Fällen eine Genehmigungspflicht für kantonale Erlasse vorschreiben können.26 Dadurch soll verhindert werden, dass bundesrechtswidriges kantonales Recht angewendet wird. Die zwei folgenden Beispiele zeigen, wie die Genehmigungspflicht zur Sicherung menschenrechtlicher Verpflichtungen der Schweiz genutzt wird bzw. genutzt werden könnte:

Good Practice: Genehmigung kantonaler Ausführungsbestimmungen

Ein Kanton kann den Vollzug von Freiheitsstrafen versuchsweise an privat geführte Anstalten übertragen. Die entsprechenden Ausführungsbestimmungen bedürfen jedoch nach Strafgesetzbuch der Genehmigung des Bundes.27 Über die Gründe, weshalb diese Genehmigungspflicht eingeführt wurde, schweigt die Botschaft des Bundesrats.28 Unabhängig von der ursprünglichen Intention könnte der Bund die Genehmigungspflicht dazu nutzen, sicherzustellen, dass die Kantone ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen auch im privatisierten Justizvollzug wahrnehmen. So könnte etwa Teil der Überprüfung auf Bundesebene die Frage sein, ob in den Ausführungsbestimmungen geeignete aufsichtsrechtliche Mittel vorgesehen sind.29

Die Genehmigungspflicht hat den grossen Vorteil, dass sie präventiv wirkt, also nicht erst, wenn Rechte bereits verletzt wurden. Allerdings ist sie ein eher schwerfälliges Instrument, und sie kann unter Umständen die kantonale Autonomie stark beeinflussen. Wo die Genehmigungspflicht bereits besteht, kann sie jedoch auch zur Unterstützung menschenrechtlicher Belange genutzt werden. Zusätzlich könnte sie in Bereichen, in denen besondere Risiken für die Menschenrechte bestehen, neu eingeführt werden. Infrage kommt dies aber nur für Bereiche, für die der Bund zuständig ist, so etwa die Aufsicht über ausserhalb ihrer Familie betreute Kinder30 (Empfehlungen b und c).

Good Practice: Genehmigung kantonaler Richtpläne

Die fahrende Lebensweise ist grund- und menschenrechtlich geschützt, weshalb die Schweiz dafür sorgen muss, dass es genügend Halteplätze für Fahrende gibt.31 Völkerrechtlich gesehen steht der Bund in der Pflicht; innerstaatlich liegen die entsprechenden Kompetenzen aber weitgehend auf kantonaler und kommunaler Ebene. Durch die Genehmigungspflicht kantonaler Richtpläne32 hat der Bund jedoch einen Hebel, um auf die Durchsetzung der völkerrechtlichen Verpflichtungen einzuwirken. Seit einigen Jahren berücksichtigt das Bundesamt für Raumentwicklung denn auch die Anliegen der Fahrenden im Zusammenhang mit der Genehmigung kantonaler Richtpläne. So wurden Genehmigungen von Richtplananpassungen des Kantons Schaffhausen und des Kantons Schwyz mit dem Auftrag verknüpft, im Rahmen der Weiterentwicklung des Richtplans einen Stand- bzw. Durchgangsplatz für Fahrende zu sichern.33

Allgemeine Weisungen

Ein weiteres Aufsichtsmittel ist der Erlass allgemeiner Weisungen. Diese häufig auch als «Kreisschreiben» bezeichneten Weisungen haben zum Ziel, eine gewisse Einheitlichkeit in der Rechtsanwendung sicherzustellen. Sie benötigen keine gesetzliche Grundlage und sind auch im autonomen Wirkungsbereich der Kantone möglich. Der Bund darf sie zwar nicht dazu nutzen, durch die Hintertür zu vereinheitlichen, wo er nicht zuständig ist. Er kann sie aber dafür einsetzen, die kantonalen und kommunalen Behörden über die Pflichten zu informieren, die sich aus der Bundesverfassung und den Menschenrechtsübereinkommen ergeben, und sie anzuweisen, diese einzuhalten.34 Angesichts dynamischer menschenrechtlicher Entwicklungen stellen Weisungen ein nützliches Instrument dar, um den aktuellen Stand der Menschenrechtsverpflichtungen zuhanden der Kantone zusammenzufassen und Klarheit über die einzuhaltenden Minimalstandards zu schaffen.35 Wo die Menschenrechte einen Ermessensspielraum offen lassen und es viele Möglichkeiten zu ihrer Umsetzung gibt, liegt es allerdings beim zuständigen Gemeinwesen, zu entscheiden, wie – innerhalb des Spielraums – gehandelt werden soll.36

Allgemeine Weisungen, die sich spezifisch der Umsetzung von Menschenrechtsgarantien widmen, sind selten.37 Es finden sich aber verschiedene Weisungen, in denen grund- und menschenrechtliche Bestimmungen präzisiert werden oder bspw. auf Konsequenzen von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aufmerksam gemacht wird. Dies ist sehr sinnvoll (Empfehlung d):38

Good Practice: Kreisschreiben EGMR-Urteil

In einem Schreiben an die kantonalen IV-Stellen erläuterte das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) 2017 die Konsequenzen des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Sache Di Trizio gegen Schweiz.39 Im Urteil hatte der Gerichtshof festgehalten, dass die gemischte Methode, die zur Festlegung des Invaliditätsgrads teilerwerbstätiger Personen verwendet wird, zu einer indirekten Diskriminierung von Frauen führt. Ausgehend vom Urteil definierte das BSV abstrakt, in welchen Fällen die gemischte Methode nicht mehr angewendet darf, weil sonst das Recht auf Familienleben in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot verletzt wird.40

Good Practice: Kreisschreiben politische Gleichstellung

Trotz der Pflicht der Schweiz, in allen Bereichen für die tatsächliche Gleichberechtigung der Geschlechter zu sorgen,41 sind Frauen in zahlreichen politischen Gremien immer noch untervertreten.42 Der Bundesrat bat deshalb die Kantonsregierungen in seinem Kreisschreiben zu den Nationalratswahlen 2019, die Wahlberechtigten auf eine allfällige Unterrepräsentation von Frauen in ihrem Kanton aufmerksam zu machen. Er verwies zudem auf den «Leitfaden für kandidierende Gruppierungen» der Bundeskanzlei, der konkrete Massnahmen vorschlägt. Ein Beispiel ist die gezielte Vorkumulation, d. h. die bereits vorgedruckte zweifache Aufführung von Kandidatinnen auf einer Wahlliste.43

Behördenbeschwerde

Die im Bundesgerichtsgesetz44 verankerte Behördenbeschwerde ermächtigt die Bundeskanzlei und die Departemente des Bundes ohne weitere Rechtsgrundlage dazu, in ihrem Aufgabenbereich eine Beschwerde gegen Kantone zu erheben.45 Traditionell wird dieses Instrument zur Überwachung des Vollzugs des Bundesverwaltungsrechts verwendet. Die Behördenbeschwerde ist aber auch ein sinnvolles Mittel zur Durchsetzung der Bundesverfassung und der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz. Der Bund ist Garant der Einheit der Rechtsordnung. Ein Bundesstaat, der Gliedstaaten erlaubt, in ihrem Autonomiebereich die Verfassung oder das Völkerrecht zu verletzen, weist fundamentale rechtsstaatliche Defizite auf. Er lässt ausser Acht, dass die Autonomie von Kantonen und Gemeinden beschränkt ist und dass Verfassung und Völkerrecht die Durchsetzung dieser Schranken erfordern.

Bereits heute wäre die Behördenbeschwerde zulässig, um im Anwendungsfall Vorgaben aus Menschenrechtsübereinkommen durchzusetzen, welche die Bundesgesetzgebung betreffen.46 Die entsprechenden Fälle sind jedoch selten. Eine Konkretisierung und Ausweitung auf den autonomen Wirkungsbereich hätte den Vorteil, dass der Bund ein effektives Mittel gegen säumige Kantone zur Verfügung hätte (Empfehlung e).

Wettbewerb über den Mindeststandard hinaus fördern

Sicherzustellen, dass sich der Föderalismus nicht negativ auf die Menschenrechte auswirkt, ist das eine; positive Dynamiken, die sich aus der dezentralen Zuständigkeit für die Grund- und Menschenrechte ergeben können, zu verstärken, ist das andere. Welche Unterstützung brauchen Gemeinden und Kantone, damit sie zum viel zitierten «Labor für neue Ideen» werden? Wie kann der interkantonale Wettbewerb um die besten Ideen gefördert werden?

Finanzhilfen

Es mag banal erscheinen, aber eine wichtige Voraussetzung, damit Kantone und Gemeinden ihre Kreativität entfalten können, sind genügend personelle und finanzielle Ressourcen. Kann bereits das Tagesgeschäft kaum bewältigt werden, ist es nicht wahrscheinlich, dass auch noch neue Projekte lanciert und Ideen getestet werden. Finanzhilfen des Bundes zur Förderung der Grund- und Menschenrechte existieren bereits heute.47 Die Kantone und Gemeinden können im Normalfall darauf zurückgreifen und tun dies auch.48 Es gilt aber zu überlegen, wie diese Finanzhilfen besser auf die Bedürfnisse von Kantonen und Gemeinden zugeschnitten werden können (Empfehlung f).

Austausch von Good Practices, UPR und Rankings

Innovative kantonale und kommunale Initiativen müssen sichtbar gemacht werden. Dies spornt an und erhöht die Chance auf einen Nachahmungseffekt. Tagungen sind eine konkrete Möglichkeit, wie Initiativen bekannt gemacht und Good Practices ausgetauscht werden können. Ein gutes Beispiel ist etwa die Fachtagung der Sti ung «Zukunft für Schweizer Fahrende» zum Austausch von Erfahrungen bei der Schaffung von Halteplätzen auf Gemeindeebene.49 Auch Websites, die Good Practices oder praktische Werkzeuge vorstellen – wie z. B. die Website des SKMR zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention50 in den Kantonen, www.brk-praxisbeispiele.ch, oder die Website von Gerontologie.ch zu altersfreundlichen Gemeinden, www.altersfreundliche-gemeinde.ch –, können einen Beitrag zur Diffusion von Ideen und Wissen leisten (Empfehlung g).

Auf UNO-Ebene ermöglicht das Universal-Periodic-Review-Verfahren (UPR), in dem die UNO-Staaten einander über die Menschenrechtssituation in ihrem Land berichten, einen solchen Austausch von Ideen und Good Practices. Indem der begutachtete Staat darüber berichtet, wie die Menschenrechte im eigenen Land gefördert werden, kann er seine Peers zu neuen Massnahmen inspirieren. Durch die Empfehlungen anderer Staaten erhält der begutachtete Staat wiederum Hinweise auf wirksame Mechanismen der Prävention und des Schutzes von Menschenrechten.

Dieser Ansatz lässt sich in einem Bundesstaat auf die nationale Ebene übertragen. In der Schweiz könnten bspw. jährlich drei ausgewählte Kantone im Fokus einer «Schweizer UPR» stehen. Die ausgewählten Kantone erhielten Gelegenheit, die Menschenrechtssituation im eigenen Kanton darzustellen. Das Bild würde komplettiert durch Berichte der Zivilgesellschaft und des Bundes. Die übrigen Kantone würden auf dieser Basis Empfehlungen an den Kanton richten. Ein solches Verfahren würde nicht nur zur Sensibilisierung für Menschenrechte in den Kantonen beitragen, sondern auch eine bessere Gesamtsicht ermöglichen und die Datenlage für die internationale Berichterstattung verbessern (Empfehlung h).

Einen Schritt weiter gehen würde ein menschenrechtliches Ranking der Kantone, z. B. durch die neue Nationale Menschenrechtsinstitution. Als Vorbild dienen könnte hier etwa der «State Equality Index» der Organisation Human Rights Campaign, der die amerikanischen Gliedstaaten bezüglich deren Politik gegen- über LGBTIQ*-Personen vergleicht und die Ergebnisse übersichtlich darstellt.51 Diese öffentlichkeitswirksame Methode könnte auch in der Schweizer Menschenrechtspolitik zu Fortschritten führen (Empfehlung i).

Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen verbessern

Die Ratifikation von Menschenrechtsabkommen erfolgt auf Bundesebene.52 Die Umsetzung erfolgt aber zu einem wichtigen Teil auf Kantonsebene. Diese geteilte Verantwortung führt immer wieder zu Spannungen zwischen Bund und Kantonen, etwa im Rahmen des Berichterstattungsverfahrens (vgl. Fallbeispiel «Lückenhafte Berichterstattung des Bundes») und des darauf folgenden Follow-ups zu den Empfehlungen.

Eine Studie des SKMR unterbreitete deshalb Bund und Kantonen 2012 und 2013 eine Reihe von Empfehlungen zur Verbesserung der Kommunikation und Koordination.53 Bezüglich Berichterstattung lautete der Vorschlag des SKMR, die Abläufe zur Erstellung der Berichte zu harmonisieren, einen Koordinationsmechanismus zu schaffen und auf allen Ebenen klare Ansprechpersonen zu bezeichnen.54 Zur Verbesserung des Follow-ups empfahl das SKMR eine gemeinsame Analyse und Priorisierung der «Abschliessenden Bemerkungen» der Vertragsausschüsse durch Bund und Kantone.55

Seit der Analyse des SKMR hat sich in beiden Bereichen einiges getan. Seit 2015 fungiert die Konferenz der Kantonsregierungen als Koordinationsstelle für die Kantone im Rahmen der Berichtsverfahren. Sie sammelt die notwendigen Informationen, übermittelt sie in konsolidierter Form der federführenden Bundesstelle und vertritt die Kantone in den Sitzungen der Interdepartementalen Kerngruppe Internationale Menschenrechtspolitik (KIM), dem Koordinationsgremium des Bundes.56 Die KIM wiederum verabschiedete 2016 ein Konzept für eine «Koordination light» der Staatenberichtsverfahren. Gemäss Konzept ist die Koordination ständiges Traktandum an den zweimal jährlich stattfindenden Sitzungen. Das federführende Bundesamt für Justiz führt eine Liste aller Menschenrechtskonventionen, einen Kalender aller Berichtsverfahren sowie eine Liste mit Ansprechpersonen in den jeweiligen Stellen.57

Im Bereich des Follow-ups fehlt zwar nach wie vor ein einheitliches und systematisches Vorgehen für die Umsetzung der Empfehlungen.58 In der Zwischenzeit gibt es aber gute Beispiele von systematischen Follow-up-Prozessen. So besteht zum CEDAW-Übereinkommen eine sogenannte Roadmap, welche die Empfehlungen systematisiert, konkretisiert und priorisiert. Die Priorisierung erfolgt dabei durch die zuständigen Bundesstellen sowie durch die kantonalen und kommunalen Gleichstellungsbeau ragten.59 Für die Kinderrechtskonvention60 erarbeiteten Bund, Kantone und Zivilgesellschaft eine gemeinsame Tabelle, die zu jeder Empfehlung die zuständigen Stellen auf Bundes- und Kantonsebene festhält und mögliche Kooperationen mit NGOs au ührt.61 Eine gemeinsame Analyse von Bund und Kantonen fand auch beim Sozialpakt62 statt.63 Die konkreten Ergebnisse sind aber nicht öffentlich zugänglich.

Idealerweise handelt es sich bei Berichterstattung und Follow-up um kontinuierliche Prozesse, die nahtlos ineinander iessen:64 Die Berichterstattung bildet die Basis für die Empfehlungen des jeweiligen UNO-Ausschusses. Deren gemeinsame Analyse und Priorisierung, die Definition von Zuständigkeiten sowie die Ausarbeitung und Umsetzung von Massnahmen sind wiederum Ausgangspunkt für den nächsten Berichterstattungszyklus. Dieser Prozess braucht ein klares Konzept (vgl. Good Practice «Umsetzungskonzept Istanbul-Konvention») und eine intensive Begleitung. Die Schaffung einer permanenten Koordinations- stelle mit klarem Au rag würde hier nicht nur bezüglich Kontinuität, sondern auch bezüglich Transparenz einen Vorteil bieten65 (Empfehlungen j und k).

Good Practice: Umsetzungskonzept Istanbul-Konvention

Die Umsetzung der Istanbul-Konvention66 fällt in den Zuständigkeitsbereich unterschiedlicher föderaler Ebenen. Im Bewusstsein, dass deshalb der koordinierten Umsetzung gemäss Art. 7 der Konvention eine besondere Bedeutung zukommt, haben Bund und Kantone gemeinsam ein Umsetzungskonzept erarbeitet. Dieses definiert nicht nur genau die jeweiligen Zuständigkeiten von Bund und Kantonen; es beschreibt auch detailliert, wie die Berichterstattung und das Follow-up zu den Empfehlungen des Europarats ablaufen und aufeinander abgestimmt werden und wie die Zivilgesellschaft dabei einbezogen wird.67

Empfehlungen

Ein starker Schutz der Menschenrechte in der Schweiz heisst:

a Das Bundesgericht spielt eine aktive Rolle bei der Konkretisierung und Durchsetzung von Menschenrechtsverpflichtungen. Im Bereich der programmatischen Pflichten verlangt es von den zuständigen Behörden den Nachweis, dass sie vernünftige gesetzgeberische und finanzielle Vorkehren getroffen haben.
b Die Bundesbehörden überprüfen genehmigungspflichtige kantonale Erlasse auf ihre Übereinstimmung mit menschenrechtlichen Verpflichtungen.
c Der Bundesgesetzgeber unterstellt kantonale Erlasse in seinem Zuständigkeitsbereich einer Genehmigungspflicht, falls besondere Risiken für Menschenrechte bestehen.
d Allgemeine Weisungen unterstützen Kantone und Gemeinden bei der Umsetzung menschenrechtlicher Verpflichtungen.
e Menschenrechtliche Mindeststandards werden mittels Behördenbeschwerde durchgesetzt.
f Finanzhilfen des Bundes zur Förderung der Umsetzung von Menschenrechten sind auf die Bedürfnisse von Kantonen und Gemeinden zugeschnitten.
g Bund, Kantone und Gemeinden tauschen Good Practices zur Umsetzung der Menschenrechte aus, z. B. an Tagungen oder über Websites.
h Bund und Kantone organisieren regelmässig eine «Schweizer UPR», an der ausgewählte Kantone auf ihre Menschenrechtssituation überprüft werden.
i Die Nationale Menschenrechtsinstitution vergleicht und bewertet die Menschenrechtssituation in den Kantonen und publiziert dazu regelmässig Rankings.
j Bund und Kantone analysieren und priorisieren Empfehlungen internationaler Vertragsausschüsse gemeinsam. Sie definieren, wer für die Umsetzung von Massnahmen zuständig ist und die notwendigen Daten für die Berichterstattung erhebt.
k Eine permanente Koordinationsstelle auf Bundesebene unterstützt Bund und Kantone bezüglich Berichterstattung an die UNO-Vertragsausschüsse und des Follow-ups zu den Empfehlungen.
Fussnoten
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