Artikel

Nationalrat sagt Ja zum Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit

Knapper Entscheid des Erstrats vom 6. Dezember 2011

Abstract

Autorin: Andrea Egbuna-Joss

Publiziert am 01.02.2012

Bedeutung für die Praxis:

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  • Das Geschäft geht nun in den Ständerat. Sollte dieser die Vorlage ebenfalls annehmen, müssen im Rahmen einer Volksabstimmung auch noch eine Mehrheit von Volk und Ständen der Verfassungsänderung zustimmen.

Der Nationalrat hat am 6. Dezember 2011 die Vorlage seiner Rechtskommission knapp mit 94 zu 86 Stimmen gutgeheissen. Stimmen auch der Ständerat sowie Volk und Stände der Streichung von Art. 190 BV zu, könnte das Bundesgericht in Zukunft Bundesgesetze im Anwendungsfall auf ihre Verfassungskonformität überprüfen und den als verfassungswidrig beurteilten Gesetzesnormen die Anwendung versagen (sog. konkrete Normenkontrolle). Damit würde eine Besonderheit des schweizerischen Verfassungsrechts, die zunehmend als anachronistisch erachtet wird, beseitigt: Das Bundesgericht wäre nicht länger verpflichtet, Bundesgesetze auch dann anzuwenden, wenn diese gegen Grundrechte verstossen (z.B. ein ungleiches Rentenalter für Frauen und Männer vorsehen) oder die Zuständigkeiten der Kantone verletzen.

Weiterhin nicht möglich soll dagegen die sog. abstrakte Normenkontrolle bleiben, also die Überprüfung und eventuelle Ungültigerklärung eines Bundesgesetzes, losgelöst von einem konkreten Rechtsanwendungsakt der entsprechenden Norm.

Offene Fragen zur Normenhierarchie

Die vorgeschlagene Streichung von Art. 190 BV hätte zur Folge, dass das Anwendungsgebot sowohl für Bundesgesetze als auch für Völkerrecht dahinfallen und die allgemeinen Regeln der Normenhierarchie gelten würden. Die Kommission bemerkt in ihrem Bericht, dass nach einer Streichung von Art. 190 BV in Zukunft Normenkonflikte zwischen Verfassung und Völkerrecht nur noch nach Art. 5 Abs. 4 BV („Bund und Kantone beachten das Völkerrecht.“) zu beurteilen wären. Da diese Bestimmung nicht den automatischen Vorrang des Völkerrechts anordnet, wäre zum einen die Frage nach dem Verhältnis zwischen Bundesgesetzen und Völkerrecht (soweit es sich dabei nicht um Grund- oder Menschenrechte handelt) weiterhin nicht abschliessend geklärt. Zum andern würde sich die Verfassung nicht mehr ausdrücklich zum Verhältnis von Völkerrecht und Verfassungsrecht äussern und diese Frage damit letztlich der Rechtsprechung überlassen.

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