Artikel

Entwurf zum Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Vernehmlassung

Abstract

Autorin: Andrea Egbuna-Joss

Publiziert am 06.05.2011

Bedeutung für die Praxis:

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  • Möglichkeit für alle interessierte Organisationen und Personen, sich bis 20. Mai an der Vernehmlassung zu beteiligen

Die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates hat zwei parlamentarischen Initiativen zum Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit Folge gegeben. Der/die Initiant/in Heiner Studer und Vreni Müller-Hemmi verlangen im Wesentlichen, die Bundesverfassung dahingehend zu ändern, dass auch Bundesgesetze künftig im Anwendungsfall auf ihre Verfassungskonformität überprüft werden können.

Die nationalrätliche Kommission hat am 17. Februar 2011 einen entsprechenden Bericht und Vorentwurf vorgelegt. Eine Mehrheit der Kommission schlägt dabei vor, Artikel 190 der Bundesverfassung ersatzlos zu streichen. Während eine Kommissionsminderheit von sechs Mitgliedern ein Nichteintreten auf den Vorentwurf empfiehlt, möchte eine weitere Kommissionsminderheit von zwei Mitgliedern Art. 190 BV dahingehend ergänzen, dass Bundesgesetze nur dann nicht massgebend sein sollen, wenn sie gegen ein Grundrecht der Bundesverfassung oder ein vom Völkerrecht garantiertes Menschenrecht verstossen.

Geltende Regelung und deren Problematik aus grund- und menschenrechtlicher Sicht

Gemäss Art. 190 BV sind Bundesgesetze und Völkerrecht für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend.

Die Regelung ist, soweit sie Bundesgesetze betrifft, aus grund- und menschenrechtlicher Sicht problematisch. Gemäss Bundesgericht gilt zwar in einem Konfliktfall zwischen Bundesgesetz und in der Verfassung bzw. in völkerrechtlichen Übereinkommen verankerten Grund- und Menschenrechten zunächst das Gebot der verfassungs- und völkerrechtskonformen Auslegung. Ist eine solche Auslegung jedoch nicht möglich, ist bei einem Konflikt zwischen Bundesgesetz und Bundesverfassung das Bundesgesetz trotz Verfassungswidrigkeit anzuwenden.

Anders verhält es sich bei einem Konflikt zwischen Bundesgesetz und Völkerrecht. Art. 190 BV regelt das Verhältnis zwischen Bundesgesetzen und Völkerrecht zwar nicht ausdrücklich. Das Bundesgericht hat jedoch wiederholt entschieden, dass zumindest völkerrechtlichen Bestimmungen zum Schutz der Menschenrechte Vorrang vor dem Bundesgesetz einzuräumen und die fragliche Gesetzesbestimmung im Einzelfall nicht anzuwenden sei. Die sog. Schubert-Praxis, gemäss derer ein (jüngeres) Bundesgesetz, welches vom Parlament im Wissen um den Konflikt mit (älteren) völkerrechtlichen Verpflichtungen erlassen worden ist, Vorrang geniesst, kommt gemäss Bundesgericht insbesondere im Bereich der EMRK prinzipiell nicht zur Anwendung (vgl. Bericht des Bundesrates vom 5.März 2010 zum Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht, S. 2311 f. mit Hinweisen auf die Rechtsprechung, insbesondere BGE 125 II 417, 424 f..).

Aus grund- und menschenrechtlicher Sicht scheint an der derzeit geltenden Regelung stossend, dass völkerrechtlich garantierte Menschenrechte im Einzelfall zur Nicht-Anwendung von Bundesgesetzen führen können, nicht jedoch die Grundrechte der Bundesverfassung. Dies scheint immer dann besonders problematisch, wenn eine Gesetzesbestimmung gegen ein Grundrecht der Bundesverfassung verstösst, welches nicht auch gleichzeitig in einem völkerrechtlichen Übereinkommen festgeschrieben ist (wie z.B. der allgemeine Gleichheitssatz von Art. 8 BV, das Willkürverbot von Art. 9 BV, das Recht auf Nothilfe gemäss Art. 12 BV oder die Eigentumsgarantie und Wirtschaftsfreiheit gemäss Art. 26 und 27 BV). Das geltende Recht hat überdies zur Folge, dass das Bundesgericht die EMRK besser schützen muss als die demokratisch besser legitimierten Grundrechte der Verfassung, diese also gegenüber der EMRK abgewertet werden.

Vorgeschlagene Neuregelung

Sowohl die von der Mehrheit vorgeschlagene Streichung von Art. 190 BV wie auch die von der Minderheit vorgeschlagene Ergänzung von Art. 190 BV würden dazu führen, dass in Zukunft Bundesgesetze gleich wie Bundesverordnungen und kantonale Erlasse von allen rechtsanwendenden Behörden im Einzelfall nicht nur auf ihre Völkerrechtskonformität, sondern auch auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten der Bundesverfassung geprüft und gegebenenfalls nicht angewandt werden könnten.

Der Mehrheitsvorschlag hat den Nachteil, dass der Vorrang völkerrechtlich garantierter Menschenrechte gegenüber Verfassungsrecht nicht mehr ausdrücklich garantiert wäre und es fraglich ist, ob der Grundsatz der Beachtung des Völkerrechts gemäss Art. 5 Abs. 4 BV genügt, um diesen Vorrang künftig auch verfassungsrechtlich sicherzustellen.

Beim Minderheitsvorschlag ist die Auslegung des Begriffes „ein vom Völkerrecht garantiertes Menschenrecht“ nicht eindeutig geklärt. Umfasst dieser beispielsweise auch die Garantien des UNO-Paktes I über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, welche das Bundesgericht entgegen den Empfehlungen der UNO wiederholt für grundsätzlich nicht direkt anwendbar erklärt hat? Zudem würde sich für die Kantone die Frage stellen ob sie es hinnehmen können, dass Bundesgesetze zwar auf ihre Grundrechtskonformität, nicht aber z.B. auf ihre Vereinbarkeit mit einer Kompetenzvorschrift der Verfassung überprüft werden könnten (Bericht und Vorentwurf vom 17. Februar 2011, S. 11).

Analyse und Ausblick

Der Ausbau der Verfassungsgerichtbarkeit und die Möglichkeit, Bundesgesetze auf ihre Grundrechtskonformität zu überprüfen, sind zu begrüssen. Dies würde einen wichtigen Beitrag zur Kohärenz des Schutzes der Grund- und Menschenrechte in der Schweiz leisten. Für die rechtsanwendenden Behörden dürfte er zudem insofern eine Vereinfachung bringen, als bei der Vorprüfung von Bundesgesetzen die heute noch vorzunehmende Unterscheidung zwischen in der Verfassung festgeschriebenen Grundrechten und völkerrechtlich verankerten Menschenrechten hinfällig werden würde. Generell würde die Bedeutung der Grundrechte der Bundesverfassung gestärkt.

Der Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit gemäss Vorschlag der Kommissionsmehrheit würde jedoch sogleich zwei wichtige Anschlussfragen mit sich bringen, die vom Vorentwurf nicht geregelt sind. Es sind dies die Fragen nach dem Verhältnis von Verfassungsrecht und Völkerrecht und dem Vorgehen im Falle eines Konfliktes zwischen diesen beiden Rechtsquellen sowie die Frage, wie Konflikte zwischen zwei Verfassungsnormen untereinander zu lösen sind. Wie ist z.B. vorzugehen, wenn ein Bundesgesetz zwar verfassungskonform ist, die einschlägige Verfassungsbestimmung jedoch selbst gegen das Völkerrecht verstösst? Oder wie ist einer Verfassungsbestimmung umzugehen, die gegen den Grundrechtskatalog der Verfassung verstösst? Diese Fragen stellen sich insbesondere im Zusammenhang mit der Umsetzung von völkerrechtswidrigen Volksinitiativen und haben nach Annahme der Minarett-Initiative zusätzlich an Bedeutung gewonnen. Ein weiterer Beitrag in diesem SKMR-Newsletter widmet sich dem Zusatzbericht des Bundesrates vom 30. März 2011, welcher sich mit dieser Thematik vertieft auseinandersetzt.

Der Vorentwurf wurde am 21. Februar 2011 in die Vernehmlassung geschickt, die Frist für die Vernehmlassungsadressaten läuft noch bis zum 20. Mai 2011.

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