Artikel
Der EFTA-Gerichtshof untersucht das Recht auf Familienzusammenführung der Richtlinie 2004/38/CE
Interpretation des Rechts auf Familienzusammenführung für Personen im Besitze einer ständigen Aufenthaltserlaubnis (Urteil E-4/11)
Abstract
Autorin: Fanny Matthey
Bedeutung für die Praxis
- Der Gerichtshof der Europäischen Freihandelsassoziation übt die Gerichtsbarkeit über die Mitgliedstaaten der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) aus, die dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) beigetreten sind. Es handelt sich dabei um Norwegen, Island und Liechtenstein. Die Schweiz ist somit vom Urteil nicht direkt betroffen.
- Das Urteil hat jedoch eine gewisse politische Bedeutung, da die Schweiz mit ihrem statischen Freizügigkeitsabkommen die Entwicklung des europäischen Rechts nicht übernimmt und sich das Schweizer Gesetz zumindest in diesem Bereich nicht mit den europäischen Richtlinien deckt.
Die dem EFTA-Gerichtshof gestellte Frage
Die Artikel 16 bis 18 der Richtlinie 2004/38 der Europäischen Union über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Freizügigkeitsrichtlinie, FZR) sehen vor, dass ein EU-Bürger, der sich während fünf Jahren ununterbrochen in einem Land aufhält, dort ein bedingungsloses Recht auf Daueraufenthalt erhält. Für das Recht auf Daueraufenthalt bestehen keine Voraussetzungen (auch keine finanziellen). Es erlischt einzig, wenn eine Person zwei aufeinanderfolgende Jahre im Ausland verbringt, oder wenn ein Verstoss gegen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit vorliegt.
Dem EFTA-Gerichtshof wurde die Frage gestellt, ob ein Bürger des EWR, der im Besitze einer ständigen Aufenthaltserlaubnis ist, im Ruhestand ist und Sozialhilfeleistungen bezieht, Recht auf Familienzusammenführung hat, im Wissen darum, dass seine Familienmitglieder ebenfalls Sozialhilfe beantragen werden.
Zusammenfassung des Sachverhalts
Der deutsche Staatsangehörige A. Clauder besitzt ein Recht auf Daueraufenthalt in Liechtenstein. Er ist Rentner und bezieht Zusatzleistungen. Er heiratet eine deutsche Staatsangehörige und stellt für sie einen Antrag auf Familienzusammenführung. Die Liechtensteiner Behörden lehnen den Antrag ab, da Herr Clauder nicht über genügend finanzielle Mittel verfügt und da seine Zusatzleistungen erhöht werden müssten, wenn seine Frau das Recht hat, mit ihm in Liechtenstein zu wohnen. In seiner Berufung macht Herr Clauder geltend, dass gemäss der Freizügigkeitsrichtlinie keine Anforderungen an den finanziellen Mindestbedarf gestellt werden dürfen. Die Verwaltungsbeschwerdeinstanz des Fürstentums Liechtenstein (bei der die Berufung eingereicht wurde) bittet den EFTA-Gerichtshof, Artikel 16 Abs. 1 FZR auszulegen.
Begründung des Urteils
In seinem Urteil hat der EFTA-Gerichtshof den Artikel 16 FZR im Sinne von Arnulf Clauder interpretiert und hob insbesondere folgende Elemente hervor.
Die Freizügigkeitsrichtlinie kennt drei unterschiedliche Aufenthaltsrechte. Artikel 6 behandelt das Recht auf Aufenthalt bis zu drei Monaten, Artikel 7 ist dem Recht auf – befristeten – Aufenthalt für mehr als drei Monate gewidmet und Artikel 16 betrifft das Recht auf Daueraufenthalt.
Für die Ausarbeitung der Begründung analysiert der Gerichtshof die Frage in zwei Etappen. Zuerst fragt er sich, ob auf der Grundlage von Artikel 16 FZR ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht für Familienmitglieder besteht, die die Familienzusammenführung beantragen. Danach wird die Frage behandelt, ob ein solches abgeleitetes Recht (auf Aufenthalt) unabhängig von den finanziellen Mitteln der Familienmitglieder bzw. der nachziehenden Person erteilt werden kann.
Zur Beantwortung der ersten Frage ruft der Gerichtshof zuerst die Systematik der Richtlinie in Erinnerung. Artikel 16 sagt nichts über die Frage der Familienmitglieder aus, während Artikel 7 ausdrücklich vorsieht, dass ein Familienmitglied einen Unionsbürger begleiten darf, wenn der Unionsbürger für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügt und sie keine Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen. Der Gerichtshof schliesst deshalb daraus, dass das in Artikel 16 vorgesehene Recht auf Daueraufenthalt ein abgeleitetes Recht auf Aufenthalt für die Familienmitglieder darstellt. Da dieses Recht auf Aufenthalt mit einem hohen Mass an Integration einhergeht, kann es nur so verstanden werden, dass auch das Recht, mit seiner Familie zu leben, eingeschlossen ist.
Betreffend der zweiten Frage hebt der Gerichtshof hervor, dass Artikel 16 FZR ein bedingungsloses Recht auf Aufenthalt vorsieht und dass dies ein wesentlicher Unterschied zu den früheren Richtlinien (90/364 und 90/365) darstellt. Diese sahen vor, dass die Staaten das Aufenthaltsrecht an gewisse Bedingungen, insbesondere genügend finanzielle Mittel, knüpfen konnten.
Der Gerichtshof ist somit der Ansicht, dass das Recht auf Freizügigkeit und freie Wahl des Wohnsitzes eines Unionsbürgers, der über ein bedingungsloses Recht auf Daueraufenthalt verfügt, geschwächt würde, wenn ihm das Recht verwehrt wird, eine Familie zu gründen. Dies würde dem Ziel der Richtlinie widersprechen und deren Wirksamkeit einschränken. Weiter ist der Gerichtshof der Meinung, dass dies auch der Fall ist, wenn das Familienmitglied von der Sozialhilfe abhängig ist. Da der Gerichtshof davon ausgeht, dass das von Artikel 16 FRZ vorgesehene Recht bedingungslos ist und zudem ein abgeleitetes Recht für die Familie des Bürgers darstellt, der über das Aufenthaltsrecht verfügt, ist anzunehmen, dass auch das abgeleitete Recht nicht an finanzielle Bedingungen geknüpft werden kann. Der Gerichtshof erinnert zudem an das durch Artikel 8 EMRK garantierte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens.
Der Gerichtshof ist somit der Ansicht, dass Artikel 16 Abs. 1 FZR so zu interpretieren ist, dass ein Unionsbürger (im Ruhestand und Sozialhilfebezüger), der über ein Recht auf Daueraufenthalt verfügt, das Recht auf Familienzusammenführung beanspruchen kann, auch wenn das Familienmitglied, für das er das Recht in Anspruch nehmen will, ebenfalls Sozialhilfe beantragen wird.
Kommentar
Die Familienzusammenführung beruht auf dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens und basiert im Grunde auf der Dauer des Aufenthalts. Vereinfacht kann gesagt werden, dass das Recht auf Familienzusammenführung leichter anerkannt wird und weniger strenge Bedingungen für die Zusammenführung gelten, je länger und stabiler das Recht auf Aufenthalt einer Person ist. Dies gilt sowohl für das europäische als auch für das Schweizer Recht. Trotzdem kommt der Familienzusammenführung im europäischen Recht eine besondere Bedeutung zu. Die FZR ist nämlich ein Instrument, mit welchem im Grundsatz wirtschaftliche Ziele verfolgt werden. Familienangehörige sollen die Möglichkeit erhalten, zusammenzubleiben, auch wenn ein Familienmitglied in einem anderen Land einer Arbeit nachgeht. Da das Familienleben somit für eine effiziente Freizügigkeit entscheidend ist, hat der Gerichtshof der Europäischen Union das Recht auf Familienzusammenführung nach und nach deutlich erweitert (siehe zum Beispiel die Urteile Metock und Zambrano).
Dies ist in doppelter Hinsicht interessant. Erstens gibt es unterschiedliche Mechanismen zwischen dem EWR-Abkommen und dem Freizügigkeitsabkommen (FZA). Das EWR-Abkommen ist dynamisch und integriert nach und nach die europäische Gesetzgebung während das FZA statisch ist und das am 21. Juni 1999 geltende Gesetz beinhaltet. Das Freizügigkeitsabkommen ist somit im Vergleich zum EWR-Abkommen ein deutlicher Nachteil für die Unionsbürger, da es eine starre Struktur aufweist und die Entwicklung des Gesetzes und der Rechtsprechung nicht berücksichtigt.
Zweitens ist hervorzuheben, dass die Niederlassungsbewilligungen in der Schweiz nicht dem FZA unterliegen, sondern dem Bundesgesetz über Ausländerinnen und Ausländer (AuG). Die Unionsbürger im Besitze einer Niederlassungsbewilligung müssen sich somit auf Artikel 34 AuG (und Art. 43 AuG für die Familienzusammenführung) beziehen. Dieser ist weniger streng als das FZA, da die Bewilligung unbefristet und bedingungslos erteilt wird. Die Niederlassungsbewilligung kann jedoch widerrufen werden, wenn der Bürger, der über das Aufenthaltsrecht verfügt (oder eine Person, für die er oder sie zu sorgen hat), «dauerhaft und in erheblichem Mass auf Sozialhilfe angewiesen ist» (Art. 63 Abs. 1c AuG), was ein weiterer Unterschied zum sich entwickelnden Recht der Europäischen Union darstellt.