Artikel

Das Recht des Kindes auf seine sexuelle Orientierung und seine Geschlechtsidentität

Wie werden LGBT/IQ-Kinder in der Schweiz geschützt?

Abstract

Autoren*innen: Philip Jaffé, Paola Riva Gapany

Publiziert am 13.06.2013

Bedeutung für die Praxis:

  • Das Bewusstsein für die Diskriminierung, welcher LGBT/IQ Personen (Lesbische, Gay/Schwule, Bisexuelle, Transgender, Intersexuelle und Questioning) ausgesetzt sind, wächst und ihr rechtlicher Schutz wird auf europäischer und schweizerischer Ebene in verschiedener Hinsicht ausgebaut.
  • Meist stehen die Rechte erwachsener LGBT/IQ-Personen im Zentrum der Aufmerksamkeit, etwa die Debatten über die Homosexuellen-Ehe oder Adoption durch gleichgeschlechtliche Paare. Demgegenüber bleibt die Lage der LGBT/IQ-Kinder eher im Hintergrund und ist in der Schweiz stark an Themen allgemeinerer Natur gebunden wie die Beibehaltung der Sexualerziehung in der Schule und die Frage, welche Rolle die Schule im Kampf gegen diese Arten von Diskriminierung spielt.
  • Dennoch, wer beruflich mit Kindern zu tun hat, muss sich der seelischen Not vieler junger LGBT/IQ bewusst sein, die sich angesichts der negativen Stereotypen in der Gesellschaft, im familiären Umfeld und in den Peergroups nur schwer harmonisch entwickeln können.

Diskriminierung der LGBT/IQ

Die Rechte von LGBT/IQ (Lesbisch, Gay/Schwul, Bisexuellen, Transgender, Intersexuellen und Questioning) werden weltweit kaum respektiert. Auch heute noch sind homosexuelle Beziehungen in über 80 Staaten verboten, in 9 Ländern werden sie sogar mit dem Tode bestraft. Kaum weniger überraschend ist die Tatsache, dass selbst in unserer westlichen Welt die Homosexualität als psychische Erkrankung erst in den 1980er- bzw. 1990er-Jahren aus den wichtigsten Klassifikationssystemen für psychiatrische Erkrankungen – Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders der American Psychiatric Association und International Classification of Diseases der Weltgesundheitsorganisation (WHO) – gestrichen wurde.

In jüngster Zeit vollzog sich jedoch eine rasante Entwicklung: In westlichen Staaten scheinen die Entscheide, die Homosexuellen-Ehe oder die Adoption durch gleichgeschlechtliche Paare zu ermöglichen, die Anerkennung des tiefgreifenden Wandels des Familienbegriffs zu fördern. Im Zuge der heftigen Debatten, die sich in Frankreich, Grossbritannien und andernorts ergaben, traten jedoch beunruhigende Fälle von Homophobie auf, die nach Ansicht von gemässigten Gesellschafts- und Politbeobachtenden, Menschenrechtsvertretern/-innen und der LGBT/IQ nur die sichtbare Spitze einer weit verbreiteten Diskriminierung sind.

Initiativen für den Rechtsschutz der LGBT/IQ

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung in Richtung einer grösseren Akzeptanz der vielen unterschiedlichen sexuellen Orientierungen und Geschlechtsidentitäten werden verschiedene Initiativen ergriffen, die auf einen besseren Rechtsschutz der LGBT/IQ abzielen. Im Juni 2011 hat der Menschenrechtsrat die Resolution 17/19 verabschiedet und von der UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte verlangt, eine Studie in Auftrag zu geben, welche die rechtliche und faktische Diskriminierung und Gewalt gegenüber Personen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität in allen Regionen der Welt untersucht. In dieser Studie soll weiter erforscht werden, wie das internationale Recht der Menschenrechte angewandt werden kann, um der Gewalt und den Menschenrechtsverletzungen gegenüber den LGBT/IQ ein Ende zu setzen. Der entsprechende Bericht vom 17. November 2011 schlägt einen 5-stufigen Aktionsplan vor. Dessen erster Schritt besteht darin, die Menschen vor homophober oder transphober Gewalt zu schützen. Zudem drängt er darauf, dass in der nationalen Gesetzgebung auch sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität als Merkmale aufgeführt werden, gegen die nicht zu Hass oder Diskriminierung aufgerufen werden darf.

Die Empfehlung CM/Rec(2010)5 über Massnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten des Europarates zielt in dieselbe Richtung. Obschon diese Empfehlungen auch an die Schweiz gerichtet sind, wird auf Bundesebene weiterhin eher zaghaft vorgegangen.

Die Schweiz weist die Empfehlungen des Menschenrechtsrats zurück

Von den Empfehlungen vom 29. Oktober 2012 der Mitgliedstaaten des UNO-Menschenrechtsrats, die anlässlich der kürzlich durchgeführten Universellen Periodischen Überprüfung an die Schweiz gerichtet wurden, lehnte die Schweiz am 15. März 2013 die Empfehlungen Nr. 123.49 (Kanada) und Nr. 123.76 (Norwegen) ab. Diese Empfehlungen wiesen auf das Fehlen von bundesrechtlichen Bestimmungen hin, welche die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität verbieten und vor allen Arten einer solchen Diskriminierung schützen.

Jüngste Entwicklungen in der Schweiz

Zur Erinnerung sei darauf hingewiesen, dass gemäss Art. 8 Abs. 2 der Schweizerischen Bundesverfassung niemand diskriminiert werden darf, „… namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung“; die sexuelle Orientierung und die Geschlechtsidentität werden hingegen nicht ausdrücklich genannt.

Zum grossen Glück wurde auf kantonaler Ebene proaktiver vorgegangen. Um eine Gesetzeslücke zu schliessen, die auf Bundesebene ganz offensichtlich besteht, hat der Genfer Grosse Rat am 22. Februar 2013 eine Resolution verabschiedet, die auf die Änderung der Bundesverfassung (Art. 8 Abs. 2 BV, die Aufnahme eines Verbots der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung) und der Strafnorm gegen Rassendiskriminierung (Art. 261bis StGB, Ergänzung der Homophobie als Straftatbestand) abzielt.

Was die Strafnorm betrifft, so hat der Walliser Nationalrat Matthias Reynard am 7. März 2013 die parlamentarische Initiative Nr. 13.407 eingereicht, welche vorschlägt, Artikel 261bis des Strafgesetzbuches dahingehend zu ergänzen, dass auch bestraft wird, wer öffentlich gegen eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer sexuellen Orientierung zu Hass oder Diskriminierung aufruft.

Weiter verbietet die Verfassung des Kantons Zürich in Artikel 11 jegliche Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und der Lebensform. Eine ähnliche Bestimmung findet sich in den Verfassungen des Kantons Basel-Stadt (Art. 8: sexuelle Orientierung) und des Kantons Genf (Art. 15: sexuelle Orientierung).

Zudem sei darauf hingewiesen, dass bei der nächsten Jugendsession im November 2013 erstmals das Thema Homophobie im Vordergrund stehen wird. Die Jugendlichen sind betroffen von der steigenden Zahl der Selbstmorde unter jungen Homosexuellen und davon, dass eine diskriminierende homophobe Haltung immer häufiger zu Mobbing in der Schule (school bullying) führt.

Die Situation der LGBT/IQ-Kinder

Genau diese Problematiken sollten auch an den beiden internationalen Kolloquien in Sitten mit einem interdisziplinären Ansatz untersucht werden: Mobbing unter Gleichaltrigen (2012) und das Recht des Kindes und des Jugendlichen auf seine sexuelle Orientierung und seine Geschlechtsidentität (2013), die beide vom Institut universitaire Kurt Bösch und dem Institut international des Droits de l’Enfant gemeinsam und in Zusammenarbeit mit dem Europarat organisiert wurden. Abgesehen vom rechtlichen Aspekt stehen Kinder und Jugendliche, bei denen sich eine nicht-heterosexuelle Orientierung abzeichnet oder deren Geschlechtsidentität nicht eindeutig ist, oft dem Unverständnis ihrer Familien und ihrer Peergroups sowie Diskriminierungen gegenüber, die von der Schule toleriert werden.

Zahlreiche Studien haben gezeigt, in welchem Masse dieser schwierige sozioaffektive Kontext für die LGBT/IQ-Kinder und –Jugendlichen ein Risikofaktor darstellt, denn ihre psychosoziale Anpassung ist oft beeinträchtigt oder gar tiefgreifend gestört. Es ist auch nicht übertrieben zu behaupten, dass die seelische Not dieser Jugendlichen dramatische Folgen hat. Eine dänische Studie (Gransell & Hansen, 2009, vom Europarat 2011 zitiert) ergab, dass Selbstmordversuche bei Homosexuellen doppelt so häufig sind wie bei Heterosexuellen, wobei 61% dieser Selbstmordversuche von Jugendlichen unter 20 Jahren und 6% von Kindern unter 12 Jahren begangen wurden (Moseng, 2006, vom Europarat 2011 zitiert).

Was sagt der Kinderrechtsausschuss dazu?

Was das supranationale Recht betrifft, so äussert sich die UNO-Kinderrechtskonvention (KRK) nicht explizit zu den LGBT/IQ-Kindern, sondern geht davon aus, dass insbesondere aufgrund des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung alle Rechte für alle Kinder gelten (Art. 2). Der Kinderrechtsausschuss empfiehlt den Vertragsstaaten nicht, hinsichtlich der LGBT/IQ-Kinder spezifische Gesetze zu erlassen, obgleich er dies Australien gegenüber getan hat (CRC/C/AUS/3-4,2012). Der Kinderrechtsausschuss legt zudem Art. 2 der KRK umfassend aus und anerkennt, dass LGBT-Kinder in besonderem Masse der Gewalt und der Diskriminierung ausgesetzt sind, wie dies in den beiden folgenden Allgemeinen Bemerkungen ausdrücklich festgehalten ist:

  • Paragraf 72 Bst. g der Allgemeinen Bemerkung Nr. 13 des Kinderrechtsausschusses zum Recht des Kindes auf Schutz vor Gewalt (2011): „Potentiell verletzliche Kinder: Die folgenden Gruppen von Kindern sind potenziell gefährdet, Gewalt ausgesetzt zu sein (die Liste ist nicht vollständig): (…) lesbische, homosexuelle, transgender und transsexuelle Kinder (…)“. Die Staaten sind verpflichtet, diese Kinder zu schützen und sich aktiv dafür einzusetzen, um diesen Kindern das Recht auf Schutz in gleichem Masse wie allen anderen Kindern zu garantieren.
  • Paragraf 8 der neuen Allgemeinen Bemerkung Nr. 15 des Kinderrechtsausschusses zum Recht des Kindes auf ein erreichbares Höchstmass an Gesundheit (Art. 24 KRK) verpflichtet die Vertragsstaaten, die Gesundheit der Kinder nicht aus diskriminierenden Gründen wie sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität zu gefährden.

Welche Schwerpunkte sind für die Schweiz zu setzen?

Die an den Kolloquien in Sitten geführten Diskussionen zeigten deutlich, dass selbst Fachleute, die mit Kindern arbeiten, nur sehr wenig über die Situation von LGBT/IQ-Kindern und über die Risikofaktoren wissen, die mit ihrer nicht den herkömmlichen Konventionen entsprechenden sexuellen Orientierung und/oder Geschlechtsidentität verbunden sind. Es scheint, dass bedeutende Anstrengungen zwecks Information (insbesondere hinsichtlich der Grundsätze von Yogyakarta aus dem Jahr 2007, sowie eine Reihe von Grundsätzen zur Umsetzung des internationalen Rechts der Menschenrechte betreffend die sexuelle Orientierung und die Geschlechtsidentität zum Schutze der LGBT und der Intersexuellen vor Diskriminierung) und Ausbildung dieser Fachleute erforderlich sind, insbesondere um sie für die manchmal dramatischen Reaktionen, welchen diese Kinder bei einem Coming-out gegenüberstehen, sowie für die seelische Not zu sensibilisieren, die diese erleben, wenn sie ein wesentliches Element ihrer menschlichen Natur geheim halten müssen.

Es scheint daher angemessen, in den Schulen Präventionsmassnahmen gegen Homophobie durchzuführen, zumindest gegen Ende der Primarstufe und verstärkt während der Adoleszenz. Das politische Klima rund um das Thema Schule und Sexualunterreicht lässt jedoch befürchten, dass dies wohl in gewissen Kantonen nur über den Weg von zwingenden gesetzlichen Anordnungen möglich sein wird.

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