Studien & Gutachten
Der strafrechtliche Schutz vor Antisemitismus in der Schweiz
Auszug aus einer SKMR-Studie
Abstract
Zur rechtlichen Situation der jüdischen Gemeinschaft in der Schweiz und zur Umsetzung der Erklärung des OSZE-Ministerrates gegen Antisemitismus.
Das Wichtigste in Kürze
- Eine Erklärung des OSZE-Ministerrates vom Dezember 2014 fordert die Staaten auf, ihre Bemühungen zur Bekämpfung des Antisemitismus zu verstärken.
- Auch in der Schweiz sind antisemitische Haltungen und Äusserungen weiterhin verbreitet. Eine Zunahme antisemitischer Äusserungen konnte insbesondere während des Gazakrieges im Sommer 2014 festgestellt werden.
- Art. 261bis StGB ist ein wichtiges Instrument zur Prävention und Ahndung antisemitischer Äusserungen.
- Die Leugnung des Holocaust bleibt in der Schweiz auch nach dem Urteil der Grossen Kammer des EGMR im Fall Perinçek strafbar. Die Verneinung eines armenischen Genozids kann hingegen – anders als im Fall der Holocaustleugner, wo sich gemäss EGMR aus Geschichte und Kontext eine innere Verbindung zum Antisemitismus ergebe - nicht per se mit Rassenhass oder einem Aufruf zu Rassenhass gleichgesetzt werden.
- Art. 261bis StGB erfasst das internationale Konzept der Hassverbrechen nur unvollständig. Ohne Tatbestand, der es erlauben würde, Straftaten besonders zu verfolgen und verschärft zu sanktionieren, die aus rassistischen Motiven heraus begangen werden, kann die Schweiz der Aufforderung der OSZE, Hassverbrechen besser zu bekämpfen, nicht konsequent nachkommen.
Die Erklärung des OSZE-Ministerrates gegen Antisemitismus vom 4. Dezember 2014
Unter dem Eindruck einer Häufung antisemitischer Vorfälle in den vergangenen Jahren und gleichzeitig aufbauend auf früheren Initiativen gegen Rassismus und Diskriminierung hat der Ministerrat der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) unter dem Vorsitz der Schweiz am 4. Dezember 2014 eine Erklärung verabschiedet, mit welcher die Staaten aufgefordert werden, ihre Bemühungen im Kampf gegen den Antisemitismus zu verstärken. Politikerinnen und Politiker werden dazu ermutigt, bei antisemitischen Vorfällen entschieden Stellung zu beziehen. Ausserdem bezweckt die OSZE-Erklärung, dass Bildungsprogramme zur Bekämpfung des Antisemitismus gefördert, der Kampf gegen Hassverbrechen verstärkt, antisemitische motivierte Gewalttaten strafrechtlich verfolgt und der Dialog zwischen den Religionsgemeinschaften erleichtert werden.
Die Schweiz hat während ihres OSZE-Vorsitzes ein Verfahren der Selbstevaluation erarbeitet und durchgeführt, um die Glaubwürdigkeit der OSZE namentlich im Bereich der menschlichen Dimension zu erhöhen. Im Sinne einer fortlaufenden Selbstevaluation hat der Bund das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) beauftragt, auch die Umsetzung der Erklärung zur Bekämpfung des Antisemitismus von 2014 in der Schweiz zu untersuchen und auf allfälligen Handlungsbedarf hinzuweisen. Die Studie, die das SKMR zu diesem Zweck verfasst hat, beleuchtet gleichzeitig die rechtliche Situation der jüdischen Gemeinschaft in der Schweiz als Ganzes; namentlich erläutert sie die gesetzlichen Grundlagen und die Rechtsprechung zu ihrem Schutz und weist auf allfällige Schutzlücken hin. Sie dient als Grundlage für die „Tagung zur Situation der jüdischen Minderheit in der Schweiz“, welche die Direktion für Völkerrecht (EDA) und die Fachstelle für Rassismusbekämpfung (EDI) am 1. Dezember 2015 durchführen werden.
Im Folgenden werden zwei Themen der Studie aufgegriffen: Der Kampf der Schweiz gegen Hassverbrechen und die Besonderheiten, die sich dabei aus den Regelungen des schweizerischen Strafgesetzbuches ergeben, sowie die möglichen Auswirkungen des Perinçeks-Urteils gegen die Schweiz, das die grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) am 15. Oktober 2015 gefällt hat, auf die Ahndung der Leugnung von Genoziden.
Die Ahndung von Hassverbrechen in der Schweiz
Die OSZE-Definition von Hassverbrechen
Eine antisemitisch motivierte Gewalttat kann aus strafrechtlicher Sicht als Hassverbrechen qualifiziert werden. Ein Hassverbrechen (hate crime) liegt gemäss der Definition der OSZE dann vor, wenn eine Straftat durch Intoleranz gegen eine bestimmte Gruppe motiviert wird. Bei der Tat muss es sich also erstens nach anwendbarem Strafrecht um eine Straftat gegen Personen oder deren Eigentum handeln (sog. Basisverbrechen oder base offence). Zweitens muss die Tat in der Abneigung gegenüber einer Gruppe von Menschen gründen, die bestimmte, eng mit ihrer Person verbundene und besonders geschützte Merkmale aufweisen, z.B. einer bestimmten Rasse oder Religionsgemeinschaft angehören, eine bestimmte Sprache sprechen oder eine bestimmte sexuelle Orientierung haben (bias). Liegt ein solches Hassmotiv vor, soll dies zu einer Verschärfung der Strafe führen, die für das Basisverbrechen normalerweise vorgesehen ist. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass sich eine Straftat, die aus einem rassistischen oder diskriminierenden Motiv begangen wird, nicht nur gegen das (möglicherweise zufällig ausgewählte) Opfer richtet, sondern auch gegen die Gruppe, der dieses Opfer angehört oder für die es sich einsetzt. Fehlt es an der Erfüllung eines Straftatbestands, so liegt auch kein hate crime vor.
Die Erfassung von Hassverbrechen durch das Schweizerische Strafrecht
Das schweizerische Strafrecht entspricht nicht diesem internationalen Konzept der hate crimes. Es kennt kein qualifizierendes Straftatbestandsmerkmal, das beliebige Straftaten, die aus einem rassistischen Motiv heraus begangen werden, zu einem hate crime machen würde, das speziell untersucht, erfasst, geahndet und strenger sanktioniert würde. Zwar ist es Strafgerichten durchaus möglich, anitsemitischen Motiven bei der Strafzumessung Rechnung zu tragen (namentlich bei der Einschätzung des Verschuldens des Täters und bei der Konkurrenz von Straftaten), doch enthält das Strafgesetzbuch (StGB) diesbezüglich keine ausdrückliche und bindende Regelung.
Der Begriff des Hassverbrechens wird in der Schweiz zumeist – und ausschliesslich – mit dem besonderen Straftatbestand der Rassendiskriminierung (Art. 261bis StGB) gleichgesetzt. Hassverbrechen gelten demnach nicht als qualifizierte „normale“ Straftaten, sondern als eigenständiger Straftatbestand, der bestimmte Formen des Rassismus ahndet.
Das StGB stellt auch Äusserungen unter Strafe, die ausschliesslich die bias, also das diskriminierende oder herabsetzende Motiv, aufweisen, und welche ohne dieses Motiv mangels einer base offence keinen Straftatbestand erfüllen würden. Deshalb wären solche Äusserungen nach internationaler Begrifflichkeit nicht als Hassverbrechen einzustufen.
Gleichzeitig ist der Tatbestand der Rassendiskriminierung aber auch viel enger. Er schützt nur bestimmte Personen und Personengruppen, erfasst nur bestimmte Arten rassistischer Meinungsäusserungen und bedroht auch diese nur mit Strafe, wenn sie in der Öffentlichkeit erfolgen und auf die Verbreitung einer rassistischen oder menschenverachtenden Ideologie zielen.
Schwierige Strafverfolgung von antisemitischen Äusserungen auf dem Internet
Im Hinblick auf die Bekämpfung des Antisemitismus in der Schweiz hat insbesondere das Erfordernis der Öffentlichkeit im Rahmen von Art. 261bis StGB zur Folge, dass die Ahndung antisemitischer Vorfälle im Internet erschwert ist. Zwar ist es in den letzten Jahren verschiedentlich zu strafrechtlichen Untersuchungen und Verurteilungen wegen Straftaten gekommen, die in den sozialen Medien, namentlich auf Facebook, begangen wurden. Doch ist nicht in allen Fällen ohne weiteres klar, ob sich eine Meinungsäusserung im privaten Raum des persönlichen Familien- und Freundeskreises bewegt oder als öffentlich zu qualifizieren ist. Dazu kommt, dass die kantonalen und kommunalen Zuständigkeiten im kriminalpolizeilichen Bereich zwar den Vorteil haben, dass die zuständigen Behörden mit dem Umfeld von Opfern und Tätern vertraut sind und rasch auf Gefahren reagieren können. Jedoch erschweren diese Zuständigkeiten zugleich die Strafverfolgung, wenn die Tat im virtuellen Raum des Internets geschieht und sich weder Opfer noch Täter leicht lokalisieren lassen.
Genozidleugnung oder legitime Ausübung der Meinungsäusserungsfreiheit?
Der Schutz vor rassistischen, namentlich antisemitischen Äusserungen steht in einem Spannungsfeld zur Meinungsäusserungsfreiheit, unter die grundsätzlich auch provokative und schockierende Äusserungen fallen. Gemäss der Rechtsprechung des EGMR sind die Staaten daher gleichzeitig verpflichtet, die freie Meinungsäusserung möglichst weitgehend zu schützen, aber Reden zu verbieten, die zu rassischem oder religiösem Hass anstacheln. Das Perinçek-Urteil vom 15. Oktober 2015 gegen die Schweiz scheint die Grenze nun eher in Richtung Meinungsäusserungsfreiheit zu verschieben.
Der Gerichtshof hatte in der Vergangenheit mehrere Beschwerden als unzulässig zurückgewiesen, mittels derer gerügt wurde, nationale Verbote der Holocaustleugnung verstiessen gegen die Meinungsäusserungsfreiheit. In zwei Fällen ist der EGMR sogar davon ausgegangen, dass die Berufung auf die Meinungsäusserungsfreiheit missbräuchlich erfolgt sei und daher gemäss Art. 17 EMRK keinen Schutz verdiene. So erklärte er etwa in einem Entscheid aus dem Jahre 2005, dass die Holocaustleugnung einer Rehabilitation des nationalsozialistischen Regimes und einer Ablehnung von Demokratie und Menschenrechten gleichkomme. Selbst wenn sie - wie in casu - in einem privaten Brief erfolge, sei sie folglich als Missbrauch der Meinungsäusserungsfreiheit zu qualifizieren (EGMR, Witzsch gg. Deutschland, Unzulässigkeitsentscheid vom 13. Dezember 2005).
Das Urteil der Grossen Kammer im Fall Perinçek
Im Fall Perinçek gegen die Schweiz stellte die zweite Abteilung des EGMR 2013 klar, dass die Schranken der Meinungsfreiheit grundsätzlich eng zu verstehen seien und die Leugnung eines Genozids oder anderer Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht unbesehen, namentlich nicht unabhängig vom Kontext, strafrechtlich geahndet werden könne. Sie hiess in der Folge eine Beschwerde gegen die Schweiz gut, die einen türkischen Staatsangehörigen, der den Genozid an den Armeniern als internationale Lüge bezeichnet hatte, wegen Verletzung der Antirassismusnorm verurteilt hatte. In Bezug auf den Genozid an den Armeniern im Jahre 1915 bestehe kein allgemeiner Konsens, der mit jenem des Holocaust vergleichbar sei, weshalb seine Leugnung, wenn sie nicht mit Aufrufen zu Hass und Gewalt verbunden sei, zulässig sein müsse.
Am 15. Oktober 2015 bestätigte die Grosse Kammer den Entscheid gegen die Schweiz. Die grosse Kammer betonte, der Beschwerdeführer habe lediglich die Qualifikation der Massaker als Genozid bestritten, gegenüber den armenischen Opfern aber weder Hass noch Verachtung gezeigt, sondern behauptet, diese seien, wie auch die Türken, Opfer imperialistischer Machenschaften geworden. Anders als im Fall der Holocaustleugner, wo sich aus Geschichte und Kontext eine innere Verbindung zum Antisemitismus ergebe, könne die Verneinung eines armenischen Genozids auch nicht per se mit Rassenhass oder einem Aufruf zu Rassenhass gleichgesetzt werden.
Die Auswirkungen des Perinçeks-Urteil auf die Ahndung von Genozidleugnungen in der Schweiz
Die unmittelbaren Auswirkungen des Perinçek-Urteils bestehen darin, dass die Schweiz, falls es zu einem Revisionsverfahren kommt, die strafrechtliche Verurteilung Perinçeks wird aufheben müssen. Die Auswirkungen auf die Antirassismusnorm als solche bedürfen wohl weiterer Abklärungen. Wenn überhaupt, ist einzig Art. 261bis Abs. 4 StGB in Frage gestellt, wonach strafbar ist, wer öffentlich und aus dem Grund, eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion in einer gegen die Menschenwürde verstossenden Weise herabzusetzen oder zu diskriminieren, „Völkermord oder andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit leugnet, gröblich verharmlost oder zu rechtfertigen sucht“.
Kaum etwas im Urteil der Abteilung oder der Grossen Kammer weist jedoch darauf hin, dass diese Norm – wie in ersten Stellungnahmen teilweise angedeutet – an sich im Widerspruch zur EMRK stehen würde. Vielmehr scheint ihre EMRK-konforme Anwendung relativ leicht zu bewerkstelligen zu sein, wenn entweder (noch) höhere Anforderungen an den allgemeinen Konsens gestellt werden, der verlangt wird, um bestimmte Handlungen – für die Belange des Strafrechts – als Genozid zu qualifizieren, oder wenn strengere Voraussetzungen an das Motiv der Leugnung gestellt werden und die Strafbarkeit erst eintritt, wenn die Person, die einen Genozid leugnet oder verharmlost, dies mit der Absicht tut, Personen oder Personengruppen in ihrer Menschenwürde zu verletzen, zu diskriminieren oder zu Hass auszurufen (und nicht etwa, um die eigene Personengruppe oder die eigenen Vorfahren in ein besseres Licht zu rücken oder Dritten eine (Mit)Schuld an den Gewalttaten zuzuweisen, etc.).
Schlussbemerkungen
Gewalttätige Übergriffe gegen Jüdinnen und Juden sind in der Schweiz zum Glück selten. Dagegen sind antisemitische Haltungen und Äusserungen verbreitet, die zwar unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit liegen, aber auf negativen Stereotypen und Vorurteilen beruhen oder solche zum Ausdruck bringen. Es wird insbesondere von einer Zunahme von Vorfällen im Internet ausgegangen, wo es, namentlich zur Zeit des Gazakrieges im Sommer 2014, zu zahlreichen antisemitischen Äusserungen gekommen ist. Während Kritik am Staat Israel, wie Kritik an jedem anderen Staat, grundsätzlich legitim ist und nicht mit Judenfeindlichkeit oder Antisemitismus gleichgesetzt werden kann, so muss die Kritik als rassistisch gelten, wenn sie als Vorwand dazu dient, antisemitische Haltungen zum Ausdruck zu bringen, wenn sie Angehörige der jüdischen Gemeinschaft mit dem Staat Israel gleichgesetzt, diese für das Verhalten des Staats verantwortlich macht, pauschale Urteile über das Judentum fällt, negative Stereotypen kolportiert oder Feindbilder beschwört.
Art. 261bis StGB stellt zwar ein wichtiges Instrument dar, um antisemitische Äusserungen zu bekämpfen. So bleibt insbesondere die Holocaustleugnung auch nach dem Perinçek-Urteil in der Schweiz strafbar. Es ist aber nicht zu übersehen, dass der Schweiz weiterhin ein strafrechtlicher Tatbestand fehlt, der es erlauben würde, Straftaten besonders zu verfolgen und verschärft zu sanktionieren, die aus rassistischen Motiven heraus begangen werden. Solange es an einem solchen Tatbestand fehlt, kann die Schweiz der Aufforderung der OSZE, Hassverbrechen besser zu bekämpfen, nicht konsequent nachkommen.
Die Bekämpfung von Rassendiskriminierung und die strafrechtliche Erfassung und Ahndung antisemitisch motivierter Straftaten und Äusserungen machen jedoch nur einen Teil der möglichen Massnahmen gegen Antisemitismus aus. Denn als antisemitisch gelten namentlich auch feindselige Überzeugungen, Vorurteile, Stereotype, die sich – deutlich oder auch diffus – in Kultur, Gesellschaft und in Einzelhandlungen zeigen und die darauf zielen, die jüdische Gruppe von der eigenen abzusetzen oder jüdische Personen oder Institutionen herabzusetzen oder zu benachteiligen. Um diese wirksam zu bekämpfen, muss die Schweiz ihre Bemühungen zur Sensibilisierung der Bevölkerung und der Förderung des Dialogs zwischen den Religionsgemeinschaften weiterführen.