Artikel

Umsetzung der Istanbul-Konvention in der Schweiz

Aktuelle Problemstellungen im Migrationsbereich

Abstract

Die Istanbul-Konvention ist in der Schweiz seit dem 1. April 2018 in Kraft. Das internationale Abkommen soll Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt bekämpfen – unabhängig von der Herkunft oder dem Aufenthaltsstatus der Opfer. Die Umsetzung der Konvention wirft deshalb gerade im Migrationsbereich Fragen auf.

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Autorin: Anne-Laurence Graf

Publiziert am 04.10.2018

Die Schweiz muss sicherstellen, dass die Istanbul-Konvention ohne Diskriminierung – insbesondere aufgrund der nationalen Herkunft oder des Migranten- oder Flüchtlingsstatus – umgesetzt wird (Art. 4, Abs. 3). In der Schweiz führt dies unter anderem zu folgenden Unklarheiten:

  • Wird Flüchtlingsfrauen, die während der Flucht oder in ihrem Heimatland Opfer sexueller Gewalttaten und Ausbeutung geworden sind, in der Schweiz ausreichend Unterstützung gewährt, wenn man berücksichtigt, dass ihnen die Opferberatungsstellen nur dann offenstehen, wenn die Taten in der Schweiz begangen wurden?
  • Gibt es ausreichende geschlechtersensible Massnahmen zur Unterbringung von asylsuchenden Frauen und Mädchen, um diesen Schutz vor Gewalt zu bieten?

Diese Fragen wurden breits im Nationalrat debattiert (vgl. Postulat Feri 16.3407, "Analyse der Situation von Flüchtlingsfrauen"). Nachfolgend werden die wesentlichen Bestimmungen der Istanbul-Konvention aufgeführt und in Bezug zum schweizerischen Umfeld gesetzt.

Zugang zu Hilfsdiensten im Falle von Gewalt

Gemäss der Istanbul-Konvention müssen alle Frauen und Mädchen, die Opfer von geschlechtsspezifischer (einschliesslich häuslicher) Gewalt sind, ohne Unterscheidung aufgrund der Nationalität, des Flüchtlings- bzw. Migrantenstatus Zugang zu Hilfsdiensten haben, die ihnen Schutz bieten und ihre Genesung erleichtern.

  • Der Zugang zu Hilfsdiensten, die auf Opferhilfe spezialisiert sind, muss unverzüglich sichergestellt werden (Art. 22). Insbesondere ist gemäss dem erläuternden Bericht zum Übereinkommen die lang- und kurzfristige Hilfe in Form von medizinischer Hilfe, psychologischer und juristischer Beratung sowie einer sicheren Unterbringung (Schutzunterkünfte, Art. 23) bereitzustellen.
  • Der Zugang zu allgemeinen Hilfsdiensten, also solchen, die allen – und nicht nur Gewaltopfern – offenstehen, muss ebenfalls gewährleistet sein; dabei geht es um Dienste, die beispielsweise rechtliche und psychologische Beratung, finanzielle Unterstützung, Unterkunft, Ausbildung sowie Unterstützung bei der Arbeitssuche bieten (Art. 20, Abs. 1). Der Zugang zu Gesundheits- und Sozialdiensten muss ebenfalls sichergestellt sein. Diese Dienste müssen über ausreichende Mittel sowie über Personal verfügen, das hinsichtlich der geschlechtsspezifischen Gewalt und ihren verschiedenen Aspekten geschult wird, um die Opfer zu unterstützen und sie an die geeigneten Stellen zu verweisen (Art. 20, Abs. 2). Was den Zugang zu den Gesundheitsdiensten betrifft, so beharrt die Istanbul-Konvention eigentlich nur auf einer Pflicht, die im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UNO-Pakt I) festgehalten ist, und bezieht diese insbesondere auf die Migrantinnen und Migranten und die Menschen im Asylbereich sowie auf die geschlechtsspezifischen Erfordernisse (vgl. das Statement über die Pflichten der Staaten gegenüber den Flüchtlingen und den Migrantinnen und Migranten im Sinne des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie des General Comment Nr. 14 zum Recht auf den bestmöglichen Gesundheitsstandard [«The right to the highest attainable standard of health»] des UNO-Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte).
  • Weiter müssen nach Art. 60 Abs. 3 des Übereinkommens Hilfsdienste für Asylsuchende eingerichtet werden. Gemäss dem erläuternden Bericht zum Übereinkommen geht es darum, den Asylsuchenden eine geschlechtersensible Unterstützung zu bieten, die ihren besonderen Bedürfnissen entspricht. Tatsächlich haben viele Asylsuchende während der Flucht oder in ihrem Heimatland traumatisierende Ereignisse und Gewalt erlebt. Der erläuternde Bericht zum Übereinkommen schlägt daher vor, dass die Staaten für Traumaüberlebende psychosoziale Hilfe oder zusätzliche Beratungsdienste sowie medizinische Betreuung einrichten. Diese Hilfsdienste sollen die weiblichen Opfer von Gewalt, insbesondere sexueller Gewalt, befähigen, selbständig zu werden und sich aktiv eine Zukunft aufzubauen.

In der Schweiz ist die Hilfe für Gewaltopfer hauptsächlich im Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von Straftaten (OHG) vom 23. März 2007 geregelt. Allerdings kennt dieses Gesetz einen örtlichen Geltungsbereich: Hilfsmassnahmen bzw. Kostenbeiträge für Hilfe werden nur gewährt, wenn die Straftat in der Schweiz begangen worden ist (Art. 3 OHG) oder das Opfer im Zeitpunkt der Straftat Wohnsitz in der Schweiz hatte (Art. 17 OHG). Mit anderen Worten, Gewalttaten, welche die Migrantinnen, Flüchtlingsfrauen, provisorisch aufgenommenen oder abgewiesenen Asylsuchenden während der Flucht oder in ihren Heimatländern erlitten haben, berechtigen nicht zur Inanspruchnahme der Opferhilfe nach OHG. In diesen Fällen müsste die Kostenübernahme für diese Hilfsdienste (einschliesslich der oft erforderlichen Dolmetscherdienstleistungen) – sofern sie nicht von der obligatorischen Krankenversicherung gedeckt sind – bei den in Bundeszentren untergebrachten Asylsuchenden vom Bund und bei allen anderen von den Kantonen sichergestellt werden, da diese für deren Sozialhilfe zuständig sind. Es fragt sich allerdings, wie diese Kostenübernahme vom Bund bzw. den Kantonen konkret organisiert ist und ob rechtliche oder praktische Hindernisse den Gewaltopfern den Zugang zu den Hilfsdiensten erschweren oder verunmöglichen.

Konzept zum Schutz vor Gewalt in den Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende

Die Istanbul-Konvention fordert in Art. 60 Abs. 3, dass die Vertragsstaaten ein «geschlechtersensibles Aufnahmeverfahren» für Asylsuchende anwenden. Gemäss dem erläuternden Bericht zum Übereinkommen sollen bei der Ausarbeitung der Standards zur Aufnahme von Asylsuchenden die besonderen Schutzbedürfnisse ("specific protection needs") nach Geschlecht (sprich: die Schutzbedürfnisse der Frauen) berücksichtigt werden. Mit anderen Worten, das Betreuungs- und Unterbringungskonzept in den Erstaufnahmezentren muss das Recht der Bewohnerinnen auf Sicherheit garantieren.

Der erläuternde Bericht zum Übereinkommen liefert eine Liste mit guten Verfahrenspraktiken für die geschlechtersensible Aufnahme, die sich bereits in anderen Ländern bewährt haben:

  • möglichst frühe Erkennung der von Gewalt betroffenen Frauen in den Asylverfahren;
  • getrennte Unterbringung von ledigen Frauen und Männern;
  • getrennte Toiletten oder mindestens festgelegte Zeitpläne, wann die Frauen und wann die Männer die Toiletten benützen dürfen;
  • Zimmer, die von ihren Bewohnerinnen und Bewohnern abgeschlossen werden können;
  • ausreichende Beleuchtung überall im Empfangszentrum;
  • Schutz, der durch Wachen, einschliesslich weiblicher Wachen, sichergestellt wird, die hinsichtlich der geschlechterspezifischen Bedürfnisse ausgebildet wurden;
  • Ausbildung der Angestellten des Empfangszentrums;
  • Verhaltenskodex (auch für private Dienstleister);
  • formelle Bestimmungen für die Intervention bei und den Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt;
  • Information der Frauen und Mädchen über die geschlechtsspezifische Gewalt und die verfügbaren Hilfsdienste.

Da es sich um Beispiele der guten Praxis handelt, stellen diese Empfehlungen keine rechtsverbindlichen Verpflichtungen dar, welche die Vertragsstaaten unbedingt erfüllen müssen. Das geschlechtersensible Aufnahmeverfahren ist hingegen Pflicht.

In der Schweiz besteht auf zwei Ebenen die Pflicht, ein geschlechtersensibles Aufnahmeverfahren anzuwenden, nämlich beim Empfang der Asylsuchenden in einem Bundeszentrum (maximale Aufenthaltsdauer 90 Tage, ab 1. März 2019 140 Tage) sowie bei der Aufnahme der Asylsuchenden im Kanton, dem sie zugeteilt wurden. Je nach Kanton und Situation (kleine, mittlere oder grosse Kollektivunterkünfte, die von Organisationen des öffentlichen Rechts oder von privaten Dienstleistern betrieben werden, oder Unterbringung in Privatwohnungen) sind die Aufnahmebedingungen unterschiedlich. Das bedeutet, in der Schweiz gibt es nicht nur ein geschlechtersensibles Aufnahmeverfahren, sondern es gibt mehrere – oder es sollte sie zumindest geben.

Ein geschlechtersensibles Aufnahmeverfahren in den Bundeszentren oder kantonalen Kollektivunterkünften kann mehrere Formen annehmen. Es kann rechtsverbindlichen Bestimmungen unterworfen sein, die in einem Gesetz, einer Verordnung oder in Richtlinien festgelegt sind. Für die Bundeszentren schreibt beispielsweise die derzeit geltende Verordnung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) über den Betrieb von Unterkünften des Bundes im Asylbereich vom 24. November 2007 in Art. 4 Abs. 1 hinsichtlich der Unterbringung Folgendes vor: "Die Asylsuchenden und Schutzbedürftigen werden in nach Geschlecht getrennten Schlafräumen untergebracht. Den besonderen Bedürfnissen von Kindern, Familien und betreuungsbedürftigen Personen ist bei der Unterbringung nach Möglichkeit Rechnung zu tragen." Zudem ist in Abs. 2 von Art. 3, der die Abnahme von Gegenständen regelt, festgehalten, dass Asylsuchende nur von Personen gleichen Geschlechts durchsucht werden dürfen.

Im Dienstleistungsvertrag, der zwischen der Behörde und dem privaten Dienstleister bzw. der öffentlich-rechtlichen Organisation abgeschlossen wird, können ein Konzept zum Schutz vor Gewalt oder Bestimmungen betreffend die geschlechtersensible Unterbringung und Betreuung enthalten sein.

Schliesslich können auch Handlungsgrundsätze oder Leitlinien eine Rolle spielen, die nicht unbedingt rechtsverbindlich sind, die faktisch jedoch Anwendung finden, insbesondere weil sie zum Inhalt der Ausbildung gehören, die dem Betreuungspersonal der Unterkünfte erteilt wird. Zur Erfüllung der von der Istanbul-Konvention auferlegten Pflicht, bei der Aufnahme von Asylsuchenden ein geschlechtersensibles Verfahren anzuwenden, sind im Prinzip aber nur die rechtsverbindlichen Bestimmungen massgebend.

Es stellt sich nur noch die Frage, ob in Bezug auf die Unterbringung von Asylsuchenden und anderen Personen im Asylbereich auf Bundes- ebenso wie auf Kantonsebene ein solches Konzept zum Schutz vor Gewalt existiert. Der Bericht des Bundesrats in Erfüllung des Postulats Feri sollte auch zu diesem Punkt einige Antworten geben.

Schlussfolgerung

Die Istanbul-Konvention gilt für alle von geschlechtsspezifischer oder häuslicher Gewalt betroffenen Frauen und Mädchen, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus in der Schweiz. Das Postulat Feri (16.3407) wirft in Bezug auf den Zugang zu Hilfsdiensten sowie in Bezug auf das bzw. die Konzepte gegen die Gewalt in den Gemeinschaftsunterkünften für Asylsuchende relevante Fragen auf, auf die der 2019 erwartete Bericht des Bundesrats konkrete Antworten geben sollte.

Die Istanbul-Konvention: ein Rechtsinstrument zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt

Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, abgeschlossen in Istanbul am 11. Mai 2011 ("Istanbul-Konvention"), für die Schweiz in Kraft getreten am 1. April 2018. Es handelt sich dabei um ein regionales Rechtsinstrument, dessen Reichweite jedoch insofern über den Bereich des Europarats hinausgeht, als das Übereinkommen zum einen auch Nichtmitgliedsstaaten des Europarats zum Beitritt offensteht und es zum anderen zur Entwicklung internationaler Rechtsnormen im Bereich Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt beiträgt.

Die Istanbul-Konvention enthält rechtliche Verpflichtungen für die Vertragsstaaten, die vier Aspekte betreffen: die Prävention von Gewalt gegen Frauen, einschliesslich häuslicher Gewalt, den Opferschutz, die Strafverfolgung der Täterinnen und Täter sowie die zwischenstaatliche Zusammenarbeit.

Der Allgemeinen Empfehlung Nr. 19 des Ausschusses gegen Frauendiskriminierung (Committee on the Elimination of the Discrimination against Women – CEDAW) folgend betrachtet die Istanbul-Konvention Gewalt gegen Frauen als eine Form der geschlechtsspezifischen Diskriminierung (Art. 3, Bst. a Istanbul-Konvention). Das Übereinkommen unterstreicht, dass häusliche Gewalt die Frauen unverhältnismässig stärker betrifft als die Männer (Art. 2, Abs. 1). Allerdings gilt die Istanbul-Konvention nicht ausschliesslich für von Gewalttaten und häuslicher Gewalt betroffene Frauen und Mädchen, den Vertragsstaaten steht es frei – ja sie werden sogar dazu ermutigt – das Übereinkommen auf alle Opfer häuslicher Gewalt anzuwenden, auf Männer und Knaben also ebenso wie auf die Opfer weiblichen Geschlechts (Art. 2, Abs. 2). Unter Handlungen geschlechtsspezifischer Gewalt versteht die Istanbul-Konvention nicht nur sexuelle Gewalt, insbesondere Vergewaltigung, sondern auch Belästigungen wie das Stalking oder sexuelle Belästigung sowie Handlungen psychischer, körperlicher, sexueller oder wirtschaftlicher Gewalt, Zwangsheirat, weibliche Genitalverstümmelung und erzwungene Abtreibung oder Sterilisation.

Materialien

Erläuternder Bericht zur Istanbul-Konvention (Europarat, in Englisch)

Botschaft zur Genehmigung des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) vom 2. Dezember 2016, BBl 2017 185–278.

Die Istanbul-Konvention und deren Umsetzung, eine Webseite des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann

Karine Lempen / Anita Marfurt / Sophie Heegaard-Schroeter, La Convention d’Istanbul: tour d’horizon, in: Jusletter 7. September 2015 (nur für Abonnentinnen und Abonnenten)

Zu den Problemen im Zusammenhang mit der Umsetzung der Istanbul-Konvention in verschiedenen Ländern siehe für die Schweiz die Internet-Plattform Istanbulkonvention.ch, die von einem Netzwerk von in der Schweiz ansässiger NGO bereitgestellt wird; für Deutschland siehe Heike Rabe/Britta Leisering, Analyse. Die Istanbul-Konvention, neue Impulse für die Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt, Deutsches Institut für Menschenrechte, 2018 (siehe insbesondere das Kapitel 4.2 «Flüchtlingsfrauen); für Belgien siehe Sophie Forrez, La Convention d’Istanbul, un nouvel instrument de la lutte contre la violence à l’égard des femmes, impact sur le droit belge, impact sur le terrain, Intact, März 2017 (siehe insbesondere das Kapitel «Normes minimales en matière d’asile et de migration», S. 9f.).

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