Artikel

Spezialstrafnorm gegen sexuelle Verstümmelung

Problematisches Weltrechtsprinzip in die Gesetzesvorlage integriert

Abstract

Autorinnen: Christina Hausammann, Dina Bader

Publiziert am 06.07.2011

Bedeutung für die Praxis

  • Die neue Strafnorm dient dem Schutz von Mädchen und Frauen, die sexuelle Verstümmelung erleiden, unabhängig davon, wo die Tat begangen wurde.
  • Täter/innen und Eltern als mögliche Mittäter werden auch bestraft, wenn die Verstümmelung vor der Einreise in die Schweiz erfolgte. Dies gilt auch für Fälle aus Ländern, in welchen sexuelle Verstümmelungen strafrechtlich nicht verboten sind, was Fragen der Vereinbarkeit mit Art. 7 EMRK aufwirft.
  • Flüchtlinge, welche mit beschnittenen Töchtern in die Schweiz einreisen, können wegen Asylunwürdigkeit kein Asyl erhalten und müssen gemäss Art. 121 Abs. 3-6 BV (Ausschaffungsinitiative) ausgeschafft werden.
  • Offen bleibt die Bedeutung der Strafnorm für Geschlechtsanpassungen.
  • Stand des Geschäfts: zurück zum Nationalrat für Differenzbereinigung

Nach dem Nationalrat hat in der Sommersession auch der Ständerat Änderungen im Strafgesetz zugestimmt, mit denen sexuelle Verstümmelung besser geahndet werden soll. Bevor die Vorlage verabschiedet werden kann, ist nun noch eine kleine Differenz zum Nationalrat auszuräumen.

Zum Inhalt der neuen Strafnorm

Sexuelle Verstümmelung stellt eine schwerwiegende Verletzung der Integrität und der Würde der betroffenen Mädchen und Frauen dar. Seit Jahren verlangen die verschiedensten Menschenrechtsgremien ein Verbot dieser Praktiken. Mit der Gesetzesänderung, die auf die parlamentarische Initiative von Maria Roth-Bernasconi aus dem Jahr 2005 zurückgeht, wird in diesem Sinne nun neu eine Spezialnorm «Verstümmelung weiblicher Genitalien» in das Strafgesetz in Art. 124 StGB eingefügt. Die Bestimmung - in der Fassung des Ständerates - lautet:

  1. Wer die Genitalien einer weiblichen Person verstümmelt, in ihrer natürlichen Funktion erheblich und dauerhaft beeinträchtigt oder in anderer Weise schädigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe nicht unter 180 Tagessätzen bestraft.

Die Strafdrohung lehnt sich an die Bestimmung über die schwere Körperverletzung an, was auch bedeutet, dass Genitalverstümmelungen in jedem Fall als Offizialdelikte gelten. Bestraft werden nicht nur Personen, welche die Verstümmelung vornehmen, sondern als Mittäter und Anstifter z.B. auch die Eltern (BBl 2010 5657).

Art. 124 Abs. 2 E-StGB sieht sodann vor, dass auch bestraft werden soll, «wer die Tat im Ausland begeht, sich in der Schweiz befindet und nicht ausgeliefert wird.» Damit können Täter und Täterinnen in der Schweiz belangt werden, unabhängig davon, wo sie die Tat begangen haben und ob die Tat am Tatort strafbar ist (BBl 2010 5670). Verhindert werden soll damit, dass die Opfer in ihr Herkunftsland zurückgeführt und dort verstümmelt werden.

Schliesslich soll die Verjährung analog der schweren Körperverletzung einheitlich auf 15 Jahre festgesetzt werden. Für Opfer unter 16 Jahren soll die Verfolgungsverjährung in jedem Fall mindestens bis zum vollendeten 25. Lebensjahr des Opfers dauern (Ergänzung von Art. 97 Abs. 2 StGB).

Umfassendes Verbot der Verstümmelung weiblicher Genitalien

Die Weltgesundheitsorganisation WHO unterscheidet vier Typen von Verstümmelung weiblicher Genitalien:

Typ I: Partielle oder vollständige Entfernung der Klitoris und/oder der Klitorisvorhaut (Klitoridektomie)

Typ II: Partielle oder vollständige Entfernung der Klitoris und der kleinen Schamlippen, mit oder ohne Entfernung der großen Schamlippen (Exzision)

Typ III: Verengung der vaginalen Öffnung mit Herstellung eines bedeckenden, narbigen Hautverschlusses durch das Entfernen und Zusammenheften oder -nähen der kleinen und/oder großen Schamlippen, mit oder ohne Entfernung der Klitoris (Infibulation)

Typ IV: Alle anderen Eingriffe, die die weiblichen Genitalien verletzen und keinem medizinischen Zweck dienen, zum Beispiel: Einstechen, Durchbohren, Einschneiden, Ausschaben und Ausbrennen oder Verätzen.

Die totale Entfernung der Klitoris, die Exzision sowie die Infibulation gelten gemäss der Definition in Art. 122 Abs. 3 StGB als schwere Körperverletzung, da sie eine schwere Schädigung der körperlichen oder geistigen Gesundheit zur Folge haben. Sie sind damit bereits nach heutigem Recht strafbar (siehe die Hinweise auf zwei entsprechende Urteile auf humanrights.ch). Mit der neuen Strafbestimmung hat sich das eidgenössische Parlament nun für eine umfassende Bestimmung entschieden: Erfasst werden sollen durch den Gesetzestext alle Formen von weiblicher sexueller Verstümmelung, also sowohl Formen der schweren Körperverletzung (Art. 122 StGB) als auch solche, die als einfache Körperverletzung (Art. 123 StGB) gelten. Begründet wurde diese Lösung damit, dass die Unterscheidung, ob eine schwere oder einfache Körperverletzung vorliege, Untersuchungen nach sich zögen, die für die Opfer äusserst belastend und entwürdigend seien.

Keine Einwilligung möglich

Der Vorentwurf der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats sah für mündige Frauen die Möglichkeit der Einwilligung vor. Die Möglichkeit der Einwilligung wurde vor allem mit Blick auf leichte Eingriffe und insbesondere auch auf hierzulande gängigen Praktiken wie Tätowierungen und Piercings, aber auch Schönheitsoperationen, wie Schamlippenverkleinerungen oder –korrekturen, Verengungen der Vagina etc. erwogen. In der Vernehmlassung sprach sich allerdings eine Mehrheit für ein umfassendes Verbot von Genitalverstümmelungen aus, insbesondere da der Nachweis der Willensfreiheit kaum zu erbringen sei. Zu stark stünden die Frauen unter dem Druck, einem entsprechenden Eingriff zuzustimmen. Der Nationalrat wollte zudem Piercings, Tätowierungen und Schönheitsoperationen auf jeden Fall von der Strafbestimmung ausnehmen. Verschiedene Nationalrätinnen und Nationalräte betonten dies denn auch explizit zuhanden der Materialien. Die unterschiedliche Behandlung sei dadurch gerechtfertigt, dass bei der Genitalverstümmelung die Funktion des Geschlechtsorgans beeinträchtigt werde, was bei Piercings, Tätowierungen und Schönheitsoperationen nicht der Fall sei. Kein Thema war in diesem Zusammenhang im Übrigen die von NGO-Seite in der Vernehmlassung aufgeworfene Frage der sexuellen Verstümmelung bei zwischengeschlechtlichen Personen.

Ausblick

Mit einer expliziten und einheitlichen Strafnorm erhofft man sich, dass das Verbot der Genitalverstümmelung klarer sichtbar wird. Die damit einhergehende gesteigerte symbolische und abschreckende Wirkung trage dazu bei, Genitalverstümmelung präventiv zu verhindern, so die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrats in ihrem Bericht. Unbestritten war im Nationalrat, dass das Verbot mit Sensibilisierungs- und Präventionsmassnahmen verbunden werden muss, um seine Wirkung zu entfalten.

Menschenrechtlich sind sexuelle Verstümmelungen, v.a. wo Kinder und Jugendliche betroffen sind, hoch bedeutsam. Die UNO Vertragsorgane stufen sie als unmenschliche Behandlung, Verletzung des Rechts auf Gesundheit und als Verstoss gegen Kinderrechte (v.a. Art. 24 Abs. 3 Kinderrechtskonvention über gesundheitsschädliche Traditionen) ein. Staaten haben deshalb gegenüber Opfern eine Schutzpflicht. Für die Schweiz bedeutet dies, dass sie sexuelle Verstümmelungen unabhängig vom Begehungsort zu bestrafen haben, soweit sich Täter/innen im Zeitpunkt der Tat in der Schweiz aufhalten. Unter diesem Gesichtspunkt ist zu begrüssen, dass der strafrechtliche Schutz gegen sexuelle Verstümmelungen, welche bisher als Körperverletzungen geahndet wurden, verstärkt wird.

Es fragt sich aber, ob die neue Norm wegen des Weltrechtsprinzips nicht weit über das hinausgeht, was die Bundesversammlung beabsichtigt. Anders als Frankreich, Grossbritannien und Italien, welche Auslandtaten nur bestrafen, wenn die (Mit)täter/innen in diesen Ländern wohnen (siehe BBl 2010 5662 – 5664), sieht das neue schweizerische Recht keine solche Einschränkung vor, d.h. es muss von Amtes wegen auch bestraft werden, wer die Tat vor der Einreise in die Schweiz verübt hat.

Gemäss Art. 7 Abs. 1 Strafgesetzbuch findet das Weltrechtsprinzip keine Anwendung, wenn die Tat am Tatort zur Zeit der Begehung nicht strafbar war. Dies trifft z.B. auf Somalia zu. Art. 124 Abs. 2 erklärt aber nur Abs. 4 und 5 für anwendbar, weil der Gesetzgeber die Anwendung von Abs. 1 ausschliessen will (BBl 2010, 5670). Da von Eltern organisierte sexuelle Verstümmelung kein Völkerrechtsdelikt ist, das (wie Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit) unabhängig von der Verankerung im Recht des betreffenden Staates bestraft werden kann, würde eine solche Auslegung zur Verletzung des Grundsatzes von Art. 7 EMRK führen, dass niemand für eine Tat bestraft werden darf, welche «zur Zeit der Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war.»

Unabhängig von der Strafbarkeit am Tatort hat die weite Fassung des Weltrechtsprinzips ausländerrechtliche Folgen, die von der Bundesversammlung trotz ihres schwerwiegenden Charakters nie diskutiert wurden:

  • Wer für sexuelle Verstümmelung vor der Einreise in die Schweiz als (Mit)täter/in verantwortlich ist, hat ein schweres nichtpolitisches Delikt im Sinne von Art. 1F Flüchtlingskonvention verübt und ist deshalb asylunwürdig im Sinne von Art. 53 Asylgesetz, d.h. wird nicht als Flüchtling anerkannt und bekommt kein Asyl.
  • Die sexuelle Verstümmelung ist zweifelsohne ein schweres Delikt und wird deshalb (unabhängig davon, wie sie schlussendlich umgesetzt wird) von Art. 121 Abs. 3-6 BV (Ausschaffungsinitiative) erfasst.

Dies bedeutet, dass asylsuchende Eltern mit bereits beschnittenen Töchtern aus Ländern wie Somalia mit Beschneidungsraten von 90% und mehr nicht nur regelmässig riskieren, künftig kein Asyl zu erhalten, sondern (unter Vorbehalt von Art. 3 EMRK) auch in ihre Herkunftsländer ausgeschafft werden müssen. Somit werden beschnittene Mädchen gleich zweimal «bestraft»: Nicht nur müssen sie diese unmenschliche Behandlung über sich ergehen lassen, sondern zusammen mit ihren straffälligen Eltern auch in ein Land zurückkehren, dessen Gefahren sie entronnen sind. Analoges gilt für ihre jüngeren, noch nicht beschnittenen Schwestern, die zuhause einem grösseren Risiko ausgesetzt sind, beschnitten zu werden, als wenn sie in der Schweiz bleiben könnten. Ob man damit dem Ziel, Mädchen zu schützen und das Kindeswohl zu verwirklichen, auch nur einen Schritt näher kommt, ist eine berechtigte Frage.

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