Artikel

Sonderstellung des Kruzifixes im öffentlichen Raum?

Parlamentarische Initiative für eine Verfassungsänderung

Abstract

Autorin: Andrea Egbuna-Joss

Publiziert am 06.07.2011

Bedeutung für die Praxis:

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  • Stand des Geschäfts: In Beratung bei der Staatspolitischen Kommission des Ständerates
  • Im Fall der Annahme durch Volk und Stände wären Auswirkungen auf verschiedene Rechtsbereiche wie das Schul-, Bau-, und Ausländer- bzw. Einbürgerungsrecht zu prüfen

Die Staatspolitische Kommission des Nationalrates hat einer parlamentarischen Initiative von Nationalrätin Ida Glanzmann (CVP, LU) zugestimmt, welche die Ergänzung der Bundesverfassung (BV) dahingehend beantragt, dass Symbole christlich-abendländischer Kultur im öffentlichen Raum ausdrücklich als zugelassen bezeichnet werden. Die SPK-NR hiess die parlamentarische Initiative mit 12 zu 12 Stimmen und dem Stichentscheid des Präsidenten gut und übergab diese der Staatspolitischen Kommission des Ständerates zur Beratung.

Die parlamentarische Initiative wird im Initiativtext damit begründet, dass die gegenwärtige Debatte um das Kreuz ein Symbol der christlich-abendländisch geprägten Kultur der Schweiz in Frage stelle, wobei das Kreuz nicht nur den Glauben symbolisiere, sondern auch den Schutz des Landes, Frieden, den sozialen Gedanken, die Bergpredigt und das abendländische Grundrechtsverständnis. Die parlamentarische Initiative will gemäss dem Initiativtext verhindern, dass Einzelpersonen oder einzelne Gruppierungen unter Bezugnahme auf Grundrechte wie der Glaubens- und Gewissensfreiheit die schweizerische Kultur in Frage stellen können.

Hintergrund

Der Initiativtext nimmt Bezug auf das Urteil des Bundesgerichts von 1990 (BGE 116 Ia 252), gemäss welchem es das verfassungsmässige Gebot der konfessionellen Neutralität der Schule (Art. 62 i.V.m. Art. 15 BV) verbietet, in den Schulzimmern öffentlicher Schulen Kruzifixe anzubringen.

Dieses Urteil erlangte unlängst dadurch Aktualität, dass im Herbst 2010 in Triengen (LU) ein Familienvater gestützt darauf erfolgreich die Entfernung von Kruzifixen aus den Unterrichtsräumen der von seinen Kindern besuchten Schulhäuser verlangte. Das Begehren auf Entfernung der Kruzifixe war anfänglich von der kommunalen Schulpflege und dem Gemeinderat abgewiesen und erst auf Anraten der kantonalen Dienststelle für Volksschulbildung angenommen worden.

Analyse

Die bundesgerichtliche Rechtsprechung ist auch nach dem «Kruzifix-Urteil» des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 18. März 2011 (vgl. Beitrag im SKMR-Newsletter Nr. 1) weiterhin für die Schweizer Behörden massgebend. Der EGMR hatte festgehalten, dass die Entscheidung, ob in den Klassenzimmern öffentlicher Schulen Kruzifixe hängen dürfen oder nicht, grundsätzlich in den Ermessenspielraum der Staaten falle und die diesbezüglichen Entscheidungen der Staaten zu respektieren seien.

Die Parlamentarische Initiative zielt darauf, den staatlichen Ermessensspielraum zu nutzen, um Kruzifixe und andere Symbole christlich-abendländischer Kultur im öffentlichen Raum zuzulassen und gegenüber anderen Glaubenssymbolen zu privilegieren. Würde die Bundesverfassung im vorgeschlagenen Sinn geändert, so wäre die Sonderstellung von Symbolen der christlich-abendländischen Kultur auf Verfassungsstufe für Bund, Kantone und Gemeinden verbindlich festgeschrieben. Eine entsprechende Verfassungsbestimmung würde das bundesgerichtliche Verbot, in Unterrichtszimmern Kruzifixe aufzuhängen, aufheben und - darüber hinaus - christliche Symbole im gesamten öffentlichen Raum für zulässig erklären.

Die möglichen Auswirkungen einer solchen Verfassungsbestimmung auf verschiedene Rechtsbereiche sind noch nicht hinreichend geklärt:

  • Im Bereich der Schule würde sich ein offener Widerspruch zur bisher geltenden Auslegung der in der Verfassung festgeschriebenen konfessionellen Neutralität der Schule ergeben. Die Neutralität der Schulumgebung (wohl aber nicht des Inhalts des Schulunterrichtes an sich) wäre fortan nur noch in Bezug auf andere Religionen und Weltanschauungen zu gewährleisten, nicht jedoch in Bezug auf das Christentum. Jenen Kantonen, welche in ihren Schulzimmern Kruzifixe oder andere christliche Symbole anbringen möchten, wäre dies erlaubt und Schulkinder und ihre Eltern könnten sich gegen diese Beeinträchtigung ihrer (negativen) Religionsfreiheit nicht mehr zur Wehr setzen. Nicht ableiten liesse sich jedoch eine irgendwie geartete positive Pflicht zum Aufhängen von christlichen Symbolen wie dem Kruzifix in Unterrichtszimmern.
  • Aus baurechtlicher Sicht wäre zu klären, ob sich die Privilegierung christlich-abendländischer Symbole auf Kruzifixe, Krippen etc. beschränkt oder sich auch auf Bauten erstreckt. Auch im letzteren Fall liesse sich aus der Bestimmung wohl nur ableiten, dass ein Baugesuch z.B. für eine Kapelle nicht nur deswegen abgewiesen werden dürfte, weil es sich um einen christlichen Bau handelt. Christliche Bauten wären jedoch weiterhin, wie alle anderen Bauten, auch an die einschlägigen baurechtlichen und zonenplanmässigen Vorschriften gebunden. Bei Ermessensentscheiden wären die Behörden jedoch verpflichtet, Bauten der christlich-abendländischen Kultur bevorzugt zu behandeln.
  • Die Zulässigkeit christlich-abendländischer Symbole im öffentlichen Raum dürfte angesichts des eng begrenzten Regelungsgegenstandes nicht so verstanden werden, dass das Christentum oder die abendländische Kultur (mit ihren höchst unscharfen Konturen) grundsätzlich als Leitkultur gelten würden oder dass von Ausländerinnen und Ausländern im Rahmen eines Einbürgerungsverfahrens und/oder einer Integrationsvereinbarung ein Bekenntnis zur christlich-abendländischen Kultur verlangt werden könnte. Die für eine Einbürgerung vorausgesetzte Integration würde aber de facto voraussetzen, dass eine Person die Privilegierung der christlich-abendländischen Kultur im öffentlichen Raum in Kauf nimmt.

Die Annahme der Initiative zur Sonderstellung des Kruzifixes würde der Schweiz eine weitere Verfassungsbestimmung bescheren, die eine Sonderregelung für eine bestimmte Religion bzw. Weltanschauung vorsieht. Eine solche wäre besonders ungewöhnlich, weil sie auf den Schutz der Mehrheitsreligion zielte. Die neue Bestimmung wäre gefährlich, wenn der Umkehrschluss gezogen würde, dass Symbole anderer Religionen im öffentlichen Raum grundsätzlich unzulässig sind.

Die Antworten auf viele offene Fragen im Zusammenhang mit der vorgeschlagenen Bestimmung hängen massgeblich von deren systematischer Stellung in der Verfassung (als Zusatz im Rahmen der Glaubens- und Gewissensfreiheit oder aber als Bestimmung im Aufgabenteil) und ihrer Konkretisierung in der Gesetzgebung ab. Es wäre wünschenswert, dass sich die staatspolitische Kommission des Ständerates mit den aufgeworfenen Fragen vertieft und kritisch auseinandersetzen würde.

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