Artikel

Die ausländerrechtlichen Entfernungsmassnahmen

Zwei Urteile zu Fällen von Wegweisung

Abstract

Autorin: Nicole Wichmann

Publiziert am 06.05.2011

Bedeutung für die Praxis

  • Zur Information
  • Bestätigung der Praxis kantonaler Migrationsämter, wonach ein Strafmass von zwölf Monaten als „längerfristige Freiheitsstrafe“ betrachtet werden darf
  • Bestätigung der Praxis, dass die Verfolgungsgefahr bei Homosexualität im Iran im Einzelfall zu prüfen ist und nicht generell bejaht werden kann.

Am 24. März 2011 hat die vom EJPD beauftragte „Arbeitsgruppe Ausschaffungsinitiative“ vier Möglichkeiten für die Umsetzung der am 28. November 2010 vom Volk angenommenen Ausschaffungsinitiative vorgestellt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Annahme der Initiative oder die Arbeiten am Umsetzungsvorschlag bereits einen Einfluss auf die Rechtsprechung ausgeübt haben. Der Frage wird anhand von zwei im ersten Trimester 2011 ergangen Urteilen, 2C_650/2010 vom 11. Februar 2011 des Bundesgerichtes und C-2107/2010 vom 18. Januar 2011 des Bundesverwaltungsgerichts, nachgegangen.

Strenge Auslegung bestätigt

Beide Urteile bestätigen die strenge Auslegung des Widerrufsgrundes „längerfristige Freiheitsstrafe“, die im BGE 135 II 377 vom 25. September 2009 spezifiziert wurde. In jenem Urteil stützt das Bundesgericht die Praxis der kantonalen Migrationsämter, die ein Strafmass von zwölf Monaten als „längerfristige Freiheitsstrafe“ im Sinne Art. 62 lit. b bzw Art. 63 AuG (Widerruf von Bewilligungen) betrachten (vgl. Wichmann, Nicole et al. (2010)).

Auch die Art des Delikts fliesst in die Beurteilung der Schwere des Delikts ein. So machen die Schweizer Gerichte „bei Gewalttaten, Verletzung der sexuellen Integrität und schweren Verstössen gegen das Betäubungsmittelgesetz eine besonders schwere Bedrohung der öffentlichen Sicherheit aus“ (vgl. Achermann, Christin (2010)). «Straffällige Ausländerinnen und Ausländer: Kenntnisse zur aktuellen Praxis», in Achermann, Alberto et al. (Hrsg.), Jahrbuch für Migrationsrecht 2009/2010. Bern: Stämpfli Verlag : 188-189). Da in den beiden Urteilen Straftaten vorliegen, die eine gewisse Schwere aufweisen, erstaunt der Ausgang der Interessenabwägung nicht. Die involvierten Straftaten wurden im Initiativtext der Ausschaffungsinitiative aufgeführt, weshalb anzunehmen ist, dass sie auch künftig Wegweisungen begründen können. Den privaten Interessen der Betroffenen wird künftig weniger Platz eingeräumt, da der Wegweisungsautomatismus gleichbedeutend mit dem Verzicht auf die Interessenabwägung ist, was aus Sicht des Völkerrechts problematisch ist.

Urteil 2C_650/2010

Das Bundesgericht entschied im Urteil 2C_650/2010, dass ein achtundzwanzigjähriger Serbe, der seit dreiundzwanzig Jahren in der Schweiz lebt, nach Serbien zurückkehren muss. Der Serbe wurde bereits als 16-Jähriger u.a. wegen mehrfachen Diebstahls, Hehlerei, mehrfacher Sachbeschädigung, mehrfachen Hausfriedensbruchs und Sachentziehung verurteilt. In den folgenden Jahren verübte er mehrere Straftaten, die im Jahre 2007 in einer Verurteilung u.a. wegen schwerer Körperverletzung und fahrlässiger Tötung gipfelten. Im Juni 2009 widerrief das Ausländeramt des Kantons St. Gallen die Niederlassungsbewilligung und ordnete an, dass er die Schweiz nach seiner Entlassung aus dem Massnahmenvollzug zu verlassen habe.

Vor dem Bundesgericht machte der Betroffene mehrere private Interessen geltend: Die lange Aufenthaltsdauer seit dem fünften Lebensjahr in der Schweiz, fehlende Bindungen an das Herkunftsland Serbien, in dem nur seine 80-jährige Grossmutter lebe, mangelhafte Serbischkenntnisse und eine geringe Rückfallgefahr. Das Bundesgericht befand, dass die privaten Interessen am Verbleib in der Schweiz weniger schwer ins Gewicht fallen, da der Beschwerdeführer in der Schweiz schlecht „integriert“ sei und ausser zu seiner Mutter keine qualifizierten Bindungen zu in der Schweiz lebenden Personen vorweisen könne. Des Weiteren könne der Betroffene sich die benötigten schriftlichen Serbischkenntnisse bei der Rückkehr aneignen.

Sollte die Rechtssache an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gelangen, wird mit demselben Ausgang gerechnet. Zwar ruft der Strassburger Gerichtshof die Mitgliedstaaten zur Zurückhaltung bei der Wegweisung der Angehörigen der zweiten Ausländergeneration an. Beim Vorliegen eines schweren Vergehens stützt er jedoch die Entscheide der Mitgliedstaaten. Mit dieser eher vorsichtigen Haltung unterscheidet sich der EGMR von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, die in der Empfehlung 1504 (2001) forderte, dass „Personen, die im Aufnahmeland geboren oder aufgewachsen sind und minderjährige Kinder unter keinen Umständen wegzuweisen seien“.

Aus einer menschenrechtlichen Perspektive wirft der Entscheid des Bundesgerichtes, die Beschwerde einer Person, die seit dreiundzwanzig Jahren in der Schweiz lebt, hier aufgewachsen und sozialisiert wurde und die nur über wenige Verbindungen zu ihrem Heimatland verfügt, abzuweisen, grundsätzliche Fragen zur Verhältnismässigkeit ausländerrechtlicher Entfernungsmassnahmen auf.

Urteil C-2107/2010

Das Bundesverwaltungsgericht entschied im Urteil C-2107/2010, dass ein homosexueller Iraner nach sieben Jahren Partnerschaft mit einem Berner die Schweiz zu verlassen habe. Das Asylgesuch des Iraners war zweimal abgelehnt worden. Er erhielt im Jahre 2000 aufgrund seiner Beziehung mit einem Schweizer Bürger eine Aufenthaltsbewilligung. Am 20. Dezember 2006 wurde er wegen qualifizierter Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz (Handel mit rund 71 Gramm reinem Heroin) zu einer Zuchthausstrafe von 27 Monaten verurteilt. Am 21. Dezember 2007 verweigerten ihm die Einwohnerdienste der Stadt Thun die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung. Gegen die Ausdehnung der Wegweisungsverfügung auf die ganze Schweiz rekurrierte der Beschwerdeführer. Er argumentierte, dass die Wegweisung wegen seiner Homosexualität und seiner eingetragenen gleichgeschlechtlichen Partnerschaft nicht vollstreckbar sein, da er im Iran an Leib und Leben gefährdet sei.

Das Bundesverwaltungsgericht anerkennt in seinem Urteil, dass Homosexualität im Iran illegal ist und laut Scharia mit der Todesstrafe sanktioniert wird. Gleichzeitig merkt das Gericht jedoch an, dass die Homosexualität gelebt werden kann, solange sie nicht „öffentlich zur Schau gestellt wird“. Daher bestehe kein Grund für die Annahme, dass Homosexuelle systematisch verfolgt würden. Die Argumentation des Betroffenen beziehe sich bloss auf die generelle Menschenrechtslage im Iran, ohne den spezifischen Bezug zu seiner Person herzustellen. Im Gegenteil zeigten die Erfahrungen des Betroffenen, der seine Familie bereits mehrere Male im Iran besucht habe, dass es möglich sei, sich als Homosexueller im Iran aufzuhalten. Das Bundesverwaltungsgericht kommt zum Schluss, dass ihm im Falle einer Rückkehr keine durch Art. 3 EMRK verbotene Strafe oder Behandlung drohe.

Nichtregierungsorganisationen, die die Interessen von homosexuellen Personen vertreten, haben das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes kritisiert. Sie gehen davon aus, dass Homosexuelle im Iran gefoltert und getötet werden. Von Relevanz ist in diesem Kontext, dass Grossbritannien bis 2010 die vom Bundesverwaltungsgericht angeführte These stützte, dass Homosexuelle, die ihre Sexualität im Verborgenen im Iran lebten, nicht bedroht seien. Letztes Jahr gelangte der oberste britische Gerichtshof indes zum gegensätzlichen Schluss, den der britische Richter Lord Hope mit Verweis auf die Grundrechte wie folgt begründete: „Man verweigert einem Homosexuellen sein Grundrecht darauf, der zu sein, der er ist, wenn man ihn dazu nötigt, vorzugeben, seine Sexualität existiere nicht oder sie zu unterdrücken.“ Aus menschenrechtlicher Perspektive ist die Haltung des britischen Gerichtes zu begrüssen, denn es ist äusserst fragwürdig, ob ein im Verborgenen gelebtes Grundrecht als genügend geschützt betrachtet werden kann. Das britische Urteil betraf allerdings einen negativen Asylentscheid und äusserte sich nicht zur Frage der Ausschaffung bei Kriminalität.

Jusic gegen Schweiz, Urteil EGMR vom 2. Dezember 2010

Im Fall Jusic gegen die Schweiz (Beschwerdesache 4691/06) kam der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zum Schluss, dass die Schweiz Art. 5 Abs. 1 EMRK, welcher für die Inhaftierung von Personen eine genügende gesetzliche Grundlage verlangt, im Fall eines bosnischen Staatsangehörigen verletzt hatte. Dessen Asylgesuch war 1997 abgelehnt worden. Die Wegweisung wurde nicht sofort vollstreckt, da der Betroffene ein Beschwerdeverfahren einleitete. 2001 und 2004 lehnte die Asylrekurskommission Wiedererwägungsgesuche ab und setzte der Familie einen Ausreisetermin. 2005 wurde der Beschwerdeführer festgenommen und die Ausschaffungshaft wurde angeordnet.

Die Ausschaffungshaft, die zweiundzwanzig Tage dauerte, hat der Betroffene vor dem EGMR angefochten. Der EGMR kam zum Schluss, dass angesichts seines Verhaltens keine konkreten Anzeichen existierten, die befürchten liessen, dass er sich der Ausschaffung entziehen werde, wie Art. 13 des Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer vom 26. März 1931 (ANAG) es als Voraussetzung für die Anordnung der Ausschaffungshaft vorsah, obwohl er mehrmals erklärt hatte, dass er nicht freiwillig ausreisen werde, und sich auch geweigert hatte, eine Erklärung zu unterschreiben, die es erlaubt hätte, seine Ausreise zu organisieren. Damit liess sich die Inhaftierung im konkreten Fall nicht auf eine genügende gesetzliche Grundlage abstützen.

Da die Bestimmungen des ANAG mittlerweile durch Art. 76 Abs. 1 lit. b, Ziff. 3 AuG ergänzt wurden, welcher eine Verletzung der Mitwirkungspflicht bei der Papierbeschaffung ausdrücklich als „konkretes Anzeichen“ dafür einstuft, dass sich die betreffende Person der Ausreise entziehen will, hat dieses Urteil keine unmittelbaren Auswirkungen auf die heutige Schweizer Praxis.

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