Artikel
Der Umgang mit Volksinitiativen
Für eine menschenrechtsverträgliche Ausgestaltung des Initiativrechts
Abstract
Autorinnen: Eva Maria Belser, Andrea Egbuna-Joss
Zusammenfassung:
- Zwei Empfehlungen, welche die Schweiz einer genaueren Überprüfung unterzogen hat, beziehen sich auf den Umgang der Schweiz mit Volksinitiativen und verlangen Massnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Volksinitiativen mit den Grund- und Menschenrechten (Empfehlungen 123.59 und 123.60). Der Bundesrat hat am 27. Februar beide Empfehlungen abgelehnt.
- Die vom Parlament 2011 und 2012 angenommenen Motionen, die vorschlagen, Volksinitiativen einer (unverbindlichen) materiellen Vorprüfung zu unterziehen sowie die Ungültigkeitsgründe zu erweitern, erfüllen diese Empfehlungen nur bedingt.
- Eine dritte, von der Schweiz bereits Ende Oktober 2012 abgelehnte Empfehlung verlangt die Aufhebung des Minarettverbots in Art. 72 Abs. 3 Bundesverfassung (Empfehlung 124.3).
Ähnliche Empfehlung im Jahre 2008
Bereits im Rahmen der ersten Allgemeinen Periodischen Überprüfung der Schweiz im Jahre 2008 hatte Belgien der Schweiz empfohlen, gesetzliche und andere Massnahmen zu ergreifen, damit die Menschenrechte von Gerichtsbehörden frühzeitig berücksichtigt werden, insbesondere während der Ausarbeitung von Volksinitiativen, um deren Vereinbarkeit mit internationalen Verpflichtungen zu gewährleisten (UPR Switzerland 2008, Empfehlung 57.4). Die Schweiz hatte die Empfehlung 2008 mit der Begründung zurückgewiesen, dass keine zusätzlichen Massnahmen erforderlich seien, um die Ziele der Empfehlung zu erreichen. Der schweizerische Bundesrat und das Parlament würden die Völkerrechtskonformität von Volksinitiativen ohnehin vorgängig überprüfen. Volksinitiativen, die zwingendes Völkerrecht verletzten, würden von der Bundesversammlung für ungültig erklärt. Ausserdem würden Initiativen nach ihrer Annahme völkerrechtskonform umgesetzt (vgl. UPR, A/HRC/8/41/Add.1).
Ist-Zustand unverändert
Die im Rahmen der ersten Überprüfung vorgebrachte Empfehlung Belgiens stand im Zusammenhang mit der eidgenössischen Volksinitiative "Gegen den Bau von Minaretten", welche im Mai 2007 lanciert worden war und weltweit grosse Beachtung fand. Schon 2008 vermochte die Reaktion der offiziellen Schweiz nicht vollends zu überzeugen. Die Schweiz kennt damals wie heute – ausser im Bereich des zwingenden Völkerrechts – keine verfassungsrechtlichen oder institutionellen Vorkehren, welche die Annahme menschenrechtswidriger Volksinitiativen verhindern.
Zwar ist es richtig, dass Bundesrat und Bundesversammlung das Verhältnis der Initiative zu den Menschenrechtsverpflichtungen überprüfen, doch ist dieses Vorgehen in zweierlei Hinsicht ungenügend: Zum einen handelt es sich nicht (wie von Belgien empfohlen) um eine Gerichtsbehörde, welche die Vereinbarkeit einer Initiative mit den Menschenrechtsverpflichtungen der Schweiz überprüft, zum andern vermag die Überprüfung durch Bundesrat und Bundesversammlung die Einhaltung der menschenrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz nicht zu gewährleisten, da Volk und Ständen auch Volksinitiativen zur Abstimmung zu unterbreiten sind, die als menschenrechtswidrig eingestuft werden (wie dies bei der Minarettverbots-Initiative der Fall war). Schliesslich vermag die völkerrechtskonforme Umsetzung der angenommenen Initiative oft nicht für Abhilfe zu schaffen, wie der Streit um die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative und die im Dezember 2012 eingereichte Durchsetzungsinitiative illustrieren. Auch aus diesem Grund hatte Belgien eine frühzeitige Überprüfung durch Gerichte empfohlen.
Dass der Schweiz vier Jahre später empfohlen wird, das Minarettverbot aufzuheben, überrascht eben so wenig wie die sofortige Ablehnung dieser Empfehlung durch die Schweiz. Nur Volk und Stände, nicht aber der Bundesrat oder die Bundesversammlung, können das Minarettverbot (Art. 72 Abs. 3 BV) aus der geltenden Verfassung entfernen. Es ist damit am Bundesgericht sowie allenfalls am Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Strassburg für eine Klärung der Rechtslage zu sorgen.
Anerkannter Handlungsbedarf
Dass Handlungsbedarf besteht, um die Vereinbarkeit von Volksinitiativen mit dem Völkerrecht im Allgemeinen und mit Grund- und Menschenrechten im Besonderen zu verbessern, ist in der Schweiz weitgehend anerkannt (vgl. dazu ausführlich Beitrag im SKMR-Newsletter vom 6. Mai 2011). National- und Ständerat haben in den Jahren 2011 und 2012 zwei entsprechende Motionen angenommen. Die eine Motion verlangt die Schaffung rechtlicher Grundlagen für eine nicht bindende materielle Vorprüfung einer Initiative vor Beginn der Unterschriftensammlung, die andere eine Erweiterung der Ungültigkeitsgründe um den Kerngehalt der Grundrechte der Bundesverfassung oder der EMRK (vgl. den Beitrag im SKMR-Newsletter vom 1. Februar 2012). Nun ist es am Bundesrat, eine Vorlage auszuarbeiten.
Die vorgesehenen Massnahmen im Lichte der UPR-Empfehlungen
Die erste der vorgeschlagenen Massnahmen, die Vorprüfung der Volksinitiative durch die Verwaltung mit der Möglichkeit zur Nachbesserung und der Verpflichtung zu einem allfälligem Warnhinweis, vermag den Anliegen, die im Rahmen des UPR-Verfahrens an die Schweiz herangetragen wurden, nicht zu genügen. Eine nicht bindende Vorprüfung kann nicht verhindern, dass Volksinitiativen Volk und Ständen zur Abstimmung vorgelegt und gutgeheissen werden, die im Widerspruch zu völkerrechtlichen Menschenrechtsgarantien stehen.
Die zweite Massnahme, die Erweiterung der Ungültigkeitsgründe um den unantastbaren Kern der Grund- und Menschenrechte, liegt mehr auf der Linie der UPR-Empfehlungen. Hier sind allerdings wichtige Fragen noch ungeklärt, insbesondere welche Instanz zu welchem Zeitpunkt des Initiativverfahrens für die Prüfung und allfällige Ungültigerklärung der Initiative zuständig sein soll. Die Antwort auf diese Frage ist umso entscheidender, als sich die Kerngehalte der Grund- und Menschenrechte weder der Bundesverfassung, noch der EMRK oder den anderen Menschenrechtsabkommen eindeutig entnehmen lassen, sondern durch wertende Auslegung (und unter Berücksichtigung der europäischen und internationalen Rechtsprechung) zu ermitteln sind.
Der Entscheid des Bundesrates
Der Bundesrat hat die Empfehlungen 123.59 und 123.60 mit Entscheid vom 27. Februar 2013 abgelehnt. In seiner Begründung betont er zunächst, dass das Instrument der Volksinitiative zur Änderung der Verfassung ein grundlegendes Element der Schweizer Demokratie sei und verweist anschliessend auf die aktuellen Reformarbeiten. Die diesbezügliche Entscheidung des Parlaments sei zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht abzusehen.
Aufgrund der oben beschriebenen Ausgangslage und der Tatsache, dass eine Teilrevision der Bundesverfassung erforderlich ist, um die Ungültigkeitsgründe für Volksinitiativen zu erweitern, überrascht dieser Entscheid nicht. Es ist nun aber zu hoffen, dass der Bundesrat die bereits unternommenen Anstrengungen zügig vorantreibt und die erneuten internationalen Empfehlungen bei der Ausarbeitung der Vorlage soweit als möglich berücksichtigt.