Artikel

Ausweisung von Emre ist unverhältnismässig

EGMR Urteil Emre gegen die Schweiz vom 11. Oktober 2011 (Emre 2) ist rechtskräftig; der Bund verzichtet auf Weiterzug

Abstract

Autorin: Nicole Wichmann

Publiziert am 01.02.2012

Bedeutung für die Praxis

  • Durch die Reduktion des Einreiseverbots auf eine Dauer von zehn Jahren hat die Schweiz gegen den Geist und die Schlussfolgerungen des Urteils Emre 1 verstossen; sie hätte die Ausweisung aufheben müssen.
  • Die Frage, wie viel Ermessen den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der EGMR Urteile zusteht, bleibt ungeklärt, da der Bund auf einen Weiterzug des Entscheids an die grosse Kammer verzichtet.

Kontext

Im Urteil Emre gegen die Schweiz vom 11. Oktober 2011 wurde die Schweiz zum zweiten Mal in derselben Rechtssache verurteilt. Laut dem EGMR verletzt die Ausweisung von Emre das Recht des Betroffenen auf ein Privat- und Familienleben. Die Befürworter und Gegner der Ausschaffungsinitiative reagierten auf das Urteil sehr unterschiedlich. Für die Gegner zeigt das Urteil, dass der in der Ausschaffungsinitiative verankerte Automatismus gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstösst. Für die Befürworter steht das ergangene Urteil diametral dem in der Ausschaffungsinitiative manifestierten Volkswillen entgegen, bei der Ausweisung straffällig gewordener Ausländerinnen und Ausländer härter vorzugehen.

Sachverhalt, Urteile und Reaktion der Schweiz

Herr Emre, ein türkischer Staatsangehöriger, war im Alter von sechs Jahren in die Schweiz eingereist. Wegen verschiedenen Eigentums- und Strassenverkehrs-Delikten war er zu insgesamt 18 ½ Monaten Gefängnis sowie einer bedingten Landesverweisung verurteilt worden. Nach der Strafverbüssung ordnete das Migrationsamt des Kantons Neuenburg seine Ausweisung (inkl. unbefristeter Einreisesperre) an. Der EGMR hiess im Urteil Emre 1 vom 22. Mai 2008 eine dagegen erhobene Beschwerde gut und begründete die Verurteilung der Schweiz damit, dass der Beschwerdeführer einen Teil der Delikte als Jugendlicher begangen habe. Am 6. Juli 2009 reduzierte das Bundesgericht die unbefristete Einreisesperre auf eine Dauer von zehn Jahren; die Ausweisung wurde aufrechterhalten.

Am 11. Januar 2010 klagte Emre erneut vor dem EGMR. Die Schweiz habe das erste Urteil willkürlich interpretiert und sei bei der Revision von einer anderen Sachlage als der EGMR ausgegangen. Im Urteil Emre 2 vom 11. Oktober 2011 (Nr. 5056/10) befand der EGMR, dass die Schweiz mit der Verfügung eines zehnjährigen Einreiseverbots erneut gegen Art. 8 EMRK verstossen habe. Die Verkürzung des Einreiseverbots auf eine Dauer von zehn Jahren entspreche nicht „dem Geist und den Schlussfolgerungen“ des Urteils Emre 1. Nach Ansicht des EGMR hätte die Schweiz die Ausweisung aufheben müssen. Der Schweizer Richter Malinverni vertrat derweil eine abweichende Meinung. Er machte geltend, dass es im Ermessen der Mitgliedstaaten liegen müsse, die geeigneten Mittel zur Umsetzung eines EGMR Urteils zu bestimmen. Der Bund entschied am 20. Dezember 2011, auf einen Weiterzug an die grosse Kammer zu verzichten.

Der Verein „Unser Recht“ berichtet, dass der Bund auf den Weiterzug des Urteils verzichtet, weil der Fall Emre mehrere Besonderheiten aufweise. Erstens habe Emre keine schweren, sondern über einen längeren Zeitraum mehrere kleine Delikte begangen, was selten vorkomme. Zweitens sei Emre psychisch angeschlagen gewesen. Diese Konstellation sei mit Blick auf die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative „untypisch“. Der einzige Grund, der für eine Neubeurteilung gesprochen hätte, wäre die Frage, wie viel Ermessen den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der EGMR Urteile zusteht.

^ Zurück zum Seitenanfang