Artikel
Ausweisung von Emre ist unverhältnismässig
EGMR Urteil Emre gegen die Schweiz vom 11. Oktober 2011 (Emre 2) ist rechtskräftig; der Bund verzichtet auf Weiterzug
Abstract
Autorin: Nicole Wichmann
Bedeutung für die Praxis
- Durch die Reduktion des Einreiseverbots auf eine Dauer von zehn Jahren hat die Schweiz gegen den Geist und die Schlussfolgerungen des Urteils Emre 1 verstossen; sie hätte die Ausweisung aufheben müssen.
- Die Frage, wie viel Ermessen den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der EGMR Urteile zusteht, bleibt ungeklärt, da der Bund auf einen Weiterzug des Entscheids an die grosse Kammer verzichtet.
Kontext
Im Urteil Emre gegen die Schweiz vom 11. Oktober 2011 wurde die Schweiz zum zweiten Mal in derselben Rechtssache verurteilt. Laut dem EGMR verletzt die Ausweisung von Emre das Recht des Betroffenen auf ein Privat- und Familienleben. Die Befürworter und Gegner der Ausschaffungsinitiative reagierten auf das Urteil sehr unterschiedlich. Für die Gegner zeigt das Urteil, dass der in der Ausschaffungsinitiative verankerte Automatismus gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstösst. Für die Befürworter steht das ergangene Urteil diametral dem in der Ausschaffungsinitiative manifestierten Volkswillen entgegen, bei der Ausweisung straffällig gewordener Ausländerinnen und Ausländer härter vorzugehen.
Sachverhalt, Urteile und Reaktion der Schweiz
Herr Emre, ein türkischer Staatsangehöriger, war im Alter von sechs
Jahren in die Schweiz eingereist. Wegen verschiedenen Eigentums- und
Strassenverkehrs-Delikten war er zu insgesamt 18 ½ Monaten Gefängnis
sowie einer bedingten Landesverweisung verurteilt worden. Nach der
Strafverbüssung ordnete das Migrationsamt des Kantons Neuenburg seine
Ausweisung (inkl. unbefristeter Einreisesperre) an. Der EGMR hiess im
Urteil Emre 1 vom 22. Mai 2008
eine dagegen erhobene Beschwerde gut und begründete die Verurteilung
der Schweiz damit, dass der Beschwerdeführer einen Teil der Delikte als
Jugendlicher begangen habe. Am 6. Juli 2009 reduzierte das Bundesgericht
die unbefristete Einreisesperre auf eine Dauer von zehn Jahren; die
Ausweisung wurde aufrechterhalten.
Am 11. Januar 2010 klagte Emre
erneut vor dem EGMR. Die Schweiz habe das erste Urteil willkürlich
interpretiert und sei bei der Revision von einer anderen Sachlage als
der EGMR ausgegangen. Im Urteil Emre 2 vom 11. Oktober 2011 (Nr. 5056/10) befand der EGMR, dass die Schweiz mit der Verfügung eines zehnjährigen Einreiseverbots erneut gegen Art. 8 EMRK
verstossen habe. Die Verkürzung des Einreiseverbots auf eine Dauer von
zehn Jahren entspreche nicht „dem Geist und den Schlussfolgerungen“ des
Urteils Emre 1. Nach Ansicht des EGMR hätte die Schweiz die Ausweisung
aufheben müssen. Der Schweizer Richter Malinverni vertrat derweil eine
abweichende Meinung. Er machte geltend, dass es im Ermessen der
Mitgliedstaaten liegen müsse, die geeigneten Mittel zur Umsetzung eines
EGMR Urteils zu bestimmen. Der Bund entschied am 20. Dezember 2011, auf
einen Weiterzug an die grosse Kammer zu verzichten.
Der Verein
„Unser Recht“ berichtet, dass der Bund auf den Weiterzug des Urteils
verzichtet, weil der Fall Emre mehrere Besonderheiten aufweise. Erstens
habe Emre keine schweren, sondern über einen längeren Zeitraum mehrere
kleine Delikte begangen, was selten vorkomme. Zweitens sei Emre
psychisch angeschlagen gewesen. Diese Konstellation sei mit Blick auf
die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative „untypisch“. Der einzige
Grund, der für eine Neubeurteilung gesprochen hätte, wäre die Frage, wie
viel Ermessen den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der EGMR Urteile
zusteht.