Abschlusspublikation

Menschenrechtskonforme Polizeiarbeit

Publiziert am 29.09.2022

Einführung

Fallbeispiel: Herzstillstand bei Polizeikontrolle

Mike Ben Peter erlitt am 28. Februar 2018 bei einer Polizeikontrolle in Lausanne einen Herzstillstand. Zwölf Stunden später starb er im Spital. Die Waadtländer Kantonspolizei, die an jenem Abend Präventivkontrollen gegen den Strassendeal durchführte, schreibt zum nächtlichen Einsatz, der Mann habe ein «verdächtiges Verhalten gezeigt» und sei deshalb kontrolliert worden. Weil sich der 40-jährige Familienvater aus Nigeria weigerte, sich festnehmen zu lassen, kam es zu einem Handgemenge. Gemäss Medienmitteilungen rangen die Polizisten Mike Ben Peter nieder, um ihm Handschellen anzulegen, setzten Reizgas ein, schlugen ihn mehrmals und brachten ihn schliesslich in Bauchlage. Während ungefähr sechs Minuten sassen, knieten und lagen mindestens fünf Polizisten auf ihm und drückten ihn mit Gewalt auf die kalte Strasse. Mike Ben Peter rang um Luft, schrie, erlitt einen Herzstillstand. Eine Zeugin hörte Schläge, schweres Atmen und Schreie. Später ergibt die Autopsie, dass Mike Ben Peter massive Hämatome an den Genitalien und Rippen erlitt. Drogen hatte er keine im Blut. Die Strafuntersuchung läuft bis heute. Massnahmen, um eine Absprache zum Tathergang zwischen den Polizisten zu verhindern, wurden keine getroffen. Die Polizisten wurden nie suspendiert.

Fallbeispiel: Filmen während Polizeieinsatz

Ein Jus-Student will in Bern an einer Demonstration gegen Rassismus und Faschismus teilnehmen. Da die Kundgebung nicht bewilligt ist, wird ihre Durchführung von der Polizei verhindert. Noch während der Jus-Student selber kontrolliert wird, beobachtet er, wie jemand von der Polizei zu Boden gedrückt wird – und filmt die Szene mit seinem Handy. Ein Polizist ruft, er solle aufhören, doch er filmt weiter. Kurz darauf packt der Polizist ihn am Kragen und drängt ihn, das Videomaterial zu löschen. Daraufhin erstattet der Jus-Student Anzeige wegen Nötigung und Amtsmissbrauch. Kurze Zeit nach der Einvernahme des beschuldigten Polizisten im März 2018 auferlegt die Staatsanwaltschaft dem Jus-Studenten eine Stillschweigeverfügung: Von da an droht ihm eine Busse von bis zu CHF 10 000, falls er über das Verfahren sprechen würde. Kurze Zeit später folgt der nächste Schritt: Er wird selbst zum Beschuldigten – wegen Hinderung einer Amtshandlung. 2019 entscheidet die Staatsanwaltschaft, sowohl das Verfahren gegen den Polizisten als auch jenes gegen den Jus-Studenten einzustellen, da eine Verurteilung unwahrscheinlich sei. Der Jus-Student reicht dagegen Beschwerde ein, das Berner Obergericht weist diese jedoch ab.

Die Polizei ist im Auftrag des Staats für die öffentliche Sicherheit und Ordnung sowie für die Einhaltung des Rechts zuständig – sie verkörpert das staatliche Gewaltmonopol. Um diesen Auftrag wahrnehmen zu können, ist sie u. a. befugt, Kontrollen durchzuführen und nötigenfalls Zwangsmassnahmen anzuwenden, wenn sich jemand nicht an das Gesetz hält – Aufgaben, die per se mit Eingriffen in den Schutzbereich der Grund- und Menschenrechte einhergehen. Die Herausforderung besteht dabei häufig darin, unübersichtliche Situationen richtig einzuschätzen und rasch auf angemessene Weise zu reagieren. Dies in einem äusserst sensiblen Tätigkeitsbereich, in dem die Gefahr des Machtmissbrauchs und der Verletzung von Grund- und Menschenrechten latent vorhanden ist und Mitarbeitende der Polizei unter Umständen mit Gewalt von Dritten zu rechnen haben.

Aus diesem Grund gelten für die Polizeiarbeit strenge Grundsätze. Nichtsdestotrotz kommt es – wie die eingangs erwähnten Beispiele zeigen1 – auch in der Schweiz immer wieder zu Verletzungen der Grund- und Menschenrechte durch die Polizei; sei dies im Kontext unverhältnismässiger Gewaltanwendung bei polizeilichen Anhaltungen oder an Demonstrationen, durch Racial oder Ethnic Profiling, im Rahmen pauschaler Wegweisungen von Jugendlichen oder Angehörigen sozialer Randgruppen aus dem öffentlichen Raum, durch Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte, im Umgang mit abgewiesenen Asylsuchenden (insb. im Zusammenhang mit Ausschaffungen) oder im Rahmen eines übertriebenen Einsatzes von Zwangsmitteln. Rechtliche Konsequenzen haben derartige Vorkommnisse jedoch nur selten. Dies hängt u. a. damit zusammen, dass Anzeigen gegen Polizeimitarbeitende – wenn es überhaupt dazu kommt – regelmässig von Stellen behandelt werden, die im Alltag eine enge Zusammenarbeit mit den beschuldigten Personen pflegen; ausserdem wird auf eine Strafanzeige oft mit einer Gegenanzeige geantwortet; die Beweisführung für Opfer von polizeilichem Fehlverhalten gestaltet sich in der Praxis äusserst schwierig; und das Potenzial von Verfahren ausserhalb des Strafrechts, wie bspw. des Verwaltungs- oder Staatshaftungsverfahrens, wird nur selten ausgenutzt.
Ausgehend von der Prämisse, «dass nur eine [grund- und] menschenrechtskonforme Polizeiarbeit eine professionelle ist»2, geht das vorliegende Kapitel dieser Problematik auf den Grund und zeigt auf, welche Massnahmen zum Schutz vor Grund- und Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei ergriffen werden können – auf präventiver Ebene sowie auf Ebene des Rechtsschutzes.3

Analyse

Menschenrechte und Polizeiarbeit – ein komplexes Verhältnis

Das Verhältnis von Polizeiarbeit und Grund- bzw. Menschenrechten ist komplex und in der Praxis o spannungsgeladen: Einerseits besteht die zentrale Funktion der Grund- und Menschenrechte darin, dem staatlichen Handeln – und damit auch der Polizei als Staatsorgan – Grenzen aufzuerlegen. Die Polizei wird durch die Grund- und Menschenrechte direkt verpflichtet, namentlich durch das Verbot der Folter und der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung oder Strafe (Art. 7 CCPR4, CAT5, Art. 3 EMRK6, Art. 10 Abs. 3 BV7), das Recht auf Leben (Art. 6 CCPR, Art. 2 EMRK, Art. 10 Abs. 1 BV), weitere Freiheitsrechte und das Diskriminierungsverbot (Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 CCPR, CERD8, Art.14EMRK, Art.8 BV). Polizeiliches Handeln ist demnach ausschliesslich innerhalb bestimmter Grenzen und basierend auf einer rechtlichen Grundlage, im öffentlichen Interesse und unter strenger Beachtung des Verhältnismässigkeitsprinzips zulässig.9 Bei einem glaubwürdigen Vorbringen schwerer Polizeigewalt verlangen die menschenrechtlichen Garantien darüber hinaus die Durchführung einer unabhängigen staatlichen Untersuchung.

Andererseits ist der Staat aber auch verpflichtet, die Bevölkerung vor Grund- und Menschenrechtsverletzungen durch Dritte (insb. Private) zu schützen; dies im Wissen um die entsprechenden Umstände, im Umfang seiner Möglichkeiten und unter Beachtung der grund- und menschenrechtlichen Unterlassungspflichten. In der Praxis geschieht dies regelmässig mit polizeilichen Mitteln. Die Polizei ist mit anderen Worten sowohl Gefährderin der Grund- und Menschenrechte als auch unerlässliche Garantin derselben – eine Doppelrolle, deren professionelle Ausführung in der Praxis viel Fingerspitzengefühl benötigt.10

Da umfassende statistische Erhebungen fehlen (Empfehlung p) und in der Schweiz keine spezifischen Straftatbestände bestehen, die explizit oder ausschliesslich bei übermässiger Gewaltanwendung durch Polizeiangehörige zur Anwendung kommen, ist eine differenzierte Einschätzung der Sachlage sowie eine Quantifizierung der Fälle von Rechtsverletzungen durch die Polizei schwierig.11 Dass polizeiliches Fehlverhalten auch in der Schweiz vorkommt, illustrieren aber sowohl Berichte von NGOs und Medien12 als auch zahlreiche Empfehlungen und Entscheide internationaler Menschenrechtsorgane. Die Überwachungsorgane der UNO bspw. zeigen sich nicht nur beunruhigt über die anhaltenden Meldungen zu Vorfällen übermässiger Gewaltanwendung, diskriminierendem Verhalten und anderen Missbräuchen durch die Polizei, sondern sind auch besorgt über das Fehlen eines unabhängigen und allgemein zugänglichen Beschwerdemechanismus sowie den Mangel an statistischen Erhebungen zur Anzahl Beschwerden, Strafverfahren und Verurteilungen.13

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) äusserte sich in jüngerer Vergangenheit soweit ersichtlich lediglich in zwei Urteilen zur Umsetzung der Menschenrechte im Polizeibereich in der Schweiz, wobei er beide Male zum Schluss kam, dass eine effektive Untersuchung fehlte: Im Entscheid Scavuzzo-Hager u. a. gegen Schweiz stellte er fest, dass ein Polizeieinsatz mit Todesfolge im Kanton Tessin nicht effektiv abgeklärt worden war (formelle Verletzung von Art. 2 EMRK);14 im Entscheid Dembele gegen Schweiz urteilte er, dass ein Schlagstockeinsatz im Kanton Genf unverhältnismässig war und nicht hinreichend untersucht worden war (materielle und formelle Verletzung von Art. 3 EMRK)15.

Ausgehend von den soeben zitierten Ausführungen der internationalen Menschenrechtsorgane werden nachfolgend mögliche Massnahmen zur Behebung bestehender Defizite der Polizeiarbeit in der Schweiz vorgestellt.

Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei verhindern: Ausbildung und Prävention

Massnahmen gegen Grund- und Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei können auf zwei Arten wirken: präventiv oder repressiv. Während letztere dort ansetzen, wo Verletzungen bereits geschehen sind, mit dem Ziel, diese zu beseitigen oder wiedergutzumachen, sollen erstere verhindern, dass diese überhaupt erst stattfinden. Im vorliegenden Kapitel wird zunächst auf die präventiven Massnahmen eingegangen, bevor nachfolgend mögliche repressive Massnahmen vorgestellt werden.

Menschenrechtsbildung verbessern

Ein wichtiges Instrument, um polizeilichem Fehlverhalten vorzubeugen, ist Grund- und Menschenrechtsbildung.16 Polizeiangehörige sollen ihre eigenen sowie auch die Grund- und Menschenrechte anderer kennen und diese als handlungsanleitende Werte verinnerlichen.17 Die Polizeiaus- und Weiterbildung muss daher einerseits klassische Lehrveranstaltungen zur Bedeutung der Grund- und Menschenrechte im Allgemeinen sowie zu den einzelnen Garantien im Speziellen umfassen. Andererseits muss sie auch spezifische Trainings im Bereich Stressbewältigung, Konfliktmanagement, Deeskalation und Gewaltprävention sowie regelmässige Schulungen über die rechtmässige, verhältnismässige und sichere Anwendung von Gewalt und Zwangsmassnahmen, interkulturelle Kommunikation, nichtdiskriminierendes Verhalten und den Umgang mit vulnerablen Personen beinhalten (Empfehlung c).18 Die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR) empfiehlt zudem dringend, auch die oft tabuisierte Problematik des institutionellen bzw. strukturellen Rassismus konsequent im Rahmen der Ausbildung anzusprechen.19

Strenge Auswahlkriterien, offene Fehlerkultur und Diversität

Abgesehen von einer umfassenden Grund- und Menschenrechtsbildung muss auch gewährleistet sein, dass sämtliche Polizist*innen den hohen Anforderungen ihres Berufs gewachsen sind. Dafür bedarf es einerseits strenger Auswahlkriterien im Einstellungsverfahren (Empfehlung d) und andererseits einer offenen Fehlerkultur innerhalb der Polizeikorps (Empfehlung f). Ausbildungsverantwortliche und die Polizeiführung haben unmissverständlich dafür einzustehen, dass eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Folter und anderen Formen von Misshandlung, unverhältnismässiger Gewaltanwendung und Diskriminierung herrscht.20 Grund- und Menschenrechtsverletzungen sollen angezeigt und rapportiert werden – nicht nur von Drittpersonen und Opfern, sondern auch oder gerade von beobachtenden Kolleg*innen innerhalb der Polizeikorps.

Darüber hinaus erscheint es zentral, dass die Zusammensetzung der Polizei die Diversität der Bevölkerung widerspiegelt – dies insbesondere in Anbetracht der anhaltenden Berichte über diskriminierendes Verhalten durch die Polizei. Polizeiteams sollen verschiedene Bevölkerungsgruppen angemessen repräsentieren (Empfehlung e).21 Eine Studie des SKMR zur Stadtpolizei Zürich aus dem Jahr 2017 hat diesbezüglich aufgezeigt, dass es insbesondere wichtig wäre, den Frauenanteil zu erhöhen und Personen mit Migrationshintergrund einzustellen.22

Gesetzliche Regulierung, kantonale Dienstanweisungen und Verhaltenskodizes

Da sich Polizeiangehörige im Alltag in erster Linie an den kantonalen Rechtsgrundlagen orientieren und allgemeine Normen (insb. auf internationaler Ebene) oft als abstrakt empfunden werden, empfiehlt das SKMR, grund- und menschenrechtliche Verpflichtungen explizit und praxisnah dort zu verankern und diese so zu formulieren, dass deren spezifische Bedeutung für die Polizeiarbeit ersichtlich wird (Empfehlung a).23 Durch die zusätzliche Einführung kantonaler Dienstanweisungen und Verhaltenskodizes können die rechtlichen Grundlagen weiter konkretisiert und damit der individuelle Ermessensspielraum einzelner Polizeiangehöriger zugunsten einer konsequenten Umsetzung der Grund- und Menschenrechte sowie einer einheitlichen Praxis eingeschränkt werden (Empfehlung b).

Good Practice: Dienstanweisung «Personenkontrolle» der Stadt Zürich

Seit November 2017 sind die Vorgehensweisen bei Personenkontrollen in der Stadt Zürich in einer Dienstanweisung festgehalten. Zudem wurde eine Web- Applikation entwickelt, die bei Personenkontrollen zum Einsatz kommt. Polizist*innen müssen bei allen Kontrollen Ort, Zeit, Grund und Ergebnis eintragen. Dies ermöglicht erstmals eine minimale statistische Übersicht.

Kennzeichnungspflicht

Die bisher beschriebenen Massnahmen setzen alle im Umfeld der Polizei selbst an. Obwohl solche internen Massnahmen von zentraler Bedeutung sind, ist gleichzeitig klar, dass sie nicht ausreichen. Damit Polizeimitarbeitende identifiziert und gegebenenfalls eine Anzeige oder Beschwerde gegen sie erhoben werden kann, ist es daher wichtig, dass sie bei der Ausübung ihrer Tätigkeit eine sichtbare Kennzeichnung tragen.24Den Polizeiangehörigen wird damit vor Augen geführt, dass sie nicht anonym arbeiten, sondern individualisierbare Vertreter*innen des Staats sind. So erleichtert eine derartige Kennzeichnungspflicht nicht nur das Vorgehen gegen fehlbare Polizist*innen, sondern hat auch eine vorbeugende Wirkung.25Aus denselben Gründen sollte zudem dafür gesorgt werden, dass sich Polizeimitarbeitende in Zivil in jedem Fall gegenüber der betroffenen Person – sowie auf Verlangen auch gegenüber Drittpersonen – ausweisen müssen.26

Aktuell sehen in der Schweiz nur einige Kantone eine Namensschild-Tragepflicht vor, wobei Einsätze von Spezialeinheiten, Risikoeinsätze und der Ordnungsdienst i. d. R. davon ausgeschlossen sind.27 Der Verzicht auf eine Kennzeichnungspflicht wird dabei meist damit begründet, dass Polizist*innen vor Repressalien geschützt werden sollen. Dieses Argument spricht indes nur gegen Namensschilder; eine individuelle Kennzeichnung mit Nummer verhindert Rückschlüsse auf die Identität, ermöglicht aber gleichzeitig eine Identifizierung.28 Das SKMR empfiehlt den Kantonen daher, eine umfassende Kennzeichnungspflicht durch Nummern einzuführen (Empfehlung g).

Video- und Audioaufzeichnungen

Opfer von Grund- und Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei haben oft mit einer schlechten Beweislage zu kämpfen. Um dem entgegenzuwirken, empfiehlt das SKMR die Einrichtung bzw. Ausweitung von Video- und Audioaufnahmen in Situationen, in denen Private in einem erhöhten Masse Polizeiangehörigen ausgeliefert sind.29 Dazu zählen: die audiovisuelle Aufzeichnung polizeilicher Einvernahmen, die heute meist nur schriftlich protokolliert werden; die Videoüberwachung in allen Bereichen der Polizeistationen, sofern dies nicht die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen verletzt (d. h. nicht in den Zellen) oder gegen ihr Recht auf vertrauliche Gespräche mit Ärzt*innen oder Anwält*innen verstösst;30 sowie der Einsatz von Bodycams bei Personenkontrollen31. Derartige Aufzeichnungen verbessern nicht nur die Beweissituation, sondern haben gleichzeitig auch eine präventive und deeskalierende Wirkung.32

Da sowohl das Erstellen als auch die Verwendung und Aufbewahrung von Video- und Audioaufnahmen in die Grund- und Menschenrechte der betreffenden Personen eingreift, ist eine Verankerung in einem Gesetz im formellen Sinne zwingend notwendig. Dabei ist insbesondere zu regeln, unter welchen Umständen eine Aufnahme zulässig bzw. vorgeschrieben ist, wie lange die Daten gespeichert und für welche Zwecke sie verwendet werden dürfen und wie und wann sie zu löschen sind (Empfehlung h).33

Community-Policing, interdisziplinäre Zusammenarbeit und externe Überwachung

Auch Ansätze des Community-Policing können die respektvolle Zusammenarbeit zwischen Polizei und Bevölkerung sowie das Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei festigen. Dabei geht es v. a. darum, soziale Probleme und Konflikte zu erkennen und gemeinsam Lösungen zu finden. Vielversprechend sind in diesem Zusammenhang auch interdisziplinäre Projekte mit Vereinen und NGOs sowie runde Tische mit Betroffenen, Expert*innen, Behördenvertreter*innen und Personen aus der Zivilgesellschaft.34

Als weitere präventive Massnahme empfiehlt das SKMR eine institutionalisierte externe Überprüfung der Polizeiarbeit durch ein unabhängiges Organ. Im Bereich polizeilicher Zwangsausschaffungen ausländischer Staatsangehöriger wird eine derartige Kontrolle in der Schweiz seit einigen Jahren durch die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter durchgeführt. Dieses Mandat könnte auf spezifische Polizeieinsätze ausgedehnt werden, wie dies bspw. bei der österreichischen Volksanwaltschaft der Fall ist.35

Good Practice: Präventive Menschenrechtskontrolle durch die

Volksanwaltschaft Österreich

Die Volksanwaltschaft ist seit Juli 2012 für den Schutz und die Förderung der Menschenrechte in Österreich zuständig. Im Rahmen ihres umfassenden Mandats überprüft sie u. a. auch die Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt durch die Behörden. In diesem Zusammenhang begleitet und beobachtet sie Polizeieinsätze bei Grossveranstaltungen, Razzien, Versammlungen und Demonstrationen. Dabei hat sie freien Zugang zur polizeilichen Kommunikation und den Einsatzdispositiven.

Wirksamer Rechtsschutz gegen polizeiliches Fehlverhalten

Weitere mögliche Massnahmen betreffen die Ebene des Rechtsschutzes. Diese ist u. a. deshalb wichtig, weil die weitgehende Straflosigkeit polizeilichen Fehlverhaltens als eine zentrale Ursache für schwere und systematische Grund- und Menschenrechtsverletzungen gilt. Vorgaben dazu finden sich in zahlreichen Garantien36, wobei im Folgenden die wichtigsten Aspekte hervorgehoben werden.

Anzeigepflicht und Tätigwerden von Amtes wegen

Zahlreiche internationale Abkommen verankern eine Meldepflicht an die Vor- gesetzten bzw. die Justizbehörden für Polizeiangehörige, wenn diese von schweren Menschenrechtsverletzungen Kenntnis erhalten.37 Liegt ein Verdacht auf ein strafbares Verhalten vor, sind zudem unverzüglich die zuständigen Strafbehörden zu informieren; wobei der EGMR explizit festgehalten hat, dass dies nicht nur für Vollzugsbeamt*innen gilt, sondern auch für diejenigen Behörden, die selber nicht zur Untersuchung der Vorfälle befugt sind.38 Eine entsprechen- de Anzeigepflicht ist auch in der Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO)39 vorgesehen (Art. 302 Abs. 1 StPO). Damit ihr in der Praxis tatsächlich nachgekommen wird, wäre eine zusätzliche, explizite Verankerung in den kantonalen Polizeigesetzen sowie in den Dienstanweisungen wünschenswert (Empfehlung i). Zudem ist eine offene Fehlerkultur innerhalb der Polizeikorps zentral. Das Europäische Antifolterkomitee (CPT) hält diesbezüglich fest:

«Too often the esprit de corps leads to a willingness to stick together and help each other when allegations of ill-treatment are made, to even cover up the illegal acts of colleagues. Positive action is required [...] to promote a culture where it is regarded as unprofessional – and unsafe from a career path standpoint – to work and associate with colleagues who have resort to ill-treatment [...]. An atmosphere must be created in which the right thing to do is to report ill-treatment by colleagues; there must be a clear understanding that culpability for ill-treatment extends beyond the actual perpetrators to anyone who knows, or should know, that ill-treatment is occurring and fails to act to prevent or report it. This implies the existence of a clear reporting line as well as the adoption of whistle-blower protective measures.»
40

Die Strafverfolgungsbehörden ihrerseits sind von Amtes wegen verpflichtet, im Rahmen ihrer Zuständigkeit ein Verfahren einzuleiten und durchzuführen, wenn ihnen Straftaten oder auf Straftaten hinweisende Verdachtsgründe bekannt werden (Art. 7 Abs. 1 StPO).41 Aus menschenrechtlicher Sicht ist dabei unerheblich, ob es sich um ein Antrags- oder Offizialdelikt handelt. Massgebend ist gemäss EGMR ausschliesslich, ob die Tat die Schwelle für eine schwere Konventionsverletzung erreicht (Todesfälle und Verletzungen durch Schusswaffen,42 unmenschliche oder erniedrigende Behandlung,43 rassistisch motivierte Gewalt44). Ist dies der Fall, ist unverzüglich und von Amtes wegen eine wirksame Untersuchung einzuleiten.

Unabhängige Untersuchung

Wirksam ist eine Untersuchung nur dann, wenn sie unabhängig ist – eine Vorgabe, die gerade im Fall von Grund- und Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei von besonderer Relevanz ist. Oft befinden sich Opfer von polizeilichem Fehlverhalten nämlich in beweistechnisch schwierigen Situationen: Ihr Vorwurf einer Rechtsverletzung richtet sich gegen exakt jene Behörde, die normalerweise strafrechtlich relevantes Fehlverhalten zu untersuchen hat. Deswegen verlangen die menschenrechtlichen Vorgaben eine unabhängige staatliche Untersuchung, damit das Opfer Vorwürfe schwerer Polizeigewalt wirksam darbringen kann.45

Um diese Vorgabe zu erfüllen, muss die Untersuchungsbehörde gemäss EGMR sowohl in hierarchisch-institutioneller als auch in tatsächlicher Hinsicht unabhängig sein.46 Ersteres ist offensichtlich nicht der Fall, wenn Angehörige des gleichen Polizeikorps oder einer anderen Behörde der gleichen Exekutivgewalt die Untersuchung durchführen. Bei Untersuchungen durch die Staatsanwaltschaften aber sehr wohl,47 weshalb diese von den Schweizer Behörden immer wieder als unabhängige Untersuchungsorgane dargestellt werden. Hier greift aber die zweite, ebenso relevante Bedingung, gemäss welcher im Einzelfall jede Befangenheit durch persönliche oder berufliche Beziehung ausgeschlossen werden können muss. Dies ist in der Schweiz aufgrund der engen Zusammenarbeit zwischen den Staatsanwaltschaften und den kantonalen Polizeieinheiten in aller Regel nicht möglich.48 Dies zeigt sich u. a. darin, dass Ermittlungen oft bereits im Rahmen der Voruntersuchung im Sande verlaufen, sich Kolleg*innen gegenseitig schützen und absprechen oder die Staatsanwaltschaft nicht konsequent ermittelt. Bis heute wurde dieser Umstand jedoch kaum zur Kenntnis genommen; die restriktive Rechtsprechung der Schweizer Gerichte zur Befangenheit genügt den Anforderungen der EMRK daher kaum.49 Was u. a. der Grund ist für die anhaltenden Forderungen internationaler Menschenrechtsorgane und auch des SKMR, in der Schweiz ein unabhängiges Untersuchungsorgan einzurichten (Empfehlung k).

Good Practice: Police Ombudsman for Northern Ireland (PONI)

Die nordirische Polizei-Ombudsstelle ist zuständig für alle Beschwerden gegen die Polizei und verfügt über polizeiliche Ermittlungskompetenzen. Sie kann aus eigenem Antrieb tätig werden und hat die Befugnis, der Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren zu empfehlen oder Disziplinarmassnahmen zu beantragen. Der Zugang ist niederschwellig, und sämtliche eingegangenen Beschwer- den werden registriert. Die Ombudsstelle kann auch Empfehlungen zur Verbesserung der Polizeiarbeit machen. Die Polizei ist verpflichtet, über deren Umsetzung Bericht zu erstatten. Rechenschaftspflichtig ist die Ombudsstelle ausschliesslich gegenüber dem Parlament. Damit ist das nordirische Modell im internationalen Vergleich jenes mit der weitreichendsten Unabhängigkeit.

Abgesehen von der Unabhängigkeit hat der EGMR vier weitere Kriterien für eine wirksame Untersuchung entwickelt: die Angemessenheit, die Unverzüglichkeit, die öffentliche Überprüfbarkeit und den Einbezug des Opfers.50 Die menschenrechtlichen Vorgaben verpflichten die Behörden zudem dazu, die für die Menschenrechtsverletzung verantwortlichen Personen zu identifizieren51 und diese gegebenenfalls angemessen zu bestrafen52 (Empfehlung m).

Recht auf eine wirksame Beschwerde

Opfer von Polizeigewalt haben zudem das Recht auf eine wirksame Beschwerde.53 Die einschlägigen Garantien fordern zwar keinen Zugang zu einem eigentlichen Gerichtsverfahren; die betroffene Person muss aber in jedem Fall an eine unabhängige und unparteiische Beschwerdeinstanz gelangen können, die in der Lage ist, die angefochtene Handlung gegebenenfalls aufzuheben bzw. deren Auswirkungen zu beheben (Empfehlung n).54

Beweiserleichterung

Mutmassliche Opfer von Grund- und Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei haben oft kaum die Möglichkeit, geltend gemachte Verletzungen nachzuweisen, weil bei derartigen Vorkommnissen i. d. R. keine Zeug*innen anwesend sind und keine oder kaum Beweismittel vorliegen. Um der daraus resultierenden prekären Beweissituation entgegenzuwirken, fordert der EGMR Beweiserleichterungen: Konkret hält er fest, dass Personen, die unter polizeilicher Kontrolle stehen und eine Menschenrechtsverletzung rügen, die behauptete Verletzung nur prima facie zu belegen haben, z. B. durch ein ärztliches Attest. Anschliessend obliegt es dem Staat, eine plausible Begründung für die Verletzung vorzubringen. Kommt der Staat seiner Erklärungspflicht nicht nach, oder ist die Erklärung nicht nachvollziehbar, trägt er das Risiko der Beweislosigkeit.55

Eine Rezeption dieser Rechtsprechung hat in der Schweizer Praxis bisher kaum stattgefunden, was u. a. auf den kaum auflösbaren Widerspruch zwischen der menschenrechtlich geforderten Beweiserleichterung und der strafprozessualen Unschuldsvermutung zurückzuführen ist. Letztere führt in der Praxis dazu, dass das Urteil im Strafverfahren, in dem oft Aussage gegen Aussage steht, in aller Regel zugunsten der Polizei ausfällt.

Hürden für die Prozessführung abbauen

Erschwerend kommt hinzu, dass es viele mutmassliche Opfer von Polizeigewalt gar nicht erst wagen, eine Strafanzeige einzureichen. Dies hängt nicht nur mit der fehlenden Unabhängigkeit der Untersuchungen und der oft prekären Beweissituation zusammen, sondern auch mit weiteren Prozessführungshürden. Strafanzeige zu erheben, bedeutet für die Betroffenen ein gewisses Kostenrisiko (vgl. Art. 427 f. StPO). Zudem müssen sie u. U. mit einer Gegenanzeige rechnen – wie das eingangs erwähnte Fallbeispiel exemplarisch aufzeigt. Gegenanzeigen wegen Gewalt und Drohung gegen Beamt*innen (Art. 285 StGB56) oder Hinderung einer Amtshandlung (Art. 286 StGB) sind in der Schweiz kein Einzelfall, und zwar auch dann nicht, wenn gar keine Indizien für eine Straftat vorliegen.57 Damit der Zugang zum Recht möglichst niederschwellig bleibt, müssen bestehende Hürden abgebaut werden: So wäre es u. a. wichtig, dass die Polizei auf Gegenanzeigen als Mittel zur Abschreckung verzichtet bzw. diese nur dann einsetzt, wenn objektive Indizien für eine Straftat vorliegen (Empfehlung j).58

Potenzial weiterer Rechtsverfahren ausschöpfen

Der Fokus bei Untersuchungen polizeilichen Fehlverhaltens liegt in der Schweiz fast ausschliesslich auf dem Strafverfahren – dies, obwohl grundsätzlich verschiedene Beschwerdemittel zur Verfügung stehen würden und das Strafverfahren strukturelle Schwächen im Hinblick auf die Umsetzung der Untersuchungspflicht aufweist. So kennt die Schweizerische Strafprozessordnung bspw. keine spezifischen Vorschriften für Verfahren gegen Polizeiangehörige. Eine klare Normierung der Zuständigkeiten und die Einführung schweizweit geltender Regelungen, die der besonderen Rolle der Polizei als Sicherheitsorgan und Teil der Strafverfolgungsbehörden gerecht werden, könnten in diesem Bereich Abhilfe schaffen.59 Zudem verlangt die Unschuldsvermutung im Strafverfahren den Nachweis der individuellen Schuld der angeklagten Person, während aus menschenrechtlicher Sicht die Frage im Vordergrund steht, ob die Institution Polizei als solche, und damit der Staat, für eine Menschenrechtsverletzung verantwortlich ist. Dies führt in der Praxis zu Situationen, in denen die Verantwortlichkeit der Polizei zwar unbestritten ist, die individuelle Verantwortung im Strafverfahren aber nicht nachgewiesen werden kann und es daher zu einem Freispruch kommt.60

Aus den genannten Gründen drängt es sich auf, vermehrt auch das Potenzial anderer möglicher Rechtsmittel – wie der StPO-Beschwerde (Art. 393 Abs. 1 Bst. a StPO),61 des Verwaltungsverfahrens62 oder der Staatshaftung63 – fruchtbar zu machen, zumal diese explizit darauf abzielen, die Verantwortlichkeit des Staats abzuklären (Empfehlung o). Die genannten Verfahren richten sich direkt gegen die agierende Behörde, namentlich die Polizei oder Staatsanwaltschaft, und nicht gegen einzelne Mitarbeitende. Damit sind sie auch geeignet, strukturelle und institutionelle Schwächen der Polizeibehörden an sich zu thematisieren.

Informelle Beschwerdemechanismen

Abgesehen von den soeben erwähnten Rechtsmitteln, existieren in der Schweiz auch informelle Beschwerdemechanismen, wie die Bürger*innenbeschwerde, die Aufsichtsbeschwerde und das Ombudsverfahren. Positiv hervorzuheben ist insbesondere das Ombudsverfahren: Es zeichnet sich aus durch seine Aussensicht und Unabhängigkeit, den niederschwelligen Zugang, die Befugnis der Ombudsperson, aus eigener Initiative tätig zu werden, das umfassende Akteneinsichtsrecht und die Möglichkeit, über den Einzelfall hinaus auf systematische Mängel aufmerksam zu machen und allgemeine Empfehlungen abzugeben.64 Aufgrund dieser Stärken empfiehlt das SKMR die flächendeckende Einführung derartiger Beschwerdemechanismen, die es in der Schweiz bisher nur in einigen Kantonen und Städten gibt. Für eine eigentliche Untersuchung fehlen den bisher eingesetzten Ombudspersonen aber die entsprechenden technischen Mittel und Ressourcen. Zudem verfügen sie weder über eigene polizeiliche Ermittlungskompetenzen noch über die Möglichkeit, verbindliche Leitlinien zu erlassen. So beschränkt sich ihre Aufgabe i. d. R. auf die Schlichtung von Konflikten zwischen Bevölkerung und Polizei.65

Empfehlungen

Ein starker Schutz der Menschenrechte in der Schweiz heisst:

a Die gesetzgebenden Behörden von Bund und Kantonen entwickeln die rechtlichen Grundlagen in Übereinstimmung mit den grund- und menschenrechtlichen Verpflichtungen sowie den internationalen Standards zur Polizeiarbeit fortlaufend weiter.
b Kantonale Dienstanweisungen und Verhaltenskodizes konkretisieren die rechtlichen Grundlagen und schränken den Ermessensspielraum für polizeiliche Handlungen ein.
c Die Aus- und Weiterbildung von Polizeiangehörigen vermittelt systematische Kenntnisse zu Grund- und Menschenrechten, nichtdiskriminierendem Verhalten, interkultureller Kommunikation, Gewaltprävention und zum Umgang mit vulnerablen Personen.
d Im Anstellungsverfahren werden strenge Auswahlkriterien angewendet, die gewährleisten, dass alle Polizist*innen die notwendigen persönlichen Voraussetzungen mitbringen.
e Die Zusammensetzung der Polizeibehörden spiegelt die Diversität in der Bevölkerung angemessen wider.
f Innerhalb der Polizeikorps herrscht eine offene Fehlerkultur.
g Die kantonalen Polizeigesetze verankern eine umfassende Kennzeichnungspflicht.
h Rechtliche Grundlagen halten fest, unter welchen Umständen eine Audio- oder Videoaufnahme zulässig bzw. vorgeschrieben ist, wie lange die Daten gespeichert und für welche Zwecke sie verwendet werden dürfen und wie und wann sie zu löschen sind.
i Die kantonalen Polizeigesetze und Dienstanweisungen sehen bei Hinweisen auf strafbare Handlungen von Polizeimitarbeitenden explizit eine Anzeigepflicht vor.
j Die Polizei verzichtet auf das Mittel der Gegenanzeige, wenn nicht objektive Indizien für ein Delikt vorliegen.
Fussnoten
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