Abschlusspublikation

Grund- und Menschenrechte als Leitlinien für die Bekämpfung von Pandemien

Publiziert am 05.10.2022

Einführung

Fallbeispiel: Besuch- und Ausgehverbote

Zur Bekämpfung der Coronapandemie galten für Alters-, Pflege- und Betreuungsinstitutionen in der Schweiz zeitweise restriktive Besuchs- und Ausgehverbote. 15 Prozent der Institutionen erlaubten z. B. zu mindestens einem Zeitpunkt keine Besuche bei sterbenden Menschen. Die Verbote wurden teils mit einschneidenden Massnahmen, wie der Abschliessung der Häuser, durchgesetzt. Im Kanton Zürich empfahl die Gesundheitsdirektion, Heimbewohner*innen, die das Ausgehverbot umgehen, einen weiteren Aufenthalt im Heim zu verbieten.

Fallbeispiel: Sexarbeiter*innen in Quarantäne

Um die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen, mussten Personen bei Verdacht auf eine Ansteckung bzw. bei positivem Testresultat für zehn Tage in Quarantäne. Eine solche Quarantänepflicht wurde auch 50 Sexarbeiter*innen auferlegt, die alle im selben Haus wohnten und arbeiteten, nachdem einige von ihnen positiv getestet worden waren. Medienberichten zufolge lebten die betroffenen Sexarbeiter*innen während der Quarantäne auf engstem Raum und ohne Möglichkeit, sich selbstständig zu verpflegen.

Die in der schweizerischen Bundesverfassung1 und in internationalen Abkommen2 verankerten Grund- und Menschenrechte3, wie das Recht auf Leben4 und das Recht auf Gesundheit5, 6, verpflichten die Schweiz dazu, Pandemien zu bekämpfen. Indem Bund und Kantone seit März 2020 Massnahmen ergreifen7, um die Coronapandemie einzudämmen, nehmen sie deshalb eine grund- und menschenrechtliche Pflicht wahr.

Die zum Schutz von Leben und Gesundheit getroffenen Massnahmen, wie Maskenpflicht, Berufsverbote, Quarantänepflicht oder Besuchsverbote in Alters- und Pflegeheimen, beschränken aber – erstens – andere national und international verankerte Grund- und Menschenrechte, wie das Recht auf persönliche Freiheit8, das Recht auf Versammlungsfreiheit9 oder das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard10. Zweitens haben die getroffenen Massnahmen auch negative Folgen für die Grund- und Menschenrechte, die sie schützen sollen, namentlich für das Recht auf Gesundheit. Drittens wirken sich die Pandemie und die zu ihrer Bekämpfung getroffenen Massnahmen unterschiedlich auf gewisse Bevölkerungsgruppen aus, wodurch bestehende Ungleichheiten verstärkt oder neue geschaffen werden.11

Sobald, wie im Pandemiefall, mehrere Grundrechtsdimensionen oder Grund- rechte mehrerer Personen betroffen sind, braucht es Abwägungen. Wie viel Achtung verdient ein Recht, wie viel Schutz das andere? In welchem Verhältnis steht die menschenrechtliche Pflicht zur Ergreifung von Schutzmassnahmen zur menschenrechtlichen Pflicht, Rechte und Freiheiten zu achten? Welche Pflichten hat ein Staat, wenn Massnahmen Bevölkerungsgruppen unterschiedlich hart treffen? Gestützt auf bestehende internationale und nationale Vorgaben sollen im Folgenden Leitlinien entwickelt werden, wie mit solchen Grundrechtskollisionen im Pandemiefall, in dem bei rasch ändernder Datenlage und unter hohem Zeitdruck gehandelt werden muss, umgegangen werden kann. Dabei wird zwar auf die Coronapandemie fokussiert, die Schlussfolgerungen sind aber auch auf andere Pandemien übertragbar.

Analyse

Menschenrechte gelten auch im Pandemiefall. Zwar sind im Notstand Abweichungen (sogenannte Derogationen)12 erlaubt. Diese sind aber an gewisse Voraussetzungen gebunden.13 Keine Abweichungen sind bei notstandsfesten Garantien, wie etwa dem Folterverbot14, erlaubt. Ohne Derogation sind Einschränkungen von Grund- und Menschenrechten unter Achtung der entsprechenden Kerngehalte15 erlaubt, wenn diese gesetzlich vorgesehen sind, im öffentlichen Interesse liegen, verhältnismässig sind16 und niemanden diskriminieren17.

Im Folgenden wird auf einzelne dieser Voraussetzungen eingegangen und anhand dreier Beispiele aus der Coronapandemie gezeigt, welche konkreten Vorgaben zum grund- und menschenrechtskonformen Umgang mit Pandemien sich daraus ableiten lassen. Die drei Beispiele sind: die Einschränkungen von Betrieben und Dienstleistungen, Quarantänepõichten sowie Einkaufs-, Ausgeh- und Besuchsverbote für ältere Menschen.

Diese Massnahmen wurden ergriffen, um die Verbreitung des Coronavirus einzuschränken und damit die öffentliche Gesundheit und das Gesundheitssystem sowie das Recht auf Leben, insbesondere auch jenes besonders verletzlicher Personen, zu schützen.18 Gleichzeitig schränkten sie zahlreiche Grund- und Menschenrechte ein, wie das Recht auf Selbstbestimmung19, das Recht auf Bewegungs-20 und Versammlungsfreiheit21, das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens22, das Recht auf Gesundheit23, die Wirtschaftsfreiheit24, das Recht auf soziale Sicherheit25 und das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard26. Sie sind deshalb exemplarisch für das Dilemma, das sich auch bei zahlreichen weiteren Massnahmen zeigt, z. B. der Maskenpflicht, der Zertifikatspflicht oder der Schliessung von Schulen. Die Schlussfolgerungen sind denn auch auf andere Massnahmen übertragbar.

Gesetzliche Grundlage und Kompetenzaufteilung

Jede Einschränkung eines Grund- oder Menschenrechts muss auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen. Diese muss von der zuständigen Behörde im dafür vorgesehenen Verfahren erlassen werden. Das Erfordernis der gesetzlichen Grundlage dient der Rechtssicherheit, der Rechtsgleichheit und der demokratischen Legitimität. Dabei braucht es für schwere Einschränkungen normalerweise eine Grundlage in einem Gesetz in formellem Sinn, d. h. einem Gesetz, das ein Parlament erlassen hat. Damit soll sichergestellt werden, dass die Grundrechtseinschränkungen von der Mehrheit der Volksvertreter*innen (bzw. vom Volk selbst) als nötig erachtet werden. Anders in Krisensituationen: Hier verschieben sich im Interesse rascher und effizienter Massnahmen staatliche Zuständigkeiten auf die Exekutiven, weshalb diese auch schwere Grundrechtseinschränkungen beschliessen dürfen.27 Weil die gesetzlichen Grundlagen in Krisen rasch geschaffen werden, sich schnell ändern und teils massiv in die Rechtsstellung vieler Personen eingreifen, müssen besondere Anstrengungen unternommen werden, ihren Inhalt breit bekannt zu machen (Empfehlung a).

In der Schweiz ist das Eidgenössische Epidemiengesetz die primäre gesetzliche Grundlage für Massnahmen zur Bekämpfung von Pandemien.28 Es legitimiert Bundesrat und Kantonsregierungen, Massnahmen zu ergreifen, die sonst in der Kompetenz der Legislative liegen. Die Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Kantonen regelt das Epidemiengesetz aber nur lückenhaft, wie die folgenden drei Beispiele aus der Coronapandemie zeigen.

Erstens war umstritten, ob die Kantone das Verhalten von Personen über 65 Jahren im öffentlichen Raum und in öffentlich zugänglichen Einrichtungen mittels Verboten regeln durften, während der Bund nur Empfehlungen ausgesprochen hatte. Diese Frage stellte sich konkret, nachdem die Kantone Tessin und Uri im Jahr 2020 restriktive Ausgeh- bzw. Einkaufsverbote für alle Personen ab 65 Jahren verfügt hatten. Das Bundesamt für Justiz stellte sich daraufhin auf den Standpunkt, dass die entsprechende Regelung auf Bundesebene abschliessend sei, d. h. dass nur Empfehlungen, nicht aber Verbote zulässig seien. Die Kantone Tessin und Uri nahmen die Verbote in der Folge freiwillig zurück.29

Zweitens herrschte Unklarheit darüber, wer für die Anordnung von Massnahmen gegenüber Bewohner*innen von Heimen zuständig war. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) kommunizierte zu Beginn ganz allgemein, dass Besuche von Angehörigen, Freund*innen und Bekannten in Alters- und Pflegeheimen verboten seien und Heimbewohner*innen keine Treffen ausserhalb der Einrichtung besuchen und keine Ausflüge unternehmen dürfen.30 Die damals geltenden Bundesratsverordnungen äusserten sich aber nicht zur Situation in Heimen. Auf Kantonsebene bestanden zu diesem Zeitpunkt unterschiedliche Regelungen. Zwar hatten tatsächlich einige Kantone restriktive Besuchs- und Ausgehverbote für Heime verhängt31, andere hatten aber darauf verzichtet32.

Drittens bestand Unsicherheit über die Kompetenzabgrenzungen zwischen den Kantonen und ihren Alters- und Pflegeinstitutionen. Gewisse Heime hatten bereits vor den kantonalen Besuchsverboten entschieden, keine Besucher*innen mehr zuzulassen.33 Ob sie dazu kompetent waren – bspw. aufgrund der polizeilichen Generalklausel, die in bestimmten Situationen ein Handeln ohne Gesetzesgrundlage ermöglicht34 –, ist auch angesichts der Tragweite der Massnahme fraglich.35

Die drei Beispiele zeigen: Unklare Zuständigkeiten führen nicht nur zu Rechtsunsicherheit, sondern auch zu unnötigen Grundrechtseinschränkungen, z. B. wenn Heime restriktivere Bestimmungen anwenden, als aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen erlaubt ist. Zusätzlich können unklare Verantwortlichkeiten auch dazu führen, dass weder Bund noch Kanton Schutzmassnahmen ergreifen – auch wenn diese zum Schutz von Leib und Leben erforderlich wären. Eine klare vertikale und horizontale Kompetenzteilung ist deshalb zum Schutz der Grund- und Menschenrechte in Pandemiesituationen zentral (Empfehlung b).

Verhältnismässigkeit

Beim Verhältnis zwischen Massnahmen zum Schutz von Leben und Gesundheit einerseits und den zu diesem Zweck verhängten Grundrechtseinschränkungen andererseits geht es um komplexe Grundrechtskollisionen, die mithilfe von Abwägungen zu lösen sind. Massstab dafür ist die Verhältnismässigkeit.36 Verhältnismässig ist eine Einschränkung dann, wenn sie geeignet, erforderlich und zumutbar ist.

Entscheidkriterien zur Bestimmung der Verhältnismässigkeit

Eignung bedeutet, dass mit den angeordneten Massnahmen das avisierte öffentliche Interesse tatsächlich erreicht werden kann. Erforderlichkeit meint, dass für die Verwirklichung des Eingriffszwecks kein milderes Mittel zur Verfügung steht.

Bei der Bestimmung der Eignung und Erforderlichkeit von Massnahmen sind die zuständigen Behörden auf eine enge Zusammenarbeit mit der Wissenschaft angewiesen.37 So spielen bei der Beurteilung der Eignung von Schutzmassnahmen Art und Weise der Verbreitung des Virus eine wichtige Rolle. Verbreitet sich ein Erreger wie das Coronavirus primär über die Luft mittels Aerosolen, braucht es zu seiner Bekämpfung andere Massnahmen, als wenn die Übertragung über bestimmte Körperflüssigkeiten oder die Schleimhäute erfolgt, wie dies z. B. bei sexuell übertragbaren Krankheiten der Fall ist. Ob eine Massnahme erforderlich ist, hängt u. a. damit zusammen, ob sie in einem angemessenen Verhältnis zu den Risiken steht, die dadurch verhindert werden sollen.38 Medizinische Erkenntnisse sind deshalb für die Bestimmung der Erforderlichkeit zentral. Je höher z. B. die Mortalitätsrate ist, umso eher sind einschneidende Massnahmen verhältnismässig.

Besonders schwierig ist es, die Verhältnismässigkeit zu beurteilen, wenn die Faktenlage (noch) ungewiss ist, wie es bei neu auftretenden Krankheiten der Fall ist. Je länger eine Pandemie dauert, desto mehr Informationen stehen jedoch zur Verfügung und desto einfacher wird es, die Eignung und Erforderlichkeit von Massnahmen zu beurteilen.39 Dies wirkt sich auf die Interessenabwägung und somit auf die Zumutbarkeit aus. So mögen Besuchsverbote in Heimen zu Beginn der Pandemie noch verhältnismässig gewesen sein; mit dem Wissen über deren negative gesundheitliche Auswirkungen40 und dem Vorhandensein wirksamer Gegenmittel, wie zum Beispiel der Impfung, waren sie dies jedoch nicht mehr. Massnahmen zur Eindämmung von Pandemien müssen deshalb periodisch einer neuen und umfassenden Verhältnismässigkeitsprüfung unterzogen werden, die sich an den aktuellsten wissenschaúlichen Erkenntnissen orientiert (Empfehlung c).

Verbote, Alternativen und Ausnahmen

Verbote als stärkste Form einer Einschränkung gilt es aufgrund des Verhältnismässigkeitsprinzips wenn immer möglich zu vermeiden bzw. sie persönlich, räumlich und zeitlich zu begrenzen. Alternative, mildere Massnahmen zu Besuchs- und Ausgehverboten oder Betriebsschliessungen sind z. B. Masken- und Testpflichten, die Nachverfolgung von Kontakten und eine allfällige Quarantäne. Stehen Alternativen zu Beginn einer Pandemie noch nicht zur Verfügung, müssen sie durch den Staat gefördert werden. So hätten im Interesse der Verhältnismässigkeit die Kontaktverfolgungs- und Testkapazitäten in den Kantonen rasch erhöht werden müssen (Empfehlung d).

Eine weitere Alternative zu Verboten stellen Schutzkonzepte dar. Auch ihre Entwicklung braucht Zeit, kann aber durch staatliche Massnahmen gefördert werden. Wichtig ist, dass Schutzkonzepte auch Präventionsmassnahmen für Arbeitnehmende beinhalten, die sich aufgrund prekärer Arbeitsbedingungen oder ihrer systemrelevanten Tätigkeit schlechter vor einer Infektion schützen können. Während der Coronapandemie galt dies etwa für den Gesundheits-, Lebensmittel- und Logistikbereich41 (Empfehlung e).

Bei der Zumutbarkeit geht es um die Angemessenheit von Massnahmen im Einzelfall. Um sie gewährleisten zu können, brauchen die rechtsanwendenden Behörden genügend Entscheidungsspielraum. Pauschale Verbote ohne Ausnahmen im Einzelfall sind selten für alle Menschen zumutbar und somit kaum mit dem Verhältnismässigkeitsprinzip vereinbar. Bspw. ist eine Maskenpflicht, die keine Ausnahme aus medizinischen Gründen vorsieht, unverhältnismässig42 (Empfehlung f).

Die von den Autor*innen konsultierten kantonalen Besuchsverbote für Heime enthielten alle Ausnahmebestimmungen, insbesondere für Besuche bei Sterbenden. Daneben wären aber bspw. auch Ausnahmen für demente oder seh- bzw. hörbeeinträchtige Personen wichtig gewesen, die von Besuchsverboten mangels Alternativen ungleich mehr betroffen waren43 (Empfehlung f).

Rechtsgleichheit und Nichtdiskriminierung als Grundsatz

Aufgrund des Rechtsgleichheitsgebots müssen Massnahmen so ausgestaltet sein, dass sie Personen nach Massgabe ihrer tatsächlichen Gleichheit bzw. Ungleichheit behandeln.44 Tun sie dies nicht, braucht es dafür sachliche Gründe. Knüpft die Gleich- bzw. Ungleichbehandlung an verpönten Unterscheidungsmerkmalen an, ohne dass es dafür besonders qualifizierte sachliche Gründe gibt, liegt eine Diskriminierung vor.45

Differenzierungsgebot

Weil die Rechtsgleichheit dazu verpflichtet, ungleiche Situationen ungleich zu behandeln, erfordert sie Differenzierungen. Dies gilt in Pandemien etwa, wenn das Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf nicht bei allen Bevölkerungsgruppen gleich hoch ist. Zur Risikogruppe zählte der Bund zu Beginn alle Personen ab 65 Jahren.46 Dabei handelt es sich jedoch um eine äusserst heterogene Gruppe.47 Dass der Bund ihnen gegenüber nur Empfehlungen erliess und gegenüber der kleineren, im Durchschnitt älteren und verletzlicheren Gruppe der Heimbewohner*innen Verbote zum Zug kamen, ist vor dem Hintergrund des Differenzierungsgebotes sinnvoll.48 Jedoch hätte es auch innerhalb bzw. zwischen den Heimen Differenzierungen gebraucht grössere Heime haben eher Möglichkeiten, mittels räumlicher Trennung unterschiedliche soziale Kontaktmodelle umzusetzen49 (Empfehlung g).

Auch bei der Schliessung von Betrieben und Dienstleistungserbringungen wurde differenziert: In einer ersten Phase schränkte der Bund nur Betriebe und Dienstleistungen mit einem erhöhten Übertragungsrisiko ein.50 Dazu zählte er bspw. öffentlich zugängliche Einrichtungen wie Einkaufsläden, Restaurants, Bars, Museen und andere Unterhaltungs- sowie Freizeitbetriebe. Aufgrund des vereinfachten Übertragungswegs eingeschränkt wurden auch «personenbezogene Dienstleistungen mit Körperkontakt», namentlich Haarsalons und Massage- studios. Nicht eingeschränkt wurden jedoch Betriebe und Dienstleistungen – auch solche, die «personenbezogene Dienstleistungen mit Körperkontakt» anboten –, wenn ihnen eine gewisse Systemrelevanz zugesprochen wurde. So gab es z. B. Ausnahmen für Lebensmittelläden, Apotheken, Poststellen, Banken, Spitäler oder Physiotherapien.51 Zentral für die Akzeptanz solcher Differenzierungen ist eine sachliche Begründung. Solche Begründungen hätten bei der Kommunikation von Pandemiemassnahmen seitens der Behörden stärker betont werden müssen52 (Empfehlung g).

Grundsatz der Nichtdiskriminierung

Massnahmen können direkt oder indirekt diskriminierend sein. Eine direkte Diskriminierung liegt bei einer Differenzierung vor, die an verpönte Unterscheidungsmerkmale (z. B. Alter, Geschlecht, Behinderung, Herkunft) anknüpft. Eine Diskriminierung läge etwa vor, wenn allen über 65-jährigen Menschen ohne sachliche und vernünftige Gründe der Zugang zu öffentlich zugänglichen Orten verwehrt würde. In der Coronapandemie werden Einschränkungen hingegen meist neutral formuliert und erscheinen damit auf den ersten Blick nicht diskriminierend. Auch solche vermeintlich neutralen Regelungen können aber indirekt diskriminierend sein, wenn sie in ihren praktischen Auswirkungen primär oder ausschliesslich Menschen mit solchen Merkmalen benachteiligen. Bspw. können schwerhörige oder gehörlose Menschen aufgrund der Maskenpflicht nicht Lippen lesen und werden dadurch teilweise von Informationen oder von der Gesprächsteilhabe ausgeschlossen. Trifft die Quarantänepflicht Personen mit Betreuungspflichten, so können sie diese für die Isolations- bzw. Quarantänezeit grundsätzlich nicht mehr wahrnehmen. Die bestehende Lohnfortzahlungspflicht in der Coronapandemie deckt dabei nur einen Teil der anfallenden Arbeit ab. Informelle bzw. unbezahlte Arbeit, die mehrheitlich von Frauen erbracht wird, ist bspw. nicht erfasst.53 Auch mit der Quarantänepflicht einhergehende zusätzliche Aufwendungen, namentlich für Kinderbetreuung oder Betreuung von älteren Angehörigen, sind nicht abgedeckt (Empfehlung h).

Gewährleistungspflichten und besonderer Schutz vulnerabler Personen

Ergreift der Staat Massnahmen, um eine Pandemie zu bekämpfen, kann daraus die Pflicht zu staatlichen Ausgleichsmassnahmen54 entstehen. Dies ist namentlich in den Bereichen Beschäftigung und Lebensunterhalt55, Unterkunft10, Ernährung, Bildung56, soziale Sicherheit und Gesundheit57 der Fall. Schliesst ein Staat Betriebe, verordnet er eine Quarantänepflicht oder verhängt er ein Besuchsverbot in Heimen, muss er deshalb vorgängig Abklärungen treffen, inwiefern staatliche Unterstützung für deren Einhaltung und die Abmilderung der negativen Folgen notwendig sind. Können Personen aufgrund der Quarantänepflicht ihre Subsistenzbedürfnisse nicht selbstständig befriedigen, entstehen dem Staat zusätzliche Pflichten.58

Auf Bundesebene gab es Regelungen, die bei einem Erwerbsausfall aufgrund der Coronamassnahmen eine Entschädigung vorsahen.59 Damit konnten aber nur gewisse negative Konsequenzen von Betriebsschliessungen, Quarantänepflichten und weiteren Massnahmen ausgeglichen werden. Vorausgesetzt war ein Umsatzrückgang von mindestens 55 Prozent60, was für Arbeitnehmer*innen mit tiefen Einkommen61 problematisch war. Diese verdienen oft so wenig, dass bereits geringere Einbussen sehr prekäre finanzielle Verhältnisse bewirken. Es braucht deshalb auch Soforthilfen jenseits des Erwerbsausfalls, um Personen in prekären und informellen Arbeitsverhältnissen zu schützen (Empfehlung i und j).

Good Practice: Unterstützung für Sexarbeiter*innen

Verschiedene Fachstellen, die sich für die Rechte von Sexarbeiter*innen einsetzen, bauten mit Hilfe von Projektgeldern des BAG eine nationale Koordinationsstelle zur Unterstützung von Sexarbeitenden während der Coronapandemie in der Schweiz auf. Durch den Notfonds konnten Sexarbeiter*innen, die durch das staatliche Unterstützungsnetz62 fielen, mit niederschwelligen Beratungen und Nothilfe in Form von Lebensmitteln, Medikamenten, Notunterkünften und/ oder der Begleichung von medizinischen Kosten und Krankenkassenprämien unterstützt werden63.

Um die negativen Folgen von Besuchs- und Ausgehverboten, wie etwa Isolation und Vereinsamung, abzumildern, schufen viele Heime zusätzliche heiminterne Begegnungsmöglichkeiten – sei es unter Bewohner*innen, mit Pflegepersonal oder mit seelsorgerisch, psychologisch und therapeutisch tätigen Personen.64 Solche Initiativen dürfen aber nicht dem Zufall überlassen werden. Heime sind an die Grund- und Menschenrechte gebunden und damit verpflichtet, mit geeigneten Massnahmen dazu beizutragen, sie auch im Pandemiefall zu verwirklichen. Dazu brauchen sie die Unterstützung von Gemeinden, Kantonen und Bund, sei es bei der präventiven Entwicklung von Notfallplänen, sei es bei der Übernahme allfälliger Mehrkosten, die durch die ergriffenen Massnahmen ausgelöst werden65 (Empfehlung j).

Die Pandemie, insbesondere auch die Quarantänemassnahmen, fördern die Risikofaktoren für häusliche Gewalt. Bund und Kantone haben deshalb eine «Task Force Häusliche Gewalt und Corona» eingerichtet, die regelmässig Lagebeurteilungen anhand der Informationen der Einsatzbehörden, der kantonalen Opferhilfestellen und der Schutzunterkünfte vornimmt66 (Empfehlung i und j).

In zahlreichen Kantonen führten die Massnahmen, insbesondere die Quarantänepflicht, auch zu schwierigen Unterbringungssituationen für Personen in Asyl- und Nothilfeunterkünften (z. B. enge Platzverhältnisse, mangelnder Zugang zu sanitären Anlagen).67 Der Staat hat bei Personen im Sonderstatusverhältnis besondere Gewährleistungspflichten. Menschenrechtliche Kerngehalte, wie die Menschenwürde, und Minimalgarantien bilden auch in Notsituationen einen absoluten Mindeststandard.68 Dies ist bei den Abwägungen über die Ein- und Umsetzung von Massnahmen stets zu berücksichtigen (Empfehlung i und j).

Verfahrensrechtliche Aspekte, Evaluation und Prävention

Entscheidfindung und Planbarkeit

Betroffene sollen wenn immer möglich in die sie betreffenden Entscheidverfahren einbezogen werden. Aufgrund der Dringlichkeit genügen im Pandemiefall anfangs kurze, vielleicht gar mündliche Stellungnahmen einzelner zentraler Akteur*innen. Mit zunehmender Dauer sind Interessenorganisationen und Direktbetroffene in die Entscheidfindung miteinzubeziehen.69 Ein positives Beispiel bildet hier das oben erwähnte Schutzkonzept für Sexarbeiter*innen, das durch spezialisierte Organisationen zusammen mit Sexarbeiter*innen erarbeitet wurde.70

Bei der Entscheidfindung zentral ist auch der Einbezug von Wissenschaftler*innen möglichst aller relevanten Disziplinen. Ein im Auftrag des BAG verfasster Evaluationsbericht empfiehlt den Behörden, bei einer zukünftigen Pandemie Expert*innen aus Gesundheits-, Sozial- und Gesellschaftswissenschaften enger in den Entscheidungsfindungsprozess einzubeziehen71 (Empfehlung k).

Wichtig für die Entscheidakzeptanz ist zudem eine gewisse Vorhersehbarkeit. Zum Schutz ihrer Existenz sind insbesondere privatwirtschaúliche Betriebe auf Planbarkeit angewiesen. Im Winter 2020 wurde der Betrieb von Restaurants und Bars, der seit Mai 2020 unter Einhaltung von Schutzkonzepten wieder erlaubt war72, erneut eingeschränkt und kurz darauf verboten.73 Diese unübersichtlich und rasch erfolgten Änderungen staatlicher Regeln sind aufgrund der fehlenden Rechtssicherheit nicht unproblematisch (Empfehlung l).

Good Practice: Corona-Ampel

Eine gewisse Voraussehbarkeit können Stufenpläne bringen, die in zahlreichen Ländern eingesetzt werden.74 In Österreich gibt es eine sogenannte Corona-Ampel, die auf einer Karte die Risikoeinschätzung für Österreich aufzeigt. Diese bezieht sowohl die Gefährdung der öffentlichen Gesundheit (Verbreitungsrisiko) als auch die Gefahr der Überlastung des Gesundheitsversorgungssystems (Systemrisiko) mit ein.75 In der Schweiz gab es bis im Frühling 2021, als das Drei-Phasen-Modell eingeführt wurde, keinen offiziellen Stufenplan.76

Nachvollziehbarkeit der Entscheide und transparente Kommunikation

Die Kriterien für die Entscheidfindung über Öffnung und Schliessung unterschiedlicher Betriebe waren in der Schweiz nicht immer klar ersichtlich.77 Eine Begründung solcher Entscheide verbessert deren Akzeptanz erheblich, kann Grundlage für einen Dialog mit betroffenen Interessengruppen sein und sich somit positiv auf die zukünftige Entscheidqualität auswirken (Empfehlung m).

Für die Akzeptanz von Massnahmen ist auch wichtig, dass über die einmal ge- troïenen Massnahmen sowie Hilfs- und Unterstützungsangebote transparent und in geeigneter Form und Sprache informiert wird.78 Dazu braucht es etwa die Übersetzung in möglichst viele Sprachen, insbesondere auch in Gebärdensprache und in Leichte Sprache.79 Positiv ist, dass das BAG bereits am 13. März 2020 in Leichter Sprache über das Coronavirus informierte80 (Empfehlung m).

Aufsichts-, Kontroll- und Beschwerdemechanismen

Der Staat muss nicht nur Massnahmen anordnen, sondern hat auch für deren Durchsetzung zu sorgen. So galt es etwa, die Umsetzung der Besuchsverbote durch die Heime zu überwachen und sicherzustellen, dass der Verhältnismässigkeitsgrundsatz gewahrt blieb. Dass dies nicht immer der Fall war, lässt eine Befragung von Alters-, Pflege- und Betreuungsinstitutionen vermuten, gemäss der es in 15 Prozent der Institutionen vorübergehend nicht möglich war, Sterbenden einen letzten Besuch abzustatten81 (Empfehlung n).

Auch die Einhaltung der für die Gesundheit von Mitarbeitenden zentralen Schutzkonzepte muss garantiert sein.82 Dazu braucht es entsprechende staatliche Massnahmen wie Informationskampagnen, insbesondere auch an informellen Arbeitsorten, Arbeitsinspektionen und technische Hilfe, die kleine Unternehmen bei der Umsetzung unterstützen83 (Empfehlung n).

Besonders geeignet für diese Aufsichts- und Kontrollfunktion sind Anlauf- oder Ombudsstellen, bei denen Verstösse anonym gemeldet werden können. In Ländern, die eine nationale Menschenrechtsinstitution haben, spielte auch diese häufig eine wichtige Rolle und konnte bspw. Beschwerden annehmen oder neue Gesetze kritisch kommentieren (Empfehlung n und p).

Good Practice: Aufsicht in Pandemiezeiten

In Österreich hat die Nationale Menschenrechtsinstitution (die Volksanwaltschaft) das Mandat, öffentliche und private Einrichtungen, in denen Menschen in ihrer Freiheit eingeschränkt sind, zu überprüfen. Dazu gehören auch Alters- und Pflegeheime. Zwar wurden die Kontrollbesuche während des ersten Lockdowns ausgesetzt. Zum einen wurden in dieser Zeit aber 166 Telefoninterviews mit Pflegedienstleister*innen durchgeführt. Konkrete Beschwerden wurden mittels Videokonferenz mit den Heimen besprochen. Zum anderen wurde schnell nach Lösungen gesucht, um die Besuche wieder aufnehmen zu können. Bereits Anfang Juni konnten so wieder Kontrollen vor Ort stattfinden.84

Allfällige Verletzungen von Rechten müssen gerichtlich geltend gemacht werden können, was in der Schweiz nicht immer möglich ist85 (vgl. Kapitel 1). Gegenüber vulnerablen Personen ist die Information über Beschwerdemechanismen aufgrund der teils sehr kurzen Beschwerdefristen besonders wichtig (vgl. Kapitel 6).

Evaluation

Um sicherzustellen, dass künftige Massnahmen gegen die Coronapandemie oder andere Pandemien möglichst menschenrechtskonform sind, braucht es eine umfassende, transparente und nachvollziehbare Aufarbeitung der Pandemiebekämpfung.86 Erste Schritte sind bereits erfolgt: Einzelne Heime etwa haben Rechenschaúsberichte über die von ihnen getroffenen Massnahmen verfasst.87 Zudem gab das BAG eine Studie zur Analyse der Situation von älteren Menschen und von Menschen in Institutionen während der Coronakrise in Auftrag, die den Behörden für zukünftige Pandemien eine Reihe von Empfehlungen gibt88 (Empfehlung o).

Nicht zuletzt kann die Schaffung einer starken und unabhängigen nationalen Menschenrechtsinstitution dazu beitragen, zukünftige Pandemien im Sinne der Grund- und Menschenrechte zu bewältigen (Empfehlung p).

Prävention: Aus- und Weiterbildung

Grund- und Menschenrechte beinhalten auch die Pflicht des Staats, präventiv tätig zu werden, um vorhersehbare Gefahren möglichst zu verhindern oder abzumildern.89 Neben der rechtzeitigen Schaffung einer gesetzlichen Grundlage zur effektiven Pandemiebekämpfung – wie es in der Schweiz durch das Epidemiengesetz geschehen ist – gehören dazu auch sektorspezifische Pandemiepläne, bspw. für Gesundheitseinrichtungen und Heime, die sich z. B. zu Zuständigkeiten, Koordinationsmechanismen und Aufsichtsmassnahmen äussern. Präventive Massnahmen umfassen aber auch den Bereich der Aus- und Weiterbildung, z. B. von Behördenmitgliedern oder Heimleiter*innen, und die Sicherstellung von ausreichend Kapazitäten der Gesundheitseinrichtungen und die Lagerung von genügend Schutzmaterial (Empfehlung q).

Empfehlungen

Ein starker Schutz der Menschenrechte in der Schweiz heisst:

a Eine breite Kommunikation in möglichst vielen Sprachen stellt sicher, dass die aktuellen gesetzlichen Grundlagen bekannt sind.
b Die Kompetenzteilung zwischen den unterschiedlichen staatlichen Ebenen ist klar (vertikale und horizontale, positive und negative Kompetenzteilung).
c Die Behörden prüfen die angeordneten Massnahmen periodisch und umfassend auf ihre Verhältnismässigkeit. Die Überprüfung orientiert sich an den aktuellsten wissenschaftlichen Erkenntnissen.
d Allgemeine Verbote werden nach Möglichkeit vermieden, und alternative, weniger einschneidende Massnahmen werden gefördert.
e Schutzkonzepte sehen für besonders exponierte Arbeitnehmer*innen zusätzliche Schutzmassnahmen und Unterstützung vor.
f Verbote enthalten Ausnahmebestimmungen, die allfällige Besonderheiten berücksichtigen.
g Die angeordneten Massnahmen erfolgen möglichst differenziert und tragen tatsächlichen Unterschieden Rechnung.
h Eine umfassende vorgängige Abklärung vor Erlass neuer Bestimmungen oder deren Anwendung im Einzelfall stellt sicher, dass die Massnahmen keine direkten oder indirekten Diskriminierungen zur Folge haben.
i Die Behörden unterstützen die Einhaltung wie auch die Abmilderung der staatlichen Massnahmen bzw. möglicher negativer Folgen derselben.
j Die Behörden beachten besondere Sorgfalts- und Handlungspflichten gegenüber Personen, die in prekären Verhältnissen leben.
k Betroffene und ihre Interessenorganisationen werden möglichst in alle Entscheidungen, die sie betreffen, einbezogen.
l Die Behörden kommunizieren mit Stufenplänen oder Szenarien, um die Rechtssicherheit zu erhöhen.
m Entscheide über getroffene Massnahmen und Unterstützungsangebote werden begründet und in geeigneter Form und Sprache kommuniziert.
n Die Behörden beaufsichtigen und kontrollieren die Einhaltung ihrer Anordnungen, insbesondere in Einrichtungen, in denen besonders vulnerable Personen leben.
o Der Umgang mit Grund- und Menschenrechten wird im Nachgang zu einer Pandemie umfassend evaluiert.
p Die Nationale Menschenrechtsinstitution wird systematisch in die Entscheidfindung, Aufsicht und Evaluation eingebunden.
q Präventive Massnahmen im Bereich Planung, Aus- und Weiterbildung sowie Infrastruktur unterstützen die grundrechtskonforme Bewältigung zukünftiger Pandemien.
Fussnoten
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