Abschlusspublikation

Eine kinderfreundliche Justiz ist gar nicht so schwierig

Publiziert am 28.09.2022

Einführung

Fallbeispiel: Kindesvertretung im Kindesschutz

Marius ist 9 Jahre alt und wächst bei seiner alleinerziehenden Mutter auf. Der Vater hat bisher keine Betreuungspflichten wahrgenommen, seine Vaterschaft ist aber anerkannt. Die Mutter von Marius hat seit Jahren psychische Probleme, ist jedoch in der Lage, wenn nötig, Hilfe bei Fachpersonen und Institutionen zu organisieren. Zudem bestand von Anfang an eine Kindesschutzmassnahme in Form einer Erziehungsbeistandschaft. Phasenweise gab es auch eine sozialpädagogische Familienbegleitung und Aufenthalte in einer Eltern-Kind-Abteilung in einer Klinik.

Marius ist seit einiger Zeit in der Schule auffällig, und seine Leistungen nehmen ab. Es gibt immer häufiger Probleme zwischen ihm und seiner Mutter – Marius verhält sich trotzig, abweisend, er gehorcht nicht. Mittlerweile ist sein Vater in einer stabileren Lebensphase und führt eine Beziehung. Marius geht daher seit einiger Zeit zu ihm zu Besuch und äussert den Wunsch, dass er öfters zum Vater gehen möchte. Die Mutter bittet die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) in dieser Phase um Hilfe. Bei der Behörde ist eine neue Person zuständig, die ein Erziehungsgutachten für die Mutter in Auftrag gibt. Aufgrund dieses Gutachtens platziert die KESB Marius ein halbes Jahr später für weitere Abklärungen in einem Kinderheim.

Marius erhält eine Kindesvertretung, die beauftragt wird, seine Interessen im Verfahren einzubringen, ihn zu informieren und während des Verfahrens zu begleiten. Nach gut drei Monaten Aufenthalt im Heim spricht die KESB dem Vater das alleinige Sorgerecht für das Kind zu, und Marius wohnt von da an bei seinem Vater. Der Mutter wird zuerst ein begleitetes und dann ein unbegleitetes 14-tägliches Besuchsrecht mit Ferienregelung sowie zweimal pro Woche ein 15-minütiges Telefongespräch gewährt. Das Mandat der Kindesvertretung endet mit diesem Entscheid.

Marius wird der Entscheid damit erklärt, dass seine Mutter nicht mehr richtig zu ihm schauen könne und es deshalb besser sei, wenn er bei seinem Vater lebe. Damit ist Marius grundsätzlich einverstanden, er möchte aber seine Mutter öfters sehen. Die Mutter wehrt sich vehement gegen den Entscheid. Der Kindsvater besteht streng auf den verfügten Kontaktrechten. Marius versteht nicht, dass er nicht mit seiner Mutter telefonieren kann, wie er möchte. Das Elternverhältnis ist mittlerweile hochstrittig, und Marius bleibt diesen grossen Spannungen zwischen Vater und Mutter allein ausgesetzt.

Auf den ersten Blick ist in diesem Kindesschutzfall verfahrensrechtlich alles korrekt abgelaufen: Marius erhält eine Kindesvertretung gemäss Art. 314abis Zivilgesetzbuch (ZGB)1, die seine Interessen vertritt. Die Kindesvertretung endet in der Schweiz aber mit dem Entscheid der Behörde. Ebenso hat die Beiständ*in nicht in erster Linie die Aufgabe, die Interessen von Marius zu vertreten, sondern die bereits bestehende Erziehungsbeistandschaft der KESB umzusetzen. Aus diesen Gründen kommt es dazu, dass Marius in seiner höchst einschneidenden und strittigen Situation – deren Ende nicht absehbar ist – weitgehend auf sich allein gestellt bleibt.

Eine kinderfreundliche Justiz (engl. child-friendly justice) richtet sich nach den spezifischen Bedürfnissen von Kindern. Orientierung dafür bieten vorab die Leitlinien des Ministerkomitees des Europarats für eine kindgerechte Justiz (Guidelines of the Committee of Ministers of the Council of Europe on child-friendly justice, 2010, nachfolgend CFJG).2 Diese stehen neben weiteren internationalen und nationalen rechtlichen Grundlagen, allen voran Art. 12 der Kinderrechtskonvention (CRC), die am 26. März 1997 in der Schweiz in Kraft getreten ist,3 und Art. 11 Bundesverfassung (BV),4 welche die Kinderrechte und den Kindesschutz regeln, wie die Studien des SKMR der letzten Jahre aufgezeigt haben5 (vgl. hierzu auch Kapitel 12).

Die CFJG wollen die Kinderrechte und namentlich das Partizipationsrecht nach Art. 12 CRC in sämtlichen Gerichts- und Verwaltungsverfahren realisieren. Eine kindgerechte Justiz – wir bevorzugen den Begriff «kinderfreundlich»6 – ist eine, die auf der Seite des Kindes steht und dieses mit Offenheit, Freundlichkeit, Wohlwollen und Fairness behandelt. Die CFJG sehen folgende Grundprinzipien vor7:

  • Beteiligung (Partizipation): Das Kind soll jederzeit als vollwertige*r Rechtsträger*in behandelt und informiert werden.
  • Schutz vor Diskriminierung: Die Rechte eines jeden Kindes sollen ohne Diskriminierung (Geschlecht, Herkunft, Alter, Religion etc.) sichergestellt werden.
  • Rechtsstaatlichkeit: Das Verfahren muss ordnungsgemäss verlaufen.
  • Kindeswohl: Die übergeordneten Kindesinteressen sind dabei bestmöglich zu beachten.
  • Würde: Die physische und psychische Integrität des Kindes ist jederzeit zu respektieren.

Allgemeine Elemente der Leitlinien bilden Information und Beratung des Kindes sowie dessen Schutz (Privatsphäre, Familienleben) und Sicherheit. Dazu gehört, dass Kindern während des Verfahrens Verständnis entgegengebracht wird und die Behörden entsprechend geschult werden, bspw. in Bezug auf die Anwendung eines multidisziplinären Ansatzes, inklusive kindgerechter Anhörungsmethoden. Ebenfalls soll für die Veröffentlichung entsprechender Informationsmaterialien für Kinder gesorgt werden. Mittels dieser Leitlinien kann vor, während und nach einem Verfahren eine kinderfreundliche Justiz etabliert werden. Aus diesen Gründen haben diese Leitlinien heute europaweit eine Modellfunktion zur Umsetzung der Partizipation von Kindern im Justizbereich erlangt.

In diesem Kapitel geht es in erster Linie um die Kinderperspektive: Was bedeutet eine kinderfreundliche Justiz vor, während und nach einem solchen Kindesschutzverfahren für ein Kind wie Marius? Ein Verfahren, in dem darüber entschieden wird, bei welchem Elternteil er leben soll und welche Kontakte er zum andern Elternteil haben kann? In diesem Kapitel geht es daher nicht um die Interessen der Eltern, die durch Anwält*innen vertreten sind, oder die Interessen der anderen involvierten Fachpersonen (bspw. Beiständ*in, Behörde), sondern um die Kinderrechtsperspektive. Aus dieser Perspektive ist es gemäss den CFJG und Art. 12 CRC nicht hinreichend, wenn die Unterbringung im Heim und der nachfolgende Entscheid zum elterlichen Sorgerecht formell rechtlich korrekt erfolgen.

Analyse

Angepasst an die Bedürfnisse von Kindern

Von der Information vor einem Verfahren bis zur Begleitung nach Verfahrensabschluss

Eine kinderfreundliche Justiz ist eine, die an die Bedürfnisse von Kindern angepasst ist. Das bedeutet zunächst einmal, dass Kinder überhaupt den Zugang zur Justiz finden. Ein Kind muss also wissen, dass es Rechte hat und wie es die Justiz erreichen kann, und es dürfen ihm keine Kosten auferlegt werden.8

Nach den CFJG sind einem Kind ab Beginn eines Verfahrens – als beteiligte oder betroffene Person – (eigenständig9) alle relevanten und notwendigen Informationen zur Verfügung zu stellen.10 Kinder sollen wissen, was auf sie zukommt, und sie sollen ihre Rechte kennen. Sie sollen über die Möglichkeiten Bescheid wissen, die sie nutzen können, um ihre Rechte auch tatsächlich wahrzunehmen oder sie gegebenenfalls verteidigen zu können. Ausserdem ist das Kind während der gesamten Verfahrensdauer weiterhin umfassend zu informieren.

Good Practice: Handbuch des Europarats zur Partizipation von Kindern

In seinem «Handbook on children's participation for professionals working for and with children»11 von 2020 definiert der Europarat das Recht wie folgt:

«[...] Partizipation ist freiwillig. Es ist wichtig, dass die Kinder wissen, dass sie das Recht haben, nicht teilzunehmen oder sich aktiv für eine Teilnahme zu entscheiden. Kinder sollten aufgefordert werden, eine Einverständniserklärung zu unterschreiben, und sie sollten Zeit haben, darüber zu sprechen, was dies bedeutet, bevor die Partizipation in einem Verfahren beginnt. Sie sollten auch darauf hingewiesen werden, dass sie ihre Zustimmung jederzeit zurückziehen können.

Wenn Sie Kinder zur Teilnahme einladen, sollten Sie sicherstellen, dass diese zu folgenden Punkten informiert werden:

  • Thema des Verfahrens
  • was Sie tun und warum – den Hintergrund
  • was Sie mit den erhaltenen Informationen tun werden [...]»12

Im Verlaufe des Verfahrens ist das Kind über alle Phasen des Verfahrens zu informieren, und die Entscheide sind ihm gut zu erklären. Eine Justiz gilt nach CFJG dann als kinderfreundlich, wenn sie dem Kind den Zugang zur Justiz ermöglicht, seine Rechts- und Interessenvertretung gewährleistet und sein rechtliches Gehör sowie sein Recht auf Meinungsäusserung schützt. Dabei ist zu beachten, dass eine aussergerichtliche Streitbeilegung auch während eines bereits laufen- den Verfahrens im Interesse des Kindes sein kann. Die Behörde hat zudem zu untersuchen, ob bereits andere Fachpersonen, von denen sich das Kind gut vertreten fühlt, in seinem Leben eine Rolle spielen. Das bedeutet jedoch nicht, dass eine professionelle Kindesvertretung fakultativ wird. Die Kindesanhörung sollte in der Regel in kindgerechter Weise erfolgen, es sei denn, die Kindesinteressen gebieten es, auf eine Anhörung zu verzichten. Ferner gilt es, das Kind bei seiner Entscheidungsfindung so gut wie möglich zu unterstützen.

Hinzu kommt, dass zivilrechtliche Massnahmen bei Veränderungen der Verhältnisse bei Kind oder Elternteilen zum Schutz des Kindes gegebenenfalls der neuen Lage anzupassen sind. Grundsätzlich folgt aus der Untersuchungsmaxime, dass Kindesschutzmassnahmen systematisch überprüft werden sollen. Allerdings wird dies nicht immer getan. Daher ist dies eine wesentliche Aufgabe der Kindesvertretung.

Kindesvertretung nach Art. 314abis ZGB

Wesentliches und effektives Hilfsmittel, um als Kind die Justiz zu erreichen und die eigenen Interessen in das Verfahren einzubringen, ist nach den CFJG die Bestellung einer eigenen Rechtsvertretung, die im Namen und ausschliesslich im Interesse des Kindes handelt: In allen Fällen, in denen ein potenzieller Interessenkonflikt mit den Eltern (oder anderen gesetzlichen Vertreter*innen) besteht, sollte dem Kind von Amtes wegen eine solche Rechtsvertretung zugesprochen werden.13 Auch wenn ein Elternteil involviert ist, der selbst eine rechtsverletzende Partei ist (bspw. weil er gewalttätig gegenüber dem Kind war), muss dem Kind nach CFJG eine Kindesvertretung zugesprochen werden.14

Umgesetzt ist im schweizerischen Recht die Kindesvertretung im Kindesschutzverfahren gemäss Art. 314abis ZGB. Ferner ist nach Art. 1a Abs. 2 Bst. c Pflegekinderverordnung (PAVO)15 festgeschrieben, dass ein von einer Platzierung betroffenes Kind in allen Entscheidungen, entsprechend seinem Alter, beteiligt werde. Ein Kind, das wie Marius zwischenzeitlich in einem Heim untergebracht wird, hat zudem für diese Dauer einen Anspruch auf eine Begleitung durch eine Vertrauensperson nach Art. 1a Abs. 2 Bst. b PAVO. Vertrauensperson und Kindesvertretung haben grundsätzlich unterschiedliche Funktionen:16 Während als Vertrauensperson jede Person eingesetzt werden kann, der das Kind vertraut (z. B. ältere Schwester, langjährige Nachbarin, Onkel, Gotte), ist die Kindesvertretung in einem Kindesschutzverfahren Fachpersonen vorbehalten. Eine Beistandsperson (namentlich ein*e Erziehungsbeiständ*in nach Art. 308 ZGB) kann in der Praxis etwa als Vertrauensperson auftreten, während sie nicht über die notwendige Unabhängigkeit verfügt, um als Verfahrensvertretung eingesetzt zu werden.17

Die Behörde im Kindeschutzverfahren ordnet «wenn nötig» eine unabhängige Kindesvertretung an (Art. 314abis ZGB), die in fürsorgerischen und rechtlichen Fragen erfahren ist. Das bedeutet, dass die Behörde von Gesetzes wegen eine Prüfpflicht hat, namentlich dann, wenn nach Art. 314abis Abs. 2 Ziff. 1 ZGB die Unterbringung des Kindes infrage steht, wie im Fall von Marius bei der zwischenzeitlichen Unterbringung im Heim.18 Hinzu kommt, dass nach Art. 314abis Abs. 2 Ziff. 2 ZGB der Einsatz einer Kindesvertretung auch dann zu prüfen ist, wenn die Beteiligten bezüglich der Regelung der elterlichen Sorge oder bezüglich wichtiger Fragen des persönlichen Verkehrs im Kindesschutzverfahren unterschiedliche Anträge stellen. Dies ist im vorliegenden Verfahren ebenfalls der Fall, denn Marius lebt fortan beim Vater, obwohl die Mutter das nicht möchte.

Die Beurteilung der Notwendigkeit einer Kindesvertretung bleibt aber im Ermessen der Behörde, wobei diese einen ablehnenden Entscheid begründen muss.19 Nach gegenwärtiger bundesgerichtlicher Rechtsprechung besteht für die Kindesschutzbehörde aber keine Verpflichtung, eine Kindesvertretung einzusetzen,20 auch dann nicht, wenn Marius selbst einen Antrag auf eine Kindesvertretung stellen würde. Durch die ausdrückliche Festschreibung der genannten Fallgruppen (Art. 314abis Abs. 2 Ziff. 1 und 2 ZGB) wird jedoch klargemacht, dass eine Vertretung in diesen Fällen regelmässig nötig sein wird21 und somit grundsätzlich von einer Kindesvertretung auszugehen ist.22

Jedoch sagen weder Gesetz noch Rechtsprechung des Bundesgerichts etwas über die Dauer der Einsetzung einer Kindesvertretung im Kindesschutzverfahren nach Art. 314abis ZGB. Dies, obwohl nach den CFJG die Partizipation des Kindes auch nach dem Verfahren nötig ist und die Rechtsvertretung gerade dann, wenn die Eltern Grund für ein Verfahren sind23 resp. Elternverhältnisse hochstrittig sind (Art. 314abis Abs. 2 Ziff. 2 ZGB), eine Kindesvertretung Pflicht sein sollte. Für Marius wäre es wichtig, dass er nach dem Entscheid weiterhin vertreten und/oder begleitet würde, denn die neue Lebenssituation ist schwierig für ihn, und die Verhältnisse zwischen seinen Eltern sind gerade (auch) durch den Behördenentscheid hochstrittig geworden. Nach unserer Ansicht erfordert der kinderrechtliche Ansatz, dass ein Kind von einer professionellen Fachperson (Kindesvertretung) unabhängig vertreten wird, die primär dem Willen und den subjektiven Interessen des Kindes gegenüber allen Akteur*innen verpflichtet ist. Eine kinderfreundliche Justiz würde bedeuten, das Kind auch nach einem verfügten Entscheid weiterhin empathisch zu begleiten und/oder zu vertreten, bis sich seine Lebenssituation stabilisiert hat und klar ist, dass es keine weiteren rechtlichen Schritte mehr brauchen wird.

Partizipation ist auch eine Haltung

Das Recht auf Partizipation gemäss Art. 12 CRC in allen Verfahren, die die Lebenslage eines Kindes betreffen, ist in der Schweiz ohne Zweifel direkt anwendbar. Das Bundesgericht bestätigte in einem jüngeren migrationsrechtlichen Fall, dass auch aus Art. 8 EMRK ein Anspruch bzw. eine Verpflichtung der staatlichen Behörden folge, «in allen Belangen, welche das Familienleben und das Kindeswohl betreffen, diese Aspekte gebührend in die Beurteilung einzubeziehen», wobei es auch schloss, dass bei gleichläufigen Interessen des Kindes mit dem betroffenen Elternteil die persönliche Anhörung entfallen dürfe.24

Zur Partizipation nach Art. 12 CRC gehören die verbale Kommunikation anlässlich der formalen Verfahren wie auch die nonverbale Kommunikation anlässlich von Verhandlungs- und Entscheidungsprozessen, die die Lebensbelange von Kindern betreffen. Das Kind braucht «Reden, Zuhören, Ernstnehmen und Handeln».25 Partizipation ist deshalb auch eine Haltung der involvierten Fachpersonen, die etwa folgende Faktoren verinnerlicht:26 Das Kind ist Expert*in der eigenen Lebensbelange und fähige*r Übermittler*in derselben. Es interagiert, nimmt Einfluss und gestaltet die Sinngebungen seines Lebens.

Das Verständnis für kinderfreundliche Justiz fördern

Aus- und Weiterbildung von Fachpersonen

Die Haltung zur Partizipation von Kindern ändert sich nicht von selbst. Dazu braucht es u. a. die Sensibilisierung von Kindern und Eltern und die systematische Aus- und Weiterbildung von angehenden und erfahrenen Fachpersonen.27 Solche Massnahmen lassen sich wiederum kaum institutionalisieren, wenn der politische Wille fehlt.

Einen Schritt in diese Richtung unternahm der Bundesrat im März 2021 mit dem Entscheid, Organisationen, die Akteur*innen der beruflichen Aus- und Weiterbildung für die Kinderrechte sensibilisieren, während fünf Jahren (2022–2026) mit Finanzhilfen zu unterstützen.28 Damit kam der Bundesrat u. a. einer wichtigen Empfehlung des Kinderrechtsausschusses aus dem Jahr 2015 nach.29

Der Kindesschutz konnte in der Schweiz zweifellos professionalisiert und seine Qualität gesteigert werden.30 Das Partizipationsrecht des Kindes nach Art. 12 CRC ist in der Schweiz aber noch nicht umfassend verwirklicht: Es fehlt nach wie vor ein einheitliches Kindesschutzsystem, das Kinder unabhängig von ihrem Wohnort (oder Aufenthalt) einbezieht, sie auf ähnliche Weise partizipieren lässt und ihre Meinungen selbstverständlich berücksichtigt31. In Bezug auf die Kindesschutzpolitik kommt dem Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) eine besondere Bedeutung zu. Es vergibt bspw. jährliche Kredite für Programme zur Förderung der Kinderrechte in der Ausbildung von Fachpersonen.32

Anfang 2021 haben zwei für die Schweiz wichtige Institutionen des Kindesschutzes, die Konferenz der Kantone für den Kindes- und Erwachsenenschutz (KOKES) und die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK), gemeinsam Empfehlungen zum Thema der ausserfamiliären Unterbringung erarbeitet, die qualitative Mindeststandards etablieren wollen, indem namentlich die Partizipation des Kindes in allen Phasen einer ausser-familiären Unterbringung konsequent und altersgerecht umgesetzt wird. Die Empfehlungen dienen sowohl dem Kindeswohl als auch der fachlichen und politischen Orientierung:33

Good Practice: Empfehlungen zur ausserfamiliären Unterbringung

Die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) und die Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz (KOKES) haben im Jahr 2020 Empfehlungen zur ausserfamiliären Unterbringung veröffentlicht. Die Partizipation der Kinder in diesem Prozess umschreiben sie wie folgt:

«[...] Unter Partizipation wird der Einbezug der Kinder und Jugendlichen und ihres Bezugssystems in die sie betreffenden Entscheidungsprozesse verstanden. Damit das Recht der Betroffenen auf Mit- und Selbstbestimmung und persönliche Entfaltung eingelöst wird, müssen Unterbringungsprozesse durch eine umfassende Kultur der Beteiligung und Mitbestimmung geprägt sein. Die Wirkungsforschung zeigt: Je besser die Betroffenen beteiligt sind, desto wirksamer sind die Massnahmen.[...]»34

«[...] Damit Partizipation gelingen kann, braucht es bei den involvierten Akteuren Wissen über Partizipation (z. B. Kenntnis der rechtlichen Rahmenbedingungen, entwicklungspsychologischen Bedürfnissen und der praktischen Handlungsmöglichkeiten des Kindes), Handlungskompetenzen (Können) der Partizipation (z. B. Gesprächsführungskompetenzen, Diagnostik-Kompetenzen) und Wollen der Partizipation (im Sinn einer Haltung, sich ernsthaft mit der Perspektive des betroffenen Kindes resp. der/des Jugendlichen auseinanderzusetzen und gegebenenfalls auch Kompromisse einzugehen).[...]»35

Fazit: Eigene Haltung überprüfen – Kinder fragen

Während der Erarbeitung der CFJG wurden nebst den staatlichen und privaten Stakeholdern auch rund 3 800 Kinder und Jugendliche in Europa konsultiert. Die CFJG spiegeln daher nicht nur die Sicht von Expert*innen, sondern auch der Kinder selbst wider. Kinder sollten auch in Verfahren öfters nach ihren Bedürfnissen gefragt werden, was gar nicht so schwer ist. Wäre etwa Marius gefragt worden, ob er seine Kindesvertretung oder Vertrauensperson über die Entscheide hinaus «behalten» wolle, wäre dies eine treffende Beschreibung, was eine kinderfreundliche Justiz für alle Beteiligten bedeuten würde.

Empfehlungen

Ein starker Schutz der Menschenrechte in der Schweiz heisst:

a Die Partizipation von Kindern ist ein verbindliches Leitziel des Bundes und der Kantone und mit entsprechenden Monitoringtools ausgestattet (bspw. zur Datenerhebung und jährlichen Berichterstattung) (vgl. Kapitel 12).
b Es werden für alle Verfahren Informationsmaterialien erarbeitet und angewendet, sowohl für Kinder und Jugendliche und deren Eltern als auch für alle Mitarbeitenden der Justiz und der Institutionen der stationären Kinder- und Jugendhilfe.
c Es besteht bei den Akteur*innen im Kindesschutz ein gemeinsames Verständnis von Partizipation vor, während und nach einem Verfahren. Dieses Verständnis beinhaltet verschiedene Formen der Mitwirkung des Kindes vor, während und nach einem Verfahren oder einem Entscheidungsprozesses zu seinen Angelegenheiten: u. a. das Recht auf Information, auf Anwesenheit, auf freie Meinungsbildung und -äusserung, das Recht, gehört zu werden, sowie das Recht auf Begleitung und Vertretung. Partizipation ist nicht an die Urteilsfähigkeit des Kindes gebunden. Partizipation geht über die Parteistellung in einem Verfahren hinaus und ist als ein Prozess und eine Haltung dem Kind gegenüber zu verstehen.
d Die Partizipation von Kindern und Jugendlichen im Kindesschutzsystem und im Besonderen in der ambulanten freiwilligen Kinder- und Jugendhilfe, im gesetzlichen Kindesschutz und in den stationären Institutionen wird regelmässig mittels Praxiserhebungen evaluiert. Kinder und Jugendliche werden bei diesen Praxiserhebungen beteiligt.
e Die Akteur*innen im Kindesschutz überprüfen ihre eigene Haltung zur Partizipation von Kindern regelmässig.
Fussnoten
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