Artikel

Trotz Kirchenaustritt katholisch bleiben

Zum Urteil des Bundesgerichts 2C_406/2011 vom 9. Juli 2012

Abstract

Autorinnen: Nathalie Hiltbrunner, Andrea Egbuna-Joss

Publiziert am 31.10.2012

Bedeutung für die Praxis:

  • Der Austritt aus der Staatskirche erfolgt nach staatlichem/weltlichem Recht und bezieht sich auch allein auf die weltliche Wirkung. Die religiöse Zugehörigkeit zur römisch-katholischen Weltkirche wird dadurch nicht beeinträchtigt.
  • Eine Verweigerung des Austritts, weil eine Person weiterhin katholischen Glaubens sein will oder sich weigert mit der Kirche Kontakt aufzunehmen, verletzt die Religionsfreiheit gemäss Art. 15 Abs. 4 BV sowie Art. 9 EMRK.
  • Auch ein Kirchenaustritt, der allein deshalb erfolgt, um Steuern zu sparen, ist zulässig. Der Austritt wäre allerdings rechtsmissbräuchlich, wenn weiterhin von der Kirche finanzierte Leistungen uneingeschränkt beansprucht werden. Die Beweislast eines solchen Rechtsmissbrauchs obliegt jedoch den kirchlichen Behörden.

Die Vorgeschichte

Seit 2002 hat eine Luzernerin mehrfach erklärt, aus der Katholischen Kirchgemeinde Luzern austreten zu wollen. Die Versuche blieben jedoch lange erfolglos, da sie sich der kirchlichen Forderung, neben dem Austritt aus der Staatskirche auch die Nichtzugehörigkeit zur römisch-katholischen Konfession insgesamt zu erklären, widersetzte. Die Möglichkeit eines solchen „partiellen“ Austritts wurde von den kirchlichen Behörden sowie in einem anderen Fall auch vom Bundesgericht verneint (siehe BGE 129 I 68).

Eine Austrittserklärung der Frau vom 22. Mai 2006 war bereits Gegenstand eines Bundesgerichtsurteils vom 16. November 2007 (BGE 134 I 75). In diesem Urteil vertrat das Bundesgericht zum ersten Mal die Ansicht, dass die Religionsfreiheit verletzt wird, wenn der Austritt aus der Staatskirche die Lossagung vom katholischen Glauben erfordert. Dennoch wurde die Beschwerde der Frau damals aufgrund widersprüchlichen Verhaltens abgewiesen. Auf diesen Entscheid hin erhob die Frau Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, welche aber noch nicht behandelt wurde. Zudem erklärte sie am 15. Mai 2008 erneut den Austritt aus der Katholischen Kirchgemeinde Luzern. Dieses Mal wurde ihr Austrittsbegehren als unwirksam betrachtet, da sie sich weigerte mit dem Generalvikar des Bistums Basels Kontakt aufzunehmen. In der Folge beschritt sie wiederum den Weg bis vor Bundesgericht.

Das aktuelle Urteil des Bundesgerichts

Das aktuelle Urteil des Bundesgerichts setzt nun die Rechtsprechung von BGE 134 I 75 konkret um. Ein Austritt aus der Kirche bewirkt das Erlöschen von denjenigen Rechten und Pflichten, die nach staatlichem Recht gegenüber der Kirche bestehen. Er bezieht sich lediglich auf die weltlichen Aspekte der Kirche und muss somit auch nur in diesem Umfang erklärt werden. Die Kirchenangehörigkeit nach geistlichem Recht ist hier gemäss Bundesgericht unbeachtlich.

Eine Austrittserklärung aus der staatskirchenrechtlichen Organisation ist ohne Begründung gültig. Auch ein Kirchenaustritt, der ausschliesslich erfolgt, um Steuern zu sparen, ist zulässig. Einzige Schranke ist der Rechtsmissbrauch. Dieser liegt dann vor, wenn die austretende Person die von der Kirche finanzierten Leistungen nach wie vor uneingeschränkt beansprucht. Das rechtsmissbräuchliche Verhalten muss jedoch von den kirchlichen Behörden bewiesen werden, was in diesem Fall nicht möglich war. Ausserdem ist eine Verknüpfung der Gültigkeit des Austritts mit zusätzlichen Bedingungen – wie in diesem Fall dem Austritt aus der römisch-katholischen Konfession oder der Kontaktaufnahme mit dem Generalvikar – unzulässig. Die Unwirksamkeitserklärung des Kirchenaustritts verletze daher die Religionsfreiheit. Der Austritt wurde rückwirkend für wirksam erklärt.

Kommentar

Zehn Jahre lang musste sich die Luzernerin gedulden, um einen rechtskräftigen Kirchenaustritt zu erwirken. Der Bundesgerichtsentscheid kollidiert mit dem Verständnis des einheitlichen Kirchenbegriffs der katholischen Kirche. Dieses sieht in der Angehörigkeit zur römisch-katholischen Kirche nach kanonischem Recht eine Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der Staatskirche. Aus Symmetriegründen müsse daher auch der Austritt integral erfolgen. Wie das Bundesgericht zu Recht festhält, ist diese Argumentation nicht stichhaltig, sieht doch das kanonische Recht die Möglichkeit des Kirchenaustrittes gar nicht vor. Dies wiederum verstosse diskussionslos gegen die Religionsfreiheit, welche es verbietet, jemanden zu zwingen, einer Religionsgemeinschaft anzugehören (Art. 15 Abs. 4 BV).

Die Religionsfreiheit wird auch seitens der Kirche anerkannt. So betont die Römisch-Katholische Zentralkonferenz der Schweiz in einem Schreiben an seine Mitglieder, es dürfe nicht der Eindruck erweckt werden, die Staatskirche wolle die Religionsfreiheit aus finanziellen Gründen einschränken. Dennoch besteht hier zwischen dem Interesse der Kirche, bei den Gläubigen Kirchensteuern einzuziehen, und der Achtung der Religionsfreiheit ein gewisses Spannungsfeld.

Die Aussagen des Bundesgerichts, dass auch ein Kirchenaustritt aus rein steuerlichen Gründen zulässig sei, und dass sich auch ausgetretene Personen weiterhin als katholisch bezeichnen dürfen, sind für die Stellung der Kirche natürlich nicht besonders vorteilhaft. Allerdings sind Massenaustritte nur aufgrund dieses Bundesgerichtsgerichtsentscheides wohl nicht zu befürchten. Das Institut des Rechtsmissbrauchs soll Austritte von Personen, die weiterhin Leistungen beanspruchen wollen, verhindern. Da die Kirche jedoch den Rechtsmissbrauch nachweisen muss und die Schwelle für die Annahme eines solchen von den Gerichten jeweils relativ hoch angesetzt wird, könnte sich dieses Vorhaben als tendenziell schwierig erweisen. Gläubige Personen sollten sich zudem vor dem Kirchenaustritt mit der Tatsache auseinandersetzen, dass eine ausgetretene Person trotz Beibehaltung des Glaubens im staatlichen Verkehr als konfessionslos gilt.

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