Artikel

Klare Regelung für Sterbehilfe bei nicht todkranken Personen gefordert

Zum Urteil Gross gegen die Schweiz des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 14. Mai 2013

Abstract

Autorin: Andrea Egbuna-Joss

Publiziert am 13.06.2013

Zusammenfassung:

  • Der Umstand, dass in der Schweiz eine klare Regelung für die Beihilfe zum Suizid von Personen ohne tödliche Krankheit fehlt, verletzt Art. 8 EMRK.
  • Die Richtlinien der Schweizerischen Akademie für Medizinische Wissenschaften (SAMW), auf welche sich das Bundesgericht regelmässig bezieht, regeln nur die Voraussetzungen zur Beihilfe zum Suizid von todkranken Patientinnen und Patienten am Lebensende, nicht aber den Fall von gesunden Personen, welche sich das Leben nehmen wollen.
  • Für die Schweiz erhöht sich damit der Druck, die Regelung der Sterbehilfe trotz verschiedener erfolgloser Vorstösse erneut an die Hand zu nehmen.

Sachverhalt

Die mittlerweile 82-jährige Beschwerdeführerin äusserte seit mehreren Jahren den Wunsch, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Zwar litt sie an keiner tödlichen Krankheit, wollte aber dem altersbedingten körperlichen und geistigen Zerfall entgehen. Ein Psychiater bestätigte 2009 in einem Gutachten, dass die Beschwerdeführerin voll urteilsfähig sei und unter der fortschreitenden Verschlechterung ihres Zustandes leide. Der Todeswunsch bestehe zudem schon seit mehreren Jahren und sei nicht das Ergebnis einer psychischen Erkrankung. Aus psychiatrischer bzw. medizinischer Sicht sei es deshalb möglich, der Beschwerdeführerin ein Rezept für eine tödliche Dosis Natrium-Pentoarbital (NaP) auszustellen.

Drei Ärzte/-innen und in der Folge auch die Zürcher Gesundheitsdirektion lehnten jedoch die Ausstellung eines solchen Rezeptes ab. Das Zürcher Verwaltungsgericht und auch das Bundesgericht wiesen eine gegen den Entscheid der Gesundheitsdirektion erhobene Beschwerde ab. Darauf wandte sich die Beschwerdeführerin an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR).

Das Urteil des EGMR

Der Gerichtshof stellte zunächst fest, dass der Wunsch der Beschwerdeführerin, ihrem Leben ein Ende zu setzen, vom Schutzbereich des Art. 8 EMRK erfasst werde. Obwohl das Schweizer Recht die Möglichkeit vorsehe, auf Rezept eine tödliche Dosis NaP zu erhalten, sei die Ausgestaltung dieses Rechts nicht ausreichend klar geregelt. Der Mangel an klaren Richtlinien habe eine abschreckende Wirkung auf die Ärzte/-innen, ein Rezept für NaP auszustellen. Diese unsichere Situation hätte sich zum Schaden der Beschwerdeführerin ausgewirkt.

Der Gerichtshof kam zum Schluss, dass die Schweiz ausreichend klare Richtlinien hätte erlassen müssen, die festlegen ob - und wenn ja - unter welchen Voraussetzungen einer Person, die nicht unter einer tödlichen Krankheit leidet, ein entsprechendes Rezept für NaP ausgestellt werden darf. Die Richter bejahten daher knapp mit 4 zu 3 Stimmen eine Verletzung von Art. 8 EMRK.

Die überstimmten Richter machten in ihrer abweichenden Meinung (dissenting opinion) geltend, die Rechtsprechung des Bundesgerichtes sei hinreichend klar. Der Beschwerdeführerin sei kein Rezept ausgestellt worden, weil sie nicht unter einer tödlichen Krankheit litt, was eine klar definierte Bedingung für den Zugang zu NaP darstelle.

Langjährige Bemühungen um eine gesetzliche Regelung in der Schweiz

Der Bundesrat und das Parlament haben in den vergangenen 15 Jahren wiederholt versucht, die Sterbehilfe in der Schweiz ausdrücklich gesetzlich zu regeln. Im Parlament verlangten unzählige Vorstösse eine ausdrückliche gesetzliche Regelung der Sterbehilfe (siehe die lange Liste der parlamentarischen Vorstösse des Bundesamtes für Justiz sowie Parlamentarische Intiative 06.453; Standesinitiative 08.317; Standesinitiative 10.306), die jedoch allesamt keine Zustimmung fanden. Der letzte Vorstoss wurde vom Nationalrat im September 2012 abgelehnt.

Der Bundesrat schickte im Oktober 2009 zwei Vorschläge zur Regelung der organisierten Sterbehilfe in die Vernehmlassung. Obwohl alle Vernehmlassungsteilnehmenden einen klaren Handlungsbedarf auf Bundesebene anerkannten, bestand kein Konsens darüber, wie die organisierte Sterbehilfe geregelt werden sollte. Im Juni 2011 entschied sich der Bundesrat schliesslich, auf eine ausdrückliche Regelung der organisierten Sterbehilfe zu verzichten.

Aufgrund der grossen Zahl missglückter und abgebrochener Gesetzgebungsversuche erscheint es als unwahrscheinlich, dass es dem schweizerischen Gesetzgeber in absehbarer Zeit gelingen wird, die vom EGMR verlangte ausdrückliche Regelung zu schaffen. Obwohl auch der EGMR anerkennt, dass es schwierig sei, einen politischen Konsens über solch gewichtige ethische und moralische Fragen zu erreichen, lässt er diesen Einwand nicht gelten. Solche Schwierigkeiten seien Teil des demokratischen Prozesses und würden die Behörden nicht von der Erfüllung ihrer Aufgaben entbinden.

Der EGMR erinnert die Schweiz damit daran, dass das Fehlen gesetzgeberischer Regelungen sich beeinträchtigend auf die Ausübung der Menschenrechte Einzelner auswirken kann. Denn wenn man dem Gerichtshof zustimmt, dass der Wunsch, eine tödliche Dosis NaP zu erhalten, um seinem Leben ein Ende zu setzen, tatsächlich in den Schutzbereich des Rechts auf Privatleben gemäss Art. 8 EMRK fällt (Urteil, §§ 58-60), bedarf es für dessen Einschränkung einer gesetzlichen Grundlage. Art. 115 StGB genügt dabei den Anforderungen nicht: Diese Bestimmung stellt die Beihilfe zum Selbstmord nur beim Vorliegen von selbstsüchtigen Beweggründen unter Strafe. Fehlen solche Beweggründe, ist die Suizidbeihilfe folglich nicht strafbar. Die Gesetzesbestimmung macht zwischen der Beihilfe zum Suizid von todkranken und gesunden Personen keinen Unterschied.

Es sind vielmehr die Richtlinien der SAWM, die festlegen, dass Ärzte grundsätzlich nur dann Beihilfe zum Suizid leisten dürfen, wenn die Erkrankung des Patienten/der Patientin die Annahme rechtfertigt, dass das Lebensende nah ist (SAWM-Richtlinien). Der Gerichtshof hält aber ausdrücklich fest, dass es am demokratisch legitimierten Gesetzgeber liegt, die entscheidenden Fragen des Lebensendes zu beantworten. Der Gesetzgeber dürfe diese Aufgabe nicht an Berufsverbände delegieren. Es steigt damit der Druck auf die Schweiz, klare Regeln für die Suizidhilfe für nicht todkranke Personen zu schaffen und diese entweder ausdrücklich zuzulassen oder zu verbieten. Eine gesetzliche Regelung scheint auch deswegen geboten, weil die Sterbehilfe in der Schweiz organisiert betrieben wird und – aufgrund des sogenannten Sterbetourismus – ein beträchtliches Ausmass angenommen hat.

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