Artikel

EGMR schützt Whistleblower

Heinisch gegen Deutschland: Fristlose Entlassung nach Strafanzeige gegen ein Unternehmen verletzt Art. 10 EMRK

Abstract

Autorin: Andrea Egbuna-Joss

Publiziert am 26.10.2011

Bedeutung für die Praxis:

  • Art. 10 EMRK findet zumindest dann auch Anwendung auf privatrechtliche Arbeitsverhältnisse, wenn eine staatliche Institution oder Organisation Arbeitgeber ist.
  • Die Treuepflicht gegenüber dem Arbeitgeber verpflichtet Arbeitnehmende, Hinweise über Missstände zunächst intern zu melden; der Gang an die Öffentlichkeit ist nur in Ausnahmefällen zulässig.
  • Eine im guten Glauben eingereichte Strafanzeige gegen den Arbeitgeber ist grundsätzlich kein ausreichender Grund für eine fristlose Entlassung. Dies gilt auch, wenn das Strafverfahren anschliessend eingestellt wird.
  • Für Bundespersonal findet sich seit 1. Januar 2011 eine ausdrückliche Regelung über Melderecht und Meldepflicht von Bundesangestellten in Art. 22a Bundespersonalgesetz.
  • Für den Privatsektor liegt ein Vorentwurf für eine Teilrevision des Obligationenrechts nach erfolgter Vernehmlassung wieder beim Bundesrat. Ausdrücklich geregelt werden sollen das Meldeverfahren bei Missständen sowie die Sanktionen bei ungerechtfertigten und missbräuchlichen Kündigungen.

Sachverhalt

Die Beschwerdeführerin arbeitete von 2000 bis 2005 als Alterspflegerin in einem Altersheim in Berlin. Ab 2003 machte sie ihren Arbeitgeber wiederholt auf die Personalknappheit und die daraus resultierenden Qualitätseinbussen in der Pflege aufmerksam. Zudem würden die erbrachten Dienstleistungen nicht korrekt dokumentiert. Der Arbeitgeber wies die Vorwürfe stets zurück, und die Beschwerdeführerin reichte schliesslich im Dezember 2004 eine Strafanzeige wegen qualifizierten Betruges ein. Die Untersuchung wurde jedoch eingestellt und es kam zu keiner Anklage.

Unter Berufung auf ihre wiederholte Krankheit wurde der Beschwerdeführerin von ihrem Arbeitsgeber im Januar 2005 regulär auf Ende März 2005 gekündigt. Als Reaktion darauf verteilte sie einen Prospekt, in dem sie ihre Kolleginnen und Kollegen zum Widerstand gegen die Missstände aufrief und darauf hinwies, dass der wahre Grund für ihre Kündigung die eingereichte Strafanzeige sei. Der Prospekt wurde auch an ihrem Arbeitsort verteilt, und der Arbeitgeber wurde erst dadurch überhaupt auf die Strafanzeige aufmerksam. In der Folge entliess er die Beschwerdeführerin im Februar 2005 fristlos.

Die Beschwerdeführerin wehrte sich gerichtlich gegen die fristlose Entlassung, jedoch ohne Erfolg. Die nationalen Gerichte entschieden, dass die eingereichte Strafanzeige für den Arbeitgeber einen «wichtigen Grund» zur fristlosen Kündigung dargestellt habe. Die Beschwerdeführerin habe nicht bloss im Rahmen ihrer verfassungsmässig garantierten Rechte gehandelt, sondern die Treuepflicht gegenüber ihrem Arbeitgeber verletzt. Mittels einer Individualbeschwerde gelangte die Beschwerdeführerin vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und machte eine Verletzung ihrer Meinungsäusserungsfreiheit gemäss Artikel 10 EMKR geltend.

Der Anwendungsbereich von Artikel 10 EMRK erfasst auch den Arbeitsplatz

Der Gerichtshof stellte zunächst fest, dass der Schutz der fristlosen Entlassung der Beschwerdeführerin durch die deutschen Gerichte einen Eingriff in den Anwendungsbereich von Art. 10 Abs. 1 EMRK darstellte. In einem weiteren Schritt prüfte er, ob der Eingriff gemäss den Voraussetzungen von Art. 10 Abs. 2 EMRK gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen war.

Gemäss der einschlägigen nationalen Bestimmung bedingt eine fristlose Entlassung einen «wichtigen Grund». Der Gerichtshof entschied, dass Angestellte davon ausgehen müssten, dass das Einreichen einer Strafanzeige gegen ihren Arbeitgeber grundsätzlich einen «wichtigen Grund» gemäss dieser Bestimmung darstellen kann. Der Eingriff in Art. 10 Abs. 1 EMRK sei daher gesetzlich vorgesehen gewesen.

Meinungsäusserungsfreiheit vs. Treuepflicht gegenüber dem Arbeitgeber

Zur Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft führte der Gerichtshof aus, dass der Hinweis eines Arbeitnehmers im öffentlichen Sektor auf illegales Verhalten am Arbeitsplatz unter gewissen Umständen Schutz geniessen sollte. Einschränkend wies er zugleich auf die Treuepflicht und die Verpflichtung zur Diskretion und Zurückhaltung gegenüber dem Arbeitgeber hin. Primär seien die Missstände mit dem Vorgesetzen zu besprechen, der Gang vor die Medien und eine öffentliche Bekanntmachung seien nur als letzter Ausweg in Betracht zu ziehen.

Um die Verhältnismässigkeit des Eingriffes in die Meinungsäusserungsfreiheit zu beurteilen, müsse eine Interessenabwägung vorgenommen werden. Dabei seien insbesondere das öffentlichen Interesse an der Kenntnis der Missstände, die Glaubwürdigkeit der veröffentlichten Informationen, der potentielle Schaden für den Arbeitgeber sowie die Beweggründe des «Whistleblowers» und ob ihm bzw. ihr keine diskretere Mittel zur Behebung der Missstände zur Verfügung gestanden hätten, zu berücksichtigen.

Die Würdigung des Gerichtshofes im vorliegenden Fall

Der Gerichtshof befand, dass die von der Beschwerdeführerin veröffentlichen Informationen eindeutig von öffentlichem Interesse seien, umso mehr es sich in casu um ein staatliches Unternehmen handle, welches Pflegedienstleistungen für besonders verletzliche Personen erbringe, die sich in der Regel nicht selber gegen die Missstände wehren könnten.

Zur Behebung der Missstände seien der Beschwerdeführerin keine diskreteren Mittel zur Verfügung gestanden. Sie habe sowohl ihre Vorgesetzten als auch die Heimleitung wiederholt auf die Überlastung des Personals, die mangelhafte Qualität der Pflege und die fehlerhaften Abrechnungen aufmerksam gemacht und die Leitung auch schriftlich über eine mögliche Strafanzeige informiert. Da der Arbeitgeber trotz dieser Hinweise keine konkreten Schritte unternommen habe, um die Missstände zu beheben, sei die Beschwerdeführerin nicht länger an ihre Treuepflicht gebunden gewesen.

Auf die Missstände hätte neben der Beschwerdeführerin auch der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) bei seinen Besuchen im Altersheim wiederholt aufmerksam gemacht, so dass nicht gesagt werden könne, dass die Anschuldigungen der Beschwerdeführerin haltlos gewesen seien. Das Einreichen einer Strafanzeige gegen den Arbeitgeber an sich dürfe nicht zu einer fristlosen Entlassung führen, vorausgesetzt, dass die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer in gutem Glauben gehandelt, keine unlauteren Motive verfolgt und ernsthafte Gründe gehabt habe, um von der Wahrheit der veröffentlichen Informationen auszugehen. Dies gelte auch, wenn das Strafverfahren anschliessend eingestellt werde. In casu habe die Beschwerdeführerin in gutem Glauben gehandelt. Ihr sei es primär um den Schutz von besonders verletzlichen Patienten an ihrem Arbeitsort gegangen und sie hätte die Strafanzeige erst eingereicht, nachdem ihre wiederholten internen Beschwerden an ihren Arbeitgeber nicht zu einer Verbesserung der Bedingungen geführt hätten.

Obwohl die Anschuldigungen der Beschwerdeführerin zweifelsohne den Ruf und die geschäftlichen Interessen ihres ehemaligen Arbeitgebers geschädigt hätten, sei doch in einer demokratischen Gesellschaft das öffentliche Interesse an der Kenntnis von Missständen bei der Pflege von älteren Personen durch ein staatliches Unternehmen schwerer zu gewichten.

Schliesslich sei die Beschwerdeführerin für ihr Verhalten mit der strengsten im Arbeitsrecht vorgesehenen Sanktion belegt worden. Dies hätte nicht nur negative Auswirkungen auf ihre eigene Karriere gehabt, sondern möglicherweise auch eine abschreckende Wirkung auf ihre Arbeitskolleginnen und -kollegen und sie davon abgehalten, selber auf Missstände hinzuweisen. Der Gerichtshof kam daher zum Schluss, dass die fristlose Entlassung der Beschwerdeführerin unverhältnismässig war.

Insgesamt sei der Eingriff in die Meinungsäusserungsfreiheit der Beschwerdeführerin gemäss Art. 10 EMRK und insbesondere ihre Freiheit, Informationen zu verbreiten, in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig gewesen. Der Gerichtshof stellte daher eine Verletzung von Art. 10 EMRK fest.

Kommentar

Inhaltlich bringt das Urteil des Gerichtshof keine wesentlichen Neuerungen mit sich, zeigt aber einmal mehr auf, dass beim sog. «whistleblowing» sowohl für Arbeitnehmer/innen wie Arbeitgeber/innen immer noch grosse Rechtsunsicherheit besteht. Konsens scheint in Praxis, Lehre und Rechtsprechung darüber zu bestehen, dass Missstände zunächst den Vorgesetzten und/oder gemäss dem dafür vorgesehenen Verfahren gemeldet werden müssen und der Gang an die Öffentlichkeit nur als ultima ratio in Betracht gezogen werden darf. Unklar ist jedoch, ab welchem Zeitpunkt eine Arbeitnehmerin von ihrer Treuepflicht gegenüber dem Arbeitgeber entbunden ist, weil sie erfolglos versucht hat, die Missstände intern zu melden. Ebenfalls nicht ausreichend geklärt, sind die Sanktionen im Fall von missbräuchlichen Kündigungen im Zusammenhang mit der Meldung von Missständen. Unklar ist auch, ob das Urteil auch eins zu eins auf ein rein privatrechtliches Arbeitsverhältnis übertragen werden kann. Auch wenn es jeweils um privatrechtliche Arbeitsverhältnisse ging, fällt doch auf, dass der Arbeitgeber in diesem wie in früheren Fällen (Schmidt and Dahlström v. Sweden, Urteil vom 6. Februar 1976; Guja v. Moldova, Urteil vom 2. Dezember 2008; Kudeshkina v. Russia, Urteil vom 26. Februar 2009) immer staatlich war.

Rechtliche Situation in der Schweiz

In der Schweiz besteht seit dem 1. Januar 2011 zumindest für Bundesangestellte in Art. 22a Bundespersonalgesetz eine ausdrückliche Regelung: Bundesbeamte haben das Recht und sind in gewissen Fällen sogar verpflichtet, bei ihrer amtlichen Tätigkeit festgestellte Missstände der Eidgenössischen Finanzkontrolle (EFK) zu melden, ohne dass sie dafür in ihrer beruflichen Stellung benachteiligt werden dürfen. Die Meldungen sind zudem auch anonym möglich.

Für Angestellte privater Unternehmen ist die geltende gesetzliche Regelung jedoch nach wie vor unzureichend. Dies hat auch der Bundesrat Ende 2008 in der Botschaft zum Vorentwurf zur Anpassung der Bestimmungen über die Meldung von Missständen und über missbräuchliche Kündigungen im Obligationenrecht ausführlich aufgezeigt. Die Ergebnisse der Vernehmlassung brachten jedoch diametral entgegengesetzte Standpunkte zu Tage: Während die einen eine Revision der geltenden Bestimmungen für überflüssig hielten, vertraten die andern den Standpunkt, die vorgeschlagenen Änderungen – insbesondere jene über mögliche Sanktionen für sog. Rachekündigungen – gingen zu wenig weit. Der Bundesrat hat daraufhin seine Vorschläge bezüglich der Sanktionen überarbeitet und erneut einen Vorentwurf in die Vernehmlassung geschickt. Die Vernehmlassungsfrist ist im Januar 2011 abgelaufen, seither liegt der Ball wieder beim Bundesrat.

Es ist zu hoffen, dass dieser das Dossier so rasch als möglich wieder aufgreifen wird und sich im Parlament eine Mehrheit für eine ausdrückliche Regelung im Obligationenrecht finden lässt. In der Zwischenzeit darf man gespannt sein, ob der noch ausstehende Entscheid des Bundesgerichtes im Fall Esther Wyler und Margrit Zopfi weitere Klärung bringen wird, insbesondere mit Bezug auf die Frage, ob es in «whistleblowing»-Fällen unter gewissen Umständen einen übergesetzlichen Rechtfertigungsgrund für die Verletzung des Amtsgeheimnisses gibt und ob deshalb in solchen Fällen von einer Strafverfolgung abzusehen ist. Die beiden Zürcher Sozialarbeiterinnen sind im Januar 2011 vom Zürcher Obergericht wegen Amtsgeheimnisverletzung zu bedingten Geldstrafen verurteilt worden, nachdem sie Informationen über Missstände im Bereich der Sozialhilfe an die «Weltwoche» weitergegeben hatten. Sie haben sich entschieden, ihren Fall an das Bundesgericht weiterzuziehen.

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