Abschlusspublikation

«Safer Spaces» für gewaltbetroffene Frauen im Asylbereich

Publiziert am 05.10.2022

Einführung

Fallbeispiel: Rose

Rose ist gerade in einem Bundesasylzentrum in der französischen Schweiz angekommen. Sie hat noch niemandem gesagt, dass sie schwanger ist. Das würde bedeuten, einem fremden Beamten zu erklären, dass sie auf dem Weg in die Schweiz vergewaltigt wurde. Sie wartet, bis sie sich sicher fühlt.

Fallbeispiel: Nour

Nour hat Schmerzen im Unterleib. Bei einer gynäkologischen Untersuchung begleitet sie ein Verwandter, der das Gespräch dolmetscht. Nour antwortet kurz angebunden und reserviert auf die Fragen der Gynäkologin. Die Untersuchung fällt ihr augenscheinlich schwer, und sie wirkt angespannt im Umgang mit dem Verwandten. Der Gynäkologin ist es nicht möglich, die Ursache für ihr Unbehagen zu erfahren.

Im Jahr 2018 ist das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt für die Schweiz in Kraft getreten. Die sogenannte Istanbul-Konvention (IK)1 hat die Bekämpfung von geschlechtsspezifischer und familiärer Gewalt zum Ziel. Dieses weitreichende Abkommen umfasst die Bereiche Gewaltprävention, Opferschutz und Strafverfolgung sowie die Koordination der Umsetzung und Massnahmen.2 Aus der IK lässt sich die Pflicht ableiten, gewaltbetroffene Frauen zu identifizieren und ihnen alle notwendige Unterstützung und Behandlung zukommen zu lassen. Diese staatliche Pflicht muss diskriminierungsfrei umgesetzt werden – Unterstützungsangebote für Betroffene von geschlechtsspezifischer Gewalt müssen für alle Personen, auch für geflüchtete Menschen, zugänglich sein.3

Obwohl im schweizerischen Asylbereich hinsichtlich Gewalterfahrungen von Frauen von einer hohen Betroffenheitsrate auszugehen ist, werden vergleichsweise wenige Frauen identifiziert und bedarfsgerecht begleitet und unterstützt.4 Dieses Kapitel geht deshalb der Frage nach, was für eine sorgfältige und systematische Identifikation gewaltbetroffener Frauen im Asylbereich benötigt wird. Im Zentrum stehen niederschwellige Angebote, die Raum schaffen, um Gewalterfahrungen zu erkennen und zu verbalisieren. Dies schliesst an Ergebnisse einer Studie des SKMR zur kantonalen Unterbringung und Betreuung von Frauen im Asylbereich an. Die Studie aus dem Jahr 2019 weist auf die Bedeutung von Angeboten hin, die einen Vertrauensaufbau fördern und grosses Potenzial für die Identifikation gewaltbetroffener Frauen bergen.5 Das Zusammenspiel nachfolgender Kriterien ist gemäss SKMR-Studie eine wichtige Voraussetzung für die Erschaffung solcher Räume:6

  • transkulturelle Dolmetschangebote
  • weibliche und auf die Thematik sensibilisierte Ansprechpersonen (Therapeutin, Kursleiterin, weibliche psychosoziale Begleitung etc.)
  • längerfristige und regelmässige Begleitung
  • Unabhängigkeit vom Asylverfahren
  • räumliche Distanz zur Kollektivunterkunft

Im Zusammenhang mit Räumen, die diese fünf Aspekte vereinen, wird nachfolgend von «Safer Spaces» gesprochen.7 Im Folgenden gehen wir vertieft auf diese fünf Voraussetzungen ein, um Handlungsmöglichkeiten in der Schaffung oder Erweiterung von Safer Spaces aufzuzeigen. Gleichzeitig gilt es zu beachten, dass diese Aufzählung einen modellartigen Charakter hat. In einem zweiten Teil werden deshalb die Grenzen von Safer Spaces und die Frage nach Hürden im Zugang zu solchen Angeboten diskutiert.

Obschon die zitierte SKMR-Studie sowohl Daten zu volljährigen als auch min- derjährigen weiblichen Asylsuchenden erhoben hat, bezieht sich dennoch der Grossteil der Daten auf volljährige Frauen.8 Bei minderjährigen Asylsuchenden kommen zusätzliche spezifische Bedürfnisse und Rechte hinzu, die im Rahmen dieses Kapitels nicht weiter vertieft werden können. Gleichzeitig stellt sich die Frage nach der Kategorie «Frau». Der Begriff umfasst alle Menschen, die sich selbst als Frau identifizieren, als Frauen sozialisiert wurden und/oder in gewissen Situationen, regelmässig oder immer als Frau gelesen werden. Dabei sind sowohl trans als auch intergeschlechtliche Menschen inkludiert.9 Aufgrund der erhobenen Daten der dem Kapitel zugrunde liegenden SKMR-Studie wird es allerdings nicht möglich sein, vertieft auf LGBTIQ*-Asylsuchende einzugehen. Die Bedeutung einer geschlechtersensiblen Betreuung und Identifikation gewaltbetroffener Personen umfasst jedoch zwingend einen sensibilisierten Umgang mit asylsuchenden Menschen aus dem LGBTIQ*-Spektrum.10

Analyse

Identifikation gewaltbetroffener Frauen im Asylbereich als staatliche Pflicht

Verschiedene Studien und Berichte auf internationaler und nationaler Ebene zeigen auf, dass ein Grossteil der Frauen im Asylbereich im Herkunftsland oder auf der Flucht Gewalterfahrungen gemacht hat.11 Auch in der Schweiz erleben sie oft weitere Gewalt, bspw. durch Familienangehörige und Mitbewohner*innen in den Asylunterkünften, aber auch durch das dort zuständige Betreuungs- und Sicherheitspersonal oder das medizinische Personal. Für die Schweiz fehlen jedoch genaue statistische Angaben zum Ausmass der Gewaltbetroffenheit. Statistische Erhebungen werden zudem durch die aktuell unzureichende Identifikation gewaltbetroffener Frauen im Asylbereich erschwert.12 Die Gründe für diese fehlende Identifikation sind vielfältig und reichen von fehlenden Abläufen über unzureichende Dolmetschmöglichkeiten bis zu fehlenden Orten oder Ansprechpersonen, die den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses und die Verbalisierung von Gewalterfahrungen ermöglichen könnten.13

Diese lückenhafte Identifikation, und damit verbunden die unzureichende Begleitung und Behandlung, widerspricht den internationalen rechtlichen Vorgaben. Aus der IK ergibt sich eine staatliche Pflicht zur proaktiven Identifikation gewaltbetroffener Frauen im Asylbereich. Die Staaten sind dazu verpflichtet, von geschlechtsspezifischer Gewalt14 betroffenen Frauen einen effektiven Zugang zu Unterstützungsdiensten und -angeboten zu gewährleisten15 und sie vor weiterer Gewalt zu schützen16. Diese Verpflichtung zur Identifikation gewaltbetroffener Personen ist bspw. in Bezug auf (potenzielle) Betroffene des Menschenhandels17ausdrücklich im Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung von Menschenhandel verankert.18 Mit anderen Worten: Ohne vorgängige Identifizierung bleibt die Verpflichtung des Staats, Zugang zu Unterstützungsleistungen zu gewähren, toter Buchstabe.

Der Zugang zu Unterstützungsdiensten und staatlichem Schutz setzt keine vorherige formale Identifizierung des Opfers19, etwa durch ein Strafurteil oder ein Zivilverfahren, voraus. Die Dringlichkeit, die insbesondere durch Art. 22 Abs. 1 IK («sofortige [...] Hilfe») unterstrichen wird, setzt voraus, dass die Identifizierung rasch, d. h. informell und niederschwellig erfolgt. Diese niedrige Reaktionsschwelle des Staats steht im Zusammenhang mit der in Art. 5 Abs. 2 IK verankerten Sorgfaltspflicht zur Verhütung, Untersuchung und Bestrafung von geschlechtsspezifischer Gewalt. Die Sorgfaltspflicht des Staats findet dann Anwendung und bestimmt den Umfang der staatlichen Handlungspflicht, wenn Gewalttaten von nichtstaatlichen Akteur*innen begangen werden, was bei geschlechtsspezifischer Gewalt am häufigsten der Fall ist.20 Dabei bedeutet diese Sorgfaltspflicht des Staats nicht nur, dass der Staat angemessene Massnahmen ergreifen muss, wenn eine Person «real und unmittelbar» Gefahr läuft, Gewalt oder erneuter Gewalt ausgesetzt zu sein.21 Vielmehr umfasst sie auch die Pflicht, dass der Staat alle erforderlichen (legislativen, regulatorischen oder operativen) Massnahmen ergreift, um geschlechtsspezifische Gewalt zu verhindern und davon betroffene Personen zu unterstützen.22 So beinhaltet die staatliche Sorgfaltspflicht (Art. 5 Abs. 2 IK) eine Pflicht zur Identifizierung gewaltbetroffener Personen, damit ihnen ein sofortiger und effektiver Zugang zu Unterstützungsleistungen verschafft werden kann (z. B. ein Platz in einem Frauenhaus23), sowie eine niedrige Schwelle für die Identifizierung, wobei Anzeichen oder Hinweise auf geschlechtsspezifische Gewalt angemessen berücksichtigt werden müssen.

Wie diese Identifikationspflicht umgesetzt werden soll, wird durch die internationalen Vorgaben nicht genauer festgelegt. Für den spezifischen Bereich des Asyls hat der Europarat eine Liste von Good Practices zur Umsetzung eines geschlechtersensiblen Aufnahme- und Asylverfahrens gemäss Art. 60 IK erstellt: Dieses geschlechtersensible Verfahren muss insbesondere die Ermittlung der besonderen Schutzbedürfnisse von Migrantinnen ermöglichen, die in ihrem Herkunftsland, während ihrer Reise oder bei ihrer Ankunft im Zielstaat Gewalt ausgesetzt waren. Die Good Practices umfassen unter anderem die getrennte Unterbringung allein reisender Frauen und Männer, getrennte Toiletten, von den Bewohner*innen abschliessbare Räume, angemessene Beleuchtung und ei- ne angemessene Schulung des Personals mit Bezug auf besondere Bedürfnisse von Frauen und Mädchen.24

Für die Begleitung und Behandlung gewaltbetroffener Frauen betont die IK zudem die Bedeutung «spezialisierter Hilfsdienste»25. Diese spezialisierten Angebote sollen Gewaltbetroffenen eine Unterstützung ermöglichen, die ihren Bedürfnissen angepasst ist und die von Organisationen mit qualifiziertem Personal, das Expertise zu geschlechtsspezifischer Gewalt mitbringt, angeboten wird.26 Dabei ist es gemäss IK zentral, dass solche Angebote «ausreichend im Land verbreitet und für alle Opfer zugänglich sind»27. Staatliche Angebote im Bereich der Identifikation von geschlechtsspezifischer Gewalt sind unerlässlich und stellen eine staatliche Pflicht dar. Gleichzeitig zeigt sich in der Praxis die Bedeutung zusätzlicher nichtstaatlicher Angebote, die auf geschlechtsspezifische Themen spezialisiert sind und dadurch wertvolle Voraussetzungen für die Identifikation gewaltbetroffener Frauen mitbringen. Dadurch sollen unterschiedliche Möglichkeiten für den Vertrauensaufbau und die Identifikation von Gewalterfahrungen geschaffen werden – und hier setzt das Konzept «Safer Spaces» an.

Über staatliche Angebote hinaus: Das Konzept «Safer Spaces»

In der IK zeigt sich die Bedeutung einer «wirksamen Zusammenarbeit»28 zwischen allen zuständigen Stellen, die nebst staatlichen Stellen u. a. auch Nichtregierungsorganisationen explizit umfasst.29 Diese Zusammenarbeit ist auch für die Identifikation von Gewaltbetroffenen relevant. Staatliche Stellen haben nicht nur die Aufgabe, selbst aktiv gewaltbetroffene Personen zu identifizieren, sondern sie müssen auch den Zugang zu nichtstaatlichen Angeboten unterstützen und ermöglichen.

Die Studie des SKMR aus dem Jahr 2019 weist auf die Bedeutung spezialisierter, oftmals nichtstaatlicher Angebote hin, die einen Vertrauensaufbau fördern und grosses Potenzial für die Identifikation bergen. In diesem Zusammenhang zeigt sich die Bedeutung sogenannter «Safer Spaces»: Darunter werden in diesem Kapitel Räume verstanden, die den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses ermöglichen und in denen Frauen im Asylbereich ihre Gewalterfahrungen erkennen, benennen und notwendige Unterstützung einfordern oder annehmen können.5 Im Folgenden werden fünf Voraussetzungen vertieft, welche die Erschaffung von Safer Spaces begünstigen.

Transkulturelle Dolmetschangebote

Für die Identifikation gewaltbetroffener Frauen braucht es ein komplexes und sorgfältiges Zusammenspiel verschiedener Faktoren. Damit ein Vertrauensverhältnis entstehen kann, das erlaubt, Gewalterfahrungen anzusprechen, braucht es unter anderem sprachliche Möglichkeitsräume. Damit sind Momente und Begegnungen gemeint, in denen die Möglichkeit geboten wird, in der eigenen Sprache und im Wissen um absolute Vertraulichkeit über gewaltgeprägte Erlebnisse zu sprechen. Dabei kann der Einsatz transkultureller Dolmetscher*innen auch Übersetzungsleistungen über rein sprachliche Hürden hinaus ermöglichen – u. a. in Bezug auf unterschiedliche Verständnisse oder Erfahrungswelten hinsichtlich Themen wie Sexualität, sexuelle Gesundheit oder Gewalt.

Good Practice: Mediator*innen der Aids Hilfe Bern

Die Aids Hilfe Bern setzt in ihren Kursen zu Sexualität und Gesundheit im Asylbereich engagierte Personen mit jahrelanger Erfahrung aus unterschiedlichen Sprachräumen als Leiter*innen ein. Die Inhalte können dabei durch die Kursteilnehmer*innen mitgestaltet werden. Wiederkehrende Themen sind u. a. sexuelle Rechte, Verhütung und Verhütungsmythen sowie Familienplanung und Körperwissen.30

Beim Einsatz von Dolmetscher*innen kann auch das Geschlecht der dolmetschenden Person von zentraler Bedeutung sein. Hinsichtlich der Umsetzung der IK weist der Europarat auf die Bedeutung weiblicher Dolmetschenden im Kontext des geschlechtsspezifischen Asylverfahrens hin: Asylsuchende Frauen müssen die Möglichkeit haben, eine Präferenz hinsichtlich des Geschlechts der dolmetschenden Person zu äussern.31 Während das Dolmetschen im Rahmen von Anhörungen zu Asylgründen sowie personenbezogenen Daten in der Praxis systematisch vorgesehen ist, sieht dies ausserhalb des eigentlichen Verfahrens anders aus. Weder in der Unterbringung noch in der Begleitung asylsuchender Frauen ist der systematische Einsatz von Dolmetscher*innen gewährleistet. Am Beispiel der kantonalen Angebote zeigt sich, dass adäquate Dolmetschangebote wegen fehlender Ressourcen in diesen Bereichen oft sehr lückenhaft sind und teilweise ganz fehlen: In kantonalen Unterkünften besteht meist kein Anrecht auf Zugang zu einer (weiblichen) transkulturellen Dolmetschperson, weder im Kontakt mit dem Unterkunftspersonal noch in der medizinischen Erstversorgung durch niedergelassene Hausärzt*innen und Gynäkolog*innen.32 Diese Lücken können gravierende Auswirkungen u. a. in der fehlenden Identifikation und der Unter- oder Fehlbehandlung gewaltbetroffener Frauen haben.

Der Zugang zu bestehenden Unterstützungsangeboten beinhaltet unter anderem die Verpoflichtung, gewaltbetroffene Personen über ihre Rechte und die Angebote zu informieren. Dieses Recht auf Information, das insbesondere in Art. 19 IK verankert ist und die Verbindung zu privaten Angeboten gewährleisten soll, kann eine Unterstützung durch Dolmetschen erfordern. Die IK sieht ausdrücklich vor, dass die Informationen im Zusammenhang mit Unterstützungsangeboten in einer Sprache vermittelt werden müssen, welche die Personen verstehen können.33 Kritisch zu betrachten ist dabei, dass dieser Artikel der IK nach Ansicht des Europarats nur verlangt, dass die Informationen in einer Sprache vermittelt werden, die im betreffenden Staat allgemein gesprochen wird.34

Weibliche und auf die Thematik sensibilisierte Ansprechpersonen
Die Bedeutung weiblicher Ansprechpersonen beim Aufbau eines Vertrauensverhältnisses und in der Identifikation gewaltbetroffener Frauen geht weit über den Anspruch einer weiblichen Dolmetschenden hinaus. Die IK verpflichtet die Vertragsstaaten, ein geschlechtergerechtes Aufnahmeverfahren für Asylsuchende einzurichten (Art. 60 Abs. 3 IK). Dem Europarat zufolge sollte ein geschlechtersensibles Aufnahmeverfahren die Besonderheiten der verschiedenen Geschlechter in Bezug auf ihre Erfahrungen und ihren besonderen Schutzbedarf berücksichtigen.35 So ist es unerlässlich, dass in allen Settings, in denen Gewalterfahrungen potenziell thematisiert werden können, der Zugang zu einer weiblichen und auf die Thematik sensibilisierten Ansprechperson gewährleistet wird.36 Diese Settings umfassen sowohl die Unterbringung, die medizinische Versorgung und die Asylbefragungen wie auch die Beratung und Unterstützung durch spezialisierte Fachstellen. In der aktuellen Praxis sieht die Handhabung jedoch oftmals anders aus.37

Ein Setting, in dem die Möglichkeit einer weiblichen Ansprechperson besonders relevant ist, ist die Unterbringung. In einem Grossteil der kantonalen Unterkünfte besteht kein systematischer Zugang zu weiblichen Ansprechpersonen – weder beim Betreuungs- noch beim Sicherheitspersonal oder bei den Gesundheitsverantwortlichen. In den untersuchten Unterkünften ist der Anteil Männer in den Betreuungsteams in der Regel höher als jener der Frauen, insbesondere beim Nacht- und Sicherheitspersonal. Gerade in der Nacht sind in den kantonalen Unterkünften oftmals ausschliesslich männliche Mitarbeiter vor Ort. Dies, obwohl bekannt ist, dass sich Frauen in Bezug auf sexuelle Gewalt seltener an Männer wenden.

Im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit ergibt sich aus internationalem Recht zudem die Anforderung an Staaten, «alle Barrieren zu beseitigen, die den Zugang von Frauen zu umfassenden Dienstleistungen, Gütern, Bildung und Informationen im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit behindern».38 Im Hinblick auf die Identifikation gewaltbetroffener Frauen ist dies u. a. deshalb von Bedeutung, weil sich Dienstleistungen im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit sehr dazu eignen können, Gewaltprävention zu betreiben und potenzielle Gewalterfahrungen zu identifizieren.39

Längerfristige, regelmässige Begleitung

Aus der IK fliesst zudem die Verpflichtung, den Zugang zu notwendiger Unterstützung und Begleitung sicherzustellen. Obwohl die Bedeutung der systematischen (psychosozialen) Begleitung von Personen im Asylbereich in verschiedenen Studien betont wird, gibt es diesbezüglich grosse Lücken.40 Dies ist unter anderem fehlenden Ressourcen geschuldet. So fehlt in den (Kollektiv-)Unterkünften bspw. oftmals die Möglichkeit von Bezugspersonen-Systemen. Weiter haben viele Kollektivunterkünfte keine medizinisch ausgebildeten Fachpersonen vor Ort oder in gut erreichbarer Distanz.41 In der Regel fehlt somit der niederschwellige Zugang zu einer Bezugsperson, die zuhört, informiert und längerfristige Unterstützung ermöglicht.42 Diese Ausgangslage steht im Widerspruch zur Tatsache, dass eine Betreuungskontinuität ein Vertrauensverhältnis fördern kann.43 Für gewaltbetroffene Personen fehlt somit oftmals die Möglichkeit, über eine längere Zeitspanne ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, über Behandlungs- und Unterstützungsangebote informiert zu werden, Unterstützung im Zugang zu entsprechenden Angeboten zu erhalten etc.44

Good Practice: Längerfristige psychologische Unterstützung

In Genf und Lausanne können Migrant*innen mit Traumata oder psychischen Problemen langfristige psychologische Hilfe beim Verein Appartenances in Anspruch nehmen. Der Einsatz transkultureller Dolmetschangebote wird dabei von den Kantonen subventioniert. Gemäss einem Psychologen, der im Rahmen der SKMR-Studie befragt wurde, ist diese langfristige Begleitung für eine nachhaltige Behandlung unerlässlich. Diese therapeutische Unterstützung werde jedoch manchmal durch die Fristen des Asylverfahrens erschwert.

Unabhängigkeit vom Asylverfahren und räumliche Distanz zur Kollektivunterkunft

Da das Asylverfahren für asylsuchende Personen mit enormem Druck verbunden ist, weist die SKMR-Studie aus dem Jahr 2019 auf die Bedeutung von Angeboten hin, deren Leistungen verfahrensunabhängig sind. Dies setzt voraus, dass die Mitarbeiter*innen keine direkte Verbindung zum eigentlichen Asylverfahren und damit auch keine Entscheidbefugnis in Bezug auf den Asylantrag haben. In diesem Zusammenhang zeigt sich die Bedeutung spezialisierter Angebote für gewaltbetroffene Frauen im Asylbereich, die über Fachwissen und Erfahrung sowohl im Asylbereich als auch in der Begleitung und Unterstützung gewaltbetroffener Frauen verfügen und oftmals eine gewisse Unabhängigkeit vom Asylverfahren aufweisen.

Good Practice: Fachstelle im Bereich sexuelle Gesundheit

Das Zentrum für sexuelle Gesundheit am Inselspital in Bern bietet Beratungen zu allen Themen der sexuellen Gesundheit an, u.a. zu Schwangerschaft, Schwangerschaftskonflikten, Spätabbrüchen, Verhütung, Sexualität, Geschlechtskrankheiten, sexueller Gewalt sowie psychosoziale Beratung und Betreuung und rechtliche Beratung. Die Beratung steht allen Frauen im Asylbereich offen. 2018 verzeichnete das Zentrum pro Woche mehrere Beratungen von Frauen im Asylbereich.

Die Palette spezialisierter Angebote zur Behandlung und Unterstützung gewaltbetroffener Frauen im Asylbereich weist dabei starke kantonale Unterschiede auf. Je nach Grösse und Region des Kantons sowie dem Standort der Unterkunft unterscheiden sich die Breite, Qualität und Zugänglichkeit der Angebote. In der Westschweiz und in grösseren Kantonen und Städten gibt es tendenziell breiter ausgebaute Angebote, während der Zugang bei dezentralen Unterkünften und teilweise auch in kleineren Kantonen stark erschwert ist. Aus rechtlicher Sicht ist es problematisch, wenn die Grösse eines Kantons darüber entscheidet, ob eine gewaltbetroffene Frau eine sachgerechte Behandlung und Unterstützung erhält. Die Zugänglichkeit ist in allen Kantonen zu gewährleisten; völkerrechtlich letztverantwortlich für die Einhaltung der IK in diesem Punkt ist der Bund.45

Unterkünfte im Asylbereich können nicht als «Safer Spaces» bezeichnet werden. Im Gegenteil: Studien und Berichte von Fachstellen verweisen auf die fehlende Sicherheit in den Zentren sowie auf dokumentierte Gewaltvorfälle innerhalb der Unterkünfte durch Zentrumsbewohner*innen und durch Zentrumspersonal.46 Das Zentrumspersonal hat zudem nebst einer Betreuungs-meist auch eine Kontrollfunktion, was einen Vertrauensaufbau und damit den Austausch über Gewalterfahrungen erschweren kann. Der Zugang zu externen Angeboten bietet die Chance eines Austauschs mit Fachpersonen, die weder eine Kontroll- noch eine Entscheidungsfunktion im Asylverfahren innehaben.

Eine kritische Betrachtung des Konzepts «Safer Spaces»

Das Konzept der Safer Spaces kann und darf nicht im luftleeren Raum stehen, sondern funktioniert nur unter Einbindung und Berücksichtigung der vorhandenen Strukturen. Aus diesem Grund wurde vorangehend immer wieder auf bereits bestehende und spezialisierte Angebote verwiesen. Es gilt jedoch zu beachten, dass bereits bestehende Angebote wegen hoher Zugangshürden oftmals nicht die notwendige Niederschwelligkeit aufweisen. Zudem stellt sich die Frage, anhand welcher Kriterien «Sicherheit» definiert wird.

Hohe Zugangshürden: Bestehende Angebote sind nicht niederschwellig genug

Damit Safer Spaces ihre Funktion erfüllen können, ist ein niederschwelliger Zugang unerlässlich. Dies steht im Widerspruch zu aktuellen Befunden aus dem Asylbereich. Gerade auch spezialisierte Stellen weisen oft hohe Zugangshürden auf, wie u. a. fehlende Informationen zu Angeboten, zu lange Anfahrtswege und statusbedingte Ausschlüsse von Angeboten.47 Zudem gibt es viel zu wenige psychologische/psychiatrische und psychosoziale Angebote mit transkulturellen Dolmetschmöglichkeiten. Bestehende Angebote verzeichnen oft eine grosse Überlastung, lange Wartezeiten und zu wenige Behandlungsplätze. Im Rahmen der SKMR-Studie berichteten mehrere Fachstellen, dass sie aufgrund ihrer Überlastung zum Zeitpunkt der Erhebungen gänzlich auf Informationskampagnen im Asylbereich verzichteten.48

Zudem haben Frauen, die im Ausland Opfer von Gewalt geworden sind, keinen rechtlichen Anspruch auf Opferhilfeleistungen. Diese Einschränkung gilt aufgrund des Territorialitätsprinzips in Art. 3 des Opferhilfegesetzes (OHG)49. Die Unterstützung solcher Frauen ist daher allein vom Willen der Kantone abhängig. Dies ist sowohl aus Sicht der IK, die in Bezug auf den Schutz und die Unterstützung der Opfer nicht nach dem Ort der Straftat unterscheidet, als auch aus Sicht des verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes problematisch.

Spezifische Herausforderungen im neuen Asylverfahren

Im Rahmen des neuen Asylverfahrens wird ein Grossteil der Asylanträge in einem beschleunigten Verfahren in einem Bundesasylzentrum bearbeitet.50 Das neue Verfahren dauert maximal 140 Tage, gegebenenfalls einschliesslich der Entscheidung über Rechtsmittel.51 Diese Beschleunigung des Verfahrens ist insbesondere für die sorgfältige Feststellung der medizinischen Situation problematisch, wie eine Vielzahl von Asylentscheiden des Staatssekretariats für Migration (SEM) in der Romandie zeigt, die aus diesem Grund vom Bundesverwaltungsgericht (BVGer) aufgehoben wurden.52 Auch im Hinblick auf die Identifikation gewaltbetroffener Personen sollte der Zugang zu medizinischen Einrichtungen in der gesamten Schweiz in gleicher Weise gewährleistet sein. Die Einteilung in sechs verschiedene Asylregionen ist in dieser Hinsicht nicht unproblematisch, wie eine Evaluation des SKMR zeigt.53

Eine «objektive Sicherheit» gibt es nicht: Die Frage nach der (Eigen-)Wahrnehmung

Das Konzept Safer Spaces hat modellartigen Charakter und soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Gefühl von Sicherheit je nach Person stark variieren kann. Ob ein Raum als sicher erlebt wird oder nicht, kann sich je nach der konkreten Ausgestaltung des Raums sowie der (Geschlechts-)Identität, Erfahrungen und/oder Bedürfnissen einzelner Personen stark unterscheiden. Somit gilt es zu bedenken, dass unterschiedliche Wahrnehmungen und Erfahrungen bestehen, ob und inwiefern ein Raum «sicher» ist oder nicht. Die Ergebnisse der SKMR-Studie basieren zudem ausschliesslich auf Interviews mit Fachpersonen. Ein Einbezug von Direktbetroïenen in Bezug auf die Ausgestaltung von Safer Spaces ist jedoch unerlässlich.54

Fazit

Die Beispiele von Rose und Nour am Anfang dieses Kapitels zeigen auf, dass es ein komplexes Geflecht aus verschiedenen Voraussetzungen benötigt, damit gewaltbetroffene Frauen im Asylbereich ihre Erfahrungen verbalisieren können. Mit Blick auf das Konzept der Safer Spaces zeigt sich die Bedeutung von gedolmetschten Angeboten, weiblichen und auf die Thematik sensibilisierten Ansprechpersonen, regelmässiger (psychosozialer) Begleitung, einer Unabhängigkeit vom Asylverfahren und einer räumlichen Distanz zu Asylunterkünften.

Darin spiegelt sich die staatliche Verpflichtung gemäss internationalen Vorgaben wider, die Identifikation gewaltbetroffener Frauen im Asylbereich proaktiv zu fördern, um ihnen den Zugang zu notwendigen Unterstützungsangeboten zu gewährleisten. Diese Pflicht besteht auch hinsichtlich der Unterstützung im Zugang zu nichtstaatlichen Angeboten. Im Interesse einer proaktiven Identifikation braucht es zusätzlichen Effort, um bestehende Zugangshürden zu Angeboten abzubauen.

Dabei muss sichergestellt sein, dass Angebote verfahrensunabhängig und statusunabhängig allen Frauen im Asylbereich zur Verfügung stehen – auch denen, die einen negativen Asylentscheid erhalten haben. Stehen niederschwellige Angebote nicht allen Frauen unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus offen, so steht dies im Widerspruch zu internationalen Vorgaben und verletzt u. a. das Nichtdiskriminierungsprinzip (Art. 4 Abs. 3) der Istanbul-Konvention.

Empfehlungen

Ein starker Schutz der Menschenrechte in der Schweiz heisst:

a In jeder Phase des Asyl- und Aufnahmeverfahrens stehen transkulturelle weibliche Dolmetschende zur Verfügung (z. B. für Beratungen in den Unterkünften oder bei medizinischen Untersuchungen).
b In den Unterkünften stehen sowohl beim Betreuungs- als auch beim Wachpersonal weibliche Mitarbeitende zur Verfügung. Das Personal ist auf geschlechtsspezifische Themen und Bedürfnisse geschult.
c Es wird eine systematische psychosoziale Begleitung und Betreuungskontinuität ermöglicht, sodass Frauen und Mädchen im Asylbereich Vertrauensverhältnisse aufbauen können.
d Frauen und Mädchen im Asylbereich haben einen niederschwelligen und hürdefreien Zugang zu Therapeutinnen und Fachpersonen im Bereich sexuelle und reproduktive Gesundheit.
e Frauen und Mädchen im Asylbereich haben einen niederschwelligen und hürdefreien Zugang zu weiblichen Ansprechpersonen in allen Settings, in denen Gewalterfahrungen potenziell thematisiert werden könnten.
f Gewaltbetroffene Frauen und Mädchen haben einen niederschwelligen und hürdefreien Zugang zu Unterstützungsangeboten.
g Gewaltbetroffene Frauen und Mädchen erhalten sachgerechte Behandlung und Unterstützung, unabhängig vom Aufenthaltskanton und unabhängig vom Ort, an dem die Gewalttat begangen wurde.
Fussnoten
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