Artikel

Gegen ein generelles Verbot politischer Aktivitäten auf Bahnhofsarealen

Entscheid des Bundesamtes für Verkehr vom 23. November 2011

Abstract

Autorin: Andrea Egbuna-Joss

Publiziert am 01.02.2012

Bedeutung für die Praxis:

  • Bahnbetriebe nehmen staatliche Aufgaben wahr und sind deshalb gemäss Art. 35 Abs. 2 BV an die Grundrechte der Verfassung gebunden.
  • Bahnhofsareale gelten als öffentliche Sachen im Gemeingebrauch.
  • Ein generelles Verbot politischer Aktivitäten auf Bahnhofsarealen ist mit der Bundesverfassung nicht vereinbar. Stellt die Nutzung einen gesteigerten Gemeingebrauch dar, ist eine Bewilligungspflicht zu statuieren und im Einzelfall eine Interessenabwägung vorzunehmen. Dabei ist dem besonderen Gehalt von ideellen und politischen Grundrechten Rechnung zu tragen.

Sachverhalt

Die Jungfreisinnigen Ausserrhoden (JFAR) fragten im Februar 2011 die Südostbahn (SOB) und die Appenzeller Bahnen (AB) an, ob sie auf dem Bahnhofsareal Herisau während 75 Minuten Flyer für eine kantonale Abstimmungsvorlage verteilen dürften. Die SOB und die AB lehnten die Anfrage mit der Begründung ab, man dulde auf dem Bahnhofsareal generell keine Aktionen politischen Inhaltes, da diese eine ungestörte öffentliche Nutzung des Bahnhofes durch die Bahnbenützer in jedem Fall beeinträchtigen würden. Die Jungfreisinnigen Ausserrhoden erhoben daraufhin eine aufsichtsrechtliche Beschwerde beim Bundesamt für Verkehr.

Erwägungen des Bundesamtes für Verkehr

Das Bundesamt stellte zunächst fest, dass die SOB und die AB mit dem Bahnbetrieb eine staatliche Aufgabe wahrnehmen und deshalb gemäss Art. 35 Abs. 2 BV an die Grundrechte der Verfassung gebunden sind. Bahnhöfe seien aus rechtlicher Sicht öffentliche Sachen im Gemeingebrauch. Bei gesteigertem Gemeingebrauch bestehe zudem ein bedingter Anspruch auf Bewilligung, sofern die Nutzung der Sache für die Ausübung von Freiheitsrechten auf öffentlichem Grund erforderlich sei. So hatte bereits das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 29. März 2011 A-7454/2009 festgestellt, dass die SBB mit ihrem Verbot, ein israelkritisches Plakat im Hauptbahnhof Zürich aufzuhängen, die Meinungsfreiheit verletzt habe. Diese Rechtsprechung hielt das Bundesamt für Verkehr auch in casu für anwendbar.

Bei der Beurteilung des Bewilligungsgesuches sei eine Interessenabwägung zwischen dem öffentlichen Interessen der Bahn an einem ordnungsgemässen Bahnbetrieb und an der öffentlichen Sicherheit einerseits und dem Interesse von Privaten an der Ausübung ihrer Meinungsfreiheit andererseits vorzunehmen. Dabei sei dem besonderen Gehalt von ideellen und politischen Grundrechten Rechnung zu tragen.

Im Ergebnis entschied das Bundesamt für Verkehr, dass ein generelles Verbot politischer Aktionen auf dem Bahnhofsareal unverhältnismässig und daher verfassungswidrig sei. Es wies die SOB und die AB an, ihre Bahnhofsordnungen entsprechend anzupassen.

Kommentar

Während die SOB und AB die Entscheidung des Bundesamtes für Verkehr akzeptiert haben, finden sich in der Bahnhofsordnung bzw. den geltenden Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) weiterhin ein generelles Verbot von Sammel- und Unterschriftenaktionen sowie ein Verbot von Werbung mit politischem oder religiösem Inhalt (vgl. Mathis, Rz. 1 m.N.).

Ein generelles Verbot aller politischen Aktionen auf Bahnhofsarealen scheint in jedem Fall unverhältnismässig, ist doch nicht ersichtlich, weshalb - selbst bei Aktivitäten, die einen gesteigerten Gemeingebrauch darstellen, - der ordnungsgemässe Bahnbetrieb sowie die öffentliche Ordnung und Sicherheit nicht durch die Statuierung einer entsprechenden Bewilligungspflicht gewährleistet werden können. Eine solche Bewilligungspflicht kennt auch die SBB; allerdings sind nur kommerzielle Aktivitäten in den Bahnhöfen überhaupt bewilligungsfähig. Eine Ungleichbehandlung der Aktivitäten alleine aufgrund ihres Inhaltes scheint sich mit sachlichen Gründen nicht rechtfertigen zu lassen.

Im Weiteren scheint unter Berücksichtigung der herrschenden Lehre und der bundesgerichtlichen Rechtsprechung fraglich (vgl. Mathis, Rz. 34 ff. m.N.), ob sich das Sammeln von Unterschriften und das Verteilen von Flyern oder politischem Werbematerial in Bahnhöfen unter gewissen Umständen nicht auch als schlichten Gemeingebrauch qualifizieren liessen. Als schlichter Gemeingebrauch gilt eine Nutzung einer öffentlichen Sache, wenn sie bestimmungsgemäss und gemeinverträglich ist, d.h. wenn die gleichzeitige Benutzung der Sache durch andere nicht erheblich erschwert wird. Sofern die Sammel- und Verteil-Aktionen nicht in engen Passagen der Bahnhöfe durchgeführt werden, keine Stände oder Tische aufgestellt werden und es deswegen nicht zu grösseren Menschenansammlungen kommt, sprechen gute Gründe für eine Qualifizierung der Aktivitäten als schlichten Gemeingebrauch. In solchen Fällen wäre somit gar keine Bewilligung erforderlich.

Die Beschwerde der SBB gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 29. März 2011 ist noch beim Bundesgericht hängig. Sollte das Bundesgericht die Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts bestätigen, kündigten die SBB eine entsprechende Anpassung ihrer Bahnhofsordnung bzw. der einschlägigen AGB an.

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