Artikel

Verstärkung sozialer Ungleichheiten durch die Corona-Pandemie

Die Situation von Arbeitsmigrant*innen

Abstract

Zahlreiche Studien belegen, dass sozial benachteiligte Bevölkerungsschichten von der Corona-Pandemie gesundheitlich und sozial überproportional beeinträchtigt werden. Das SKMR hat deshalb Beratungsstellen zur Situation von Arbeitsmigrant*innen in der Schweiz interviewt. Dabei hat sich gezeigt, dass die verfügbaren Hilfeleistungen für Personen mit prekären Aufenthalts- und Arbeitsbedingungen nur beschränkt, wenn überhaupt, greifen. Eine bessere Ausrichtung der Massnahmen würde nicht nur zur Eindämmung der Pandemie beitragen, sondern auch die soziale und gesundheitliche Chancengerechtigkeit begünstigen.

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Autorin: Denise Efionayi-Mäder

Publiziert am 29.06.2021

Seit Ausbruch der Corona-Pandemie wird immer wieder betont, dass alle Menschen weltweit (gleich) betroffen sind ("Wir sitzen alle im selben Boot") und dass es deswegen länderübergreifende, gemeinsame Lösungen braucht. Aber obwohl globale Gesundheitsrisiken bekannt waren und Pandemiepläne bei den Gesundheitsbehörden vorlagen, war Anfang 2020 die Überforderung in der Schweiz und in Europa immens. Von einem breit abgestimmten Vorgehen konnte nicht die Rede sein.

Während des ersten Shutdowns kam es zu Solidaritätsaktionen in der Bevölkerung und Sympathiebekundungen gegenüber Menschen in sogenannten systemrelevanten Berufen: Neben Pflegefachleuten rückten bis anhin wenig beachtete Zuliefer*innen, Putzkräfte, Verkäufer*innen, Müllentsorger*innen und andere Produzent*innen lebensnotwendiger Artikel ins Blickfeld. Mitunter weckte die Krise gar Hoffnung auf nicht nur mehr soziale, sondern auch mehr wirtschaftliche Anerkennung dieser unverzichtbaren Funktionen.

Inzwischen wurde diese Hoffnung aber enttäuscht: Die soziale Ungleichheit hat sich weiter zugespitzt, und die Spannungsfelder zwischen dem Schutz der öffentlichen Gesundheit, der Sorge um eine Überlastung der Spitäler sowie der Achtung von Menschenrechten und wirtschaftlichen Interessen verstärken sich zunehmend. Dabei wird immer deutlicher, dass obwohl die Pandemie prinzipiell alle Menschen betrifft, die direkten und indirekten Konsequenzen je nach Lebens- und Arbeitssituation auseinanderklaffen.

SKMR-Tagung und Interviews mit Fachpersonen

Um diese unterschiedlichen Konsequenzen genauer zu beleuchten, organisierte das SKMR am 11. Dezember 2020 ein Symposium über die Auswirkungen der Corona-Krise auf die Grundrechte von Migrant*innen. Die vielfältigen und aufschlussreichen Tagungsbeiträge aus der Schweiz, Belgien, Italien und Frankreich bestätigten den sogenannten Brennglaseffekt: Die Pandemie macht bereits vorhandene Missstände und Benachteiligungen besonders deutlich sichtbar und verstärkt diese in vielen Fällen auch. Während Studien in Grossbritannien und den USA die höhere Morbidität und Mortalität von migrantischen (und anderen benachteiligten) Bevölkerungsgruppen infolge der Pandemie belegen, sind in der Schweiz erst wenige entsprechende empirische Daten vorhanden.

Das SKMR führte daher im Anschluss an die Tagung Interviews mit Fachpersonen aus NGOs, die in vier Kantonen Kontakt zu Zugewanderten pflegen. Vereinzelt konnte sich das SKMR auch direkt mit Migrant*innen austauschen, die sich auf der Hotline einer Studie zur Gesundheitskompetenz in der Migrationsbevölkerung gemeldet hatten.

In den Gesprächen ging es um die Frage, wie Personen, die unter ungesicherten oder prekären aufenthalts- und arbeitsrechtlichen Bedingungen tätig sind oder nur über beschränkte Kenntnisse der Lokalsprachen verfügen, die Pandemie erleben. Ebenso gaben die Interviewten Auskunft darüber, welche Folgen der Shutdown ab März 2020 auf ihre Lebenslage hatte. Nach Möglichkeit wurden nicht nur Schwierigkeiten, sondern auch Ressourcen, mögliche Lösungsansätze und die Rolle von Beratungsstellen und Hilfsangeboten angesprochen.

Existentielle Not während des ersten Shutdowns

Bekanntlich arbeiten auf besonders prekären Stellen des Dienstleistungssektors (Haushaltshilfen, Reinigung, Lieferdienste, Verkauf, Gastronomie usw.) mehrheitlich Personen der ersten Migrationsgeneration. Dies sind vor allem Personen, die auf Abruf, in Teilzeit oder bei mehreren Arbeitgebenden tätig sind und bereits vor Ausbruch der Pandemie am Existenzminimum lebten. Da Forderungen zur Einhaltung des Arbeitsrechts in diesen Fällen ohnehin schwierig durchsetzbar sind, und zudem die Verwaltungsstellen geschlossen waren, wurden NGOs mit dramatischen Nöten konfrontiert. Diese reichten vom kompletten Ausfall des Einkommens, über den drohenden Verlust der Unterkunft bis hin zur Unterernährung oder gar den Hunger von Kindern, um von den gesundheitlichen Sorgen wegen Covid-19 gar nicht erst zu sprechen.

Angesichts dieser existenzbedrohenden Herausforderungen stellten verschiedene NGOs und Beratungsstellen ihre Angebote innert kürzester Zeit auf Überlebenshilfen um. Private Stiftungen schütteten teilweise diskret und unbürokratisch Mittel aus. Währenddessen berichteten Medien von langen Warteschlangen beim Genfer Hockeystadion, wo Menschen Essenspakete abholen konnten. Auch von dezentral angelegten Verteilaktionen in anderen Städten war die Rede. Kommentator*innen verwiesen auf die illegale Einwanderung, um zu erklären, weshalb viele von Armut betroffenen Menschen keine öffentliche Hilfe beanspruchten. Wie die vom SKMR geführten Gespräche und eine Studie aus Genf aber zeigen, waren Sans-Papiers zwar tatsächlich stark betroffen, stellten jedoch höchstens die Hälfte der Hilfesuchenden dar.

Zuspitzung der Situation von Personen in ungesicherten Arbeitsverhältnissen

Gemäss übereinstimmenden Rückmeldungen aus den Interviews verloren Eltern ohne Aufenthaltsberechtigung, die in Hauswirtschaft, Gastgewerbe oder Bau arbeiteten, oft ersatzlos ihre Arbeit. Ausserdem mussten sich viele infolge der Schul- und Kitaschliessungen ganztags um die Kinder kümmern – was auch die Aufnahme einer neuen Arbeit unmöglich machte – und für die sonst durch Kitas oder Tagesschulen übernommenen Mahlzeiten aufkommen. Auch die engen Wohnverhältnisse, nicht selten mit Schichtbenutzung der Räume, führten besonders in Westschweizer Städten wie Genf – deren Bevölkerungsdichte dreimal so hoch ist wie die der Stadt Zürich – zu sozialen und gesundheitlichen Problemen.

Mit ähnlichen Schwierigkeiten waren Zugewanderte konfrontiert, die im Niedriglohnbereich tätig sind und ihrer Arbeit nicht (im Homeoffice) nachgehen konnten. Im Unterschied zu Sans-Papiers waren zumindest jene Personen, die eine geregelte Arbeit hatten, sozialrechtlich besser abgesichert und konnten prinzipiell Erwerbsersatzentschädigungen beziehen. Meistens decken diese jedoch nicht den gesamten Lohn und die Lebenskosten ab. Ebenso war und ist es bei Verlust von Gelegenheits- und Zusatzjobs nach wie vor schwierig, neue Erwerbsmöglichkeiten zu finden.

Mehrere NGOs berichteten, dass ein Teil der von Arbeitslosigkeit und Armut Betroffenen auf die Solidarität innerhalb ihrer privaten, religiösen oder kulturellen Netzwerke oder ihrer Nachbar*innenschaft zurückgreifen konnte. Verschiedene Hinweise lassen darauf schliessen, dass diese Unterstützung angesichts der dringenden Herausforderungen – zumindest kurzfristig – gut funktionierte und teilweise noch anhält.

Hürden im Zugang zu öffentlichen Unterstützungsangeboten

Während die Behörden in Notsituationen generell auf Sozialhilfe sowie gegenwärtig auf spezifische Corona-Entschädigungen verweisen, zeigten die Expert*innengespräche, dass ein solcher Leistungsbezug für gewisse Gruppen nur unter Überwindung zahlreicher Hürden möglich ist. Bereits vor der Krise waren diverse Informationsdefizite und administrative Barrieren bekannt. Als infolge der Pandemie die Schalter schlossen und Informationen nur noch online verfügbar waren, erschwerte sich für wenig lese- oder computeraffine Antragsstellende der Zugang zusätzlich.

Eine verbreitete Befürchtung unter Zugewanderten ist zudem, dass der Sozialhilfebezug eine Verlängerung bzw. Verbesserung der Aufenthaltsbewilligung erschwert oder verunmöglicht oder dass Nachteile beim Familiennachzug entstehen. Mit dem Inkrafttreten des neuen Ausländer- und Integrationsgesetzes 2019 wurden zusätzliche Integrationserfordernisse eingeführt, die diese Bedenken faktisch stützen. Auch Empfehlungen des Staatssekretariats für Migration (SEM) und Ankündigungen einzelner Kantone, dass der pandemieverursachte Leistungsbezug nicht angerechnet würde, konnten die Befürchtungen nicht zerstreuen.

Auswirkungen auf Prävention und Gesundheit

Die Interviews unterstreichen auch, dass die meisten Migrant*innen relativ gut über das Virus und die Präventionsvorkehrungen informiert sind und sich soweit möglich an entsprechende Regeln halten. Dies dürfte unter anderem der mehrsprachigen und gezielten Information von Bund und Kantonen über vielfältige Kanäle und soziale Netzwerke zu verdanken sein.

Gleichzeitig zeigte sich aber auch, dass manche Personen aus finanziellen Gründen tagelang dieselben Wegwerfmasken tragen müssen, trotz Symptomen zur Arbeit gehen und sich nicht testen lassen, da sie nicht auf einen Teil ihres Lohns verzichten können. Auch das Einhalten von Quarantäneregeln in überbelegten Wohnungen ist vielerorts schwierig oder unmöglich. Gleichzeitig verhalten sich Arbeitnehmende, die sich einen Erwerbsausfall nicht leisten können, oft möglichst vorsichtig.

Gerade Menschen in prekären, manchmal systemrelevanten, Berufen haben also mit vielfachen Herausforderungen zu kämpfen, die durch die bestehenden Vorkehrungen kaum vorgesehen oder nicht umsetzbar sind (wie z.B. Homeoffice oder Isolation). Sozialarbeitende und Gesundheitsfachleute beobachteten zudem, dass viele an schlecht oder nicht behandelten chronischen Krankheiten leiden, die einen (schweren) Verlauf von Covid-19 erwiesenermassen begünstigen. Dies gilt insbesondere auch für Sans-Papiers, die noch dazu in der Regel keine Krankenversicherung haben und sich diese oft auch nicht leisten könnten.

Die Notwendigkeit einer ganzheitlichen Politikgestaltung

Zwar konnten karitative, religiöse und nachbarschaftliche Solidaritätsaktionen – mitunter durch öffentliche Mittel unterstützt – im Frühling 2020 existentielle Notlagen abfedern. Trotzdem befürchten zahlreiche Beobachter*innen und Praktiker*innen, dass sich die soziale und gesundheitliche Chancengerechtigkeit (health equity) längerfristig verschlechtern wird, wenn keine Schritte unternommen werden, um die sozialen und gesundheitlichen Massnahmen stärker auf Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen und Lebensbedingungen auszurichten.

Letzteres fordern Public-Health-Spezialist*innen seit Langem. Sie rufen insbesondere zu einer Minderung der vermeidbaren gesundheitlichen Ungleichheit auf, die nicht nur zwischen Kontinenten besteht, sondern auch innerhalb reicher Länder wieder zunimmt. Studien belegen, dass Armut und soziale Diskriminierung Stressoren sind, die chronische Krankheiten wie Diabetes und Bluthochdruck begünstigen. Genauso nachgewiesen ist, dass eben diese Vorerkrankungen, in Verbindung mit den erwähnten beruflichen und lebensweltlichen Einflüssen, zu schweren Verläufen von Covid-19 und der Verbreitung des Virus beitragen.

Da es sich bei vulnerablen Personen häufig um Zugewanderte handelt, sind ferner aufenthaltsrechtliche Auflagen abzubauen, die einer sozioökonomischen Marginalisierung – direkt oder indirekt – in die Hände zu spielen. Vielmehr gilt es, einen effektiven Zugang zu bestehenden Sozialleistungen sowie einer umfassenden Gesundheitsversorgung zu stärken und gerade auch in Krisenzeiten die Grundrechte von allen Migrant*innen zu schützen.

Spezialisierte Organisationen wie die WHO sehen einen solch ganzheitlichen Systemansatz (whole systems approach) denn auch als Voraussetzung für eine nachhaltige Bekämpfung der Pandemie. Dabei wird diese als Syndemie verstanden im Sinne einer Wechselwirkung zwischen sozialen Determinanten und dem Auftreten chronischer sowie übertragbarer Erkrankungen. Covid-19 hat deutlich gezeigt, wie eng die Gesundheitskrise mit sozioökonomischen Ursachen und Folgen verflochten ist und entsprechend nur mit einer sektorübergreifenden Politik bekämpft werden kann.

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