Artikel

Verfahren zur Abklärung der Invalidität bedarf gewisser Korrektive

Zum Bundesgerichtsentscheid BGE 137 V 210

Abstract

Autorin: Andrea Egbuna-Joss

Publiziert am 26.10.2011

Bedeutung für die Praxis:

  • Die Einholung von Gutachten bei Medizinischen Abklärungsstellen MEDAS ist grundsätzlich weiterhin zulässig. Allerdings zeigt das Bundesgericht auf, dass gewisse Korrektive notwendig sind.
  • Sollten die zuständigen Behörden diese Korrektive nicht binnen angemessener Frist prüfen, behält sich das Bundesgericht vor, im Rahmen von Art. 190 BV gestützt auf die einschlägigen Verfahrensgarantien weitergehende verbindliche Korrekturen vorzunehmen.

Kritik am Verfahren zur Abklärung der Invalidität

Das Bundesgericht hatte in einem Entscheid vom 28. Juni 2011 erneut Gelegenheit, sich zu der EMRK-Konformität der Gutachterpraxis der Invalidenversicherung (IV) zu äussern. In der Vergangenheit wurden wiederholt einerseits die finanzielle Abhängigkeit und daher mangelnde Unabhängigkeit der Medizinischen Abklärungsstellen (MEDAS) kritisiert, welche in der Regel zur Abklärung von Leistungsansprüchen von den IV-Stellen mit der Erstellung von Gutachten beauftragt werden. Andererseits wurde vorgebracht, dass den Administrativgutachten von MEDAS im Prozess de facto der Stellenwert eines Gerichtsgutachtens zukomme, was unter dem Blickwinkel der Verfahrensfairness und insbesondere der gebotenen Waffengleichheit gemäss Art. 6 EMRK ein Problem darstelle (siehe dazu ausführlich das Gutachten von Jörg Paul Müller und Johannes Reich).

Bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichts

Hinsichtlich der Frage der Unabhängigkeit der MEDAS hielt das Bundesgericht bisher stets fest, dass «die fachlich-inhaltliche Weisungsunabhängigkeit der begutachtenden Ärzte der MEDAS institutionell verankert und die nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK vorausgesetzte Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der betreffenden Gutachter somit gewährleistet» sei (E 1.3.1, mit weiteren Hinweisen auf die bisherige Rechtsprechung). Im Weiteren sei es unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit «grundsätzlich zulässig, dass ein Gericht auf die vom Versicherungsträger korrekt erhobenen Beweise abstellt und auf ein eigenes Beweisverfahren verzichtet, sofern das rechtliche Gehör in allen seinen Teilaspekten gewahrt» bleibe (E 1.2.4).

Notwendige Korrektive

In BGE 137 V 210 anerkannte das Bundesgericht nun aber, dass aufgrund des festgelegten Zieles der Reduktion des Rentenbestandes im Rahmen der Invalidenversicherung in Verbindung mit der Gewinnorientierung der MEDAS eine objektiv begründete Befürchtung bestehe, dass sich die Gutachterstellen nicht allein von fachlichen Gesichtspunkten, sondern eben auch von den (vermeintlichen) Erwartungen der Auftraggeberschaft leiten lassen (E 2.4.4). Um diese zu beheben, bedürfe es gewisser rechtlicher Korrektive, die das Bundesgericht in seinem Entscheid sehr ausführlich aufzeigt. So sollen unter anderem die Gutachten zukünftig nach Zufallsprinzip an die MEDAS-Stellen vergeben werden. Es sei ein differenzierteres Entschädigungssystem auszuarbeiten und die Gehörs- und Partizipationsrechte der versicherten Person sollen gestärkt werden.

Zusammenfassend könnten die festgestellten Defizite durch die dargestellten Korrektive ausgeglichen werden, so dass der Einsatz von MEDAS grundsätzlich zulässig bleibe und keinen Verstoss gegen die Verfahrensgarantien darstelle. Das Bundesgericht hat im vorliegenden Fall einen sog. Appellentscheid gefällt. Sollten die zuständigen Behörden die aufgezeigten notwendigen Korrektive nicht binnen angemessener Zeit vornehmen, behält sich das Bundesgericht vor, notfalls im Rahmen von Art. 190 BV gestützt auf die einschlägigen in Verfassung und EMRK verankerten Verfahrensgarantien weitergehende Korrekturen vorzunehmen (E 5).

Parlamentarische Initiative ohne Erfolg

Eine Anpassung der gesetzlichen Grundlagen betreffend Abklärung des Gesundheitszustandes im Rahmen der Sozialversicherungen verlangte eine im März 2010 eingereichte parlamentarische Initiative. Der Nationalrat hat der Initiative in der Abstimmung vom 28. September 2011 jedoch keine Folge gegeben.

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