Artikel

«Umgekehrter Familiennachzug» statt Ausweisung der Mutter eines Schweizer Kindes

Bundesgerichtsurteil 2C_328/2010 vom 19. Mai 2011

Abstract

Autorin: Irene Grohsmann

Publiziert am 26.10.2011

Bedeutung für die Praxis:

  • In Übereinstimmung mit dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes (KRK) muss bei der Ausweisung eines ausländischen sorgeberechtigten Elternteils eines Schweizer Kindes das Interesse des Kindes am Verbleib des Elternteils in der Schweiz vorrangig beachtet werden.
  • Das öffentliche Interesse an der Ausweisung des ausländischen Elternteils kann nur überwiegen, falls zusätzliche besondere Gründe diese Beeinträchtigung des Kindeswohls rechtfertigen.

Sachverhalt

In Bundesgerichtsentscheid 2C_328/2010 vom 19. Mai 2011 geht es um eine aus Kamerun stammende Mutter und ihre am 8. September 2003 in Kamerun als Kind eines Schweizer Mannes geborene Tochter. Dank Anerkennung durch den Schweizer Vater war die Tochter am 3. November 2008 im erleichterten Verfahren in der Schweiz eingebürgert worden. Die Mutter hatte am 19. Mai 2006 in Kamerun einen anderen Schweizer Mann geheiratet und eine Aufenthaltsbewilligung für die Schweiz bis 19. Februar 2008 erhalten. Diese Ehe wurde am 23. Oktober 2008 geschieden und in der Folge die Aufenthaltsbewilligung der Frau nicht verlängert. Ihre Beschwerde dagegen wurde sowohl vom Staatsrat als auch vom Kantonsgericht Wallis abgewiesen.

Ausführungen des Bundesgerichts

Im Zentrum des Entscheids steht die Frage, ob die Schweizer Tochter mit ihrer Mutter nach Kamerun ausreisen muss oder ob die Mutter als sorgeberechtigter Elternteil mit ihr in der Schweiz bleiben darf (sog. «umgekehrter Familiennachzug»). Das Kantonsgericht hatte die Interessen des Schweizer Kindes am Verbleib mit der Mutter in der Schweiz gar nicht beachtet und hatte bloss auf die von der Frau in der Schweiz verübten Delikte (illegale Einreise, unerlaubte Prostitution) sowie den Vorwurf des Eingehens einer Scheinehe abgestellt.

Das Bundesgericht stellt bei der Abwägung der sich entgegenstehenden Interessen fest, dass die Ausgangslage mit Blick auf das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (Kinderrechtskonvention) eine andere sein muss als wenn allein der Aufenthalt des ausländischen Partners eines Schweizer Gatten zur Diskussion steht. Einem unmündigen Kind ist es kaum möglich, alleine in der Schweiz zu bleiben, weshalb davon auszugehen ist, dass dem hier lebenden Schweizer Kind in der Regel nicht zugemutet werden soll, dem sorgeberechtigten ausländischen Elternteil in dessen Heimat folgen zu müssen.

Damit die Ausweisung eines ausländischen sorgeberechtigten Elternteils eines Schweizer Kindes gegenüber dem vorrangig zu berücksichtigenden Kindeswohl gerechtfertigt werden kann, bedarf es daher neben einem öffentlichen Interesse zusätzlich besonderer Gründe, welche die weitreichenden Folgen für das Kind rechtfertigen. Das öffentliche Interesse an der Durchsetzung einer restriktiven Einwanderungspolitik genügt für sich alleine nicht mehr. Das Interesse des Schweizer Kindes, mit seinem ausländischen Elternteil in der Schweiz bleiben zu können, überwiegt – entgegen einer früheren Rechtsprechung des Bundesgerichts und in Übereinstimmung mit der KRK – gegenüber dem öffentlichen Interesse an Sicherheit und Ordnung nur dann nicht, wenn die Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit durch den Verbleib des ausländischen Elternteils in der Schweiz eine gewisse Schwere erreicht hat bzw. besondere Gründe – namentlich ordnungs- und sicherheitspolitischer Art – vorliegen. Diese Voraussetzungen bestehen mit einer illegalen Einreise der Mutter vor 10 Jahren, ihrer unzulässigen Ausübung der Prostitution und dem nicht erhärteten Vorwurf des Eingehens einer Scheinehe nicht, handelt es sich hierbei doch einerseits um Bagatelldelikte und andererseits um einen Vorwurf, welcher in keinem gerichtlichen Verfahren abschliessend geklärt wurde.

Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und weist die zuständige Walliser Behörde an, die Aufenthaltsbewilligung der Mutter im umgekehrten Familiennachzug zu verlängern.

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