Artikel
Suizid psychisch kranker Personen im Freiheitsentzug
EGMR Urteil De Donder et De Clippel c. Belgique (Beschwerde Nr. 8595/06)
Abstract
Autorin: Anja Eugster
Bedeutung für die Praxis:
- Die Unterbringung einer psychisch kranken Person in einem normalen Gefängnis bewirkt eine Verletzung des Rechts auf Leben (Art. 2 EMRK), wenn sich diese Person das Leben nimmt und die Behörden die Suizidgefahr kannten oder hätten kennen müssen.
- Die Internierung einer psychisch kranken Person gemäss Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK hat unter Berücksichtigung ihres Krankheitsbildes in geeigneten Einrichtungen zu erfolgen.
Pflichten in Fällen von Suizidgefahr im Gefängnis
Der EGMR weist in einem kürzlich ergangenen Urteil, welches Belgien betrifft, erneut darauf hin, dass Art. 2 EMRK unter gewissen Umständen auch die positive Pflicht umfasst, ein Individuum vor sich selbst zu schützen. In Fällen von Suizidgefahr im Gefängnis bestehe eine solche Pflicht jedoch nur, wenn die Behörden um eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr wissen oder wissen müssten. Zudem muss nachgewiesen werden, dass die Behörden es unterlassen haben, alles vernünftigerweise in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um dem Suizidrisiko vorzubeugen.
Wissen um tatsächliches und gegenwärtiges Suizidrisiko
Im konkreten Fall hätten die Behörden wissen müssen, dass der an paranoider Schizophrenie leidende Sohn der Beschwerdeführenden, Tom De Clippel, suizidgefährdet war. Dieser wurde in der allgemeinen Abteilung eines Gefängnisses platziert statt - wie gesetzlich vorgesehen und vom zuständigen Staatsanwalt angeordnet - in der psychiatrischen Fachabteilung. Dort nahm er sich das Leben.
Tom de Clippel sei – so der EGMR – in zweierlei Hinsicht verletzlich gewesen: Einerseits sei die Selbstmordrate bei Personen im Freiheitsentzug bedeutend höher als bei der Bevölkerung im Allgemeinen. Anderseits berge eine paranoide Schizophrenie bereits eine hohe Selbstmordgefahr. Der Internierte habe gegenüber den involvierten Psychiatern und Psychologen zwar keine Selbstmordabsichten geäussert; er sei jedoch gerade mit Blick auf seine Selbstgefährdung interniert worden.
Vorbeugung des Suizidrisikos
Der EGMR stellte ausserdem fest, dass die Behörden nicht alles in ihrer Macht Stehende unternommen hatten, um dem Selbstmord des Internierten vorzubeugen. So war Tom De Clippel ohne Berücksichtigung seines mentalen Krankheitsbildes und seines Internierten-Status behandelt worden:
- Er wurde bei seiner Ankunft im Gefängnis allem Anschein nach keinem Psychiater vorgeführt.
- Er wurde nicht in die psychiatrische Abteilung, sondern in den normalen Gefängnistrakt aufgenommen.
- Er wurde ungeachtet seiner paranoiden Schizophrenie in einer Gemeinschaftszelle mit drei anderen Personen platziert.
- Er wurde nach aggressivem Verhalten gegenüber einem Zellgenossen in eine Strafzelle in Isolationshaft gesperrt – eine Bestrafung, welche für Gefangene ohne psychische Krankheiten vorgesehen ist.
- Es wurde ihm nicht die Aufmerksamkeit geschenkt, welche einem Internierten mit seinem Geisteszustand hätte zuteil werden müssen.
Der EGMR hielt zudem fest, dass ein Vertragsstaat grundsätzlich sich nicht mit der Begründung, dass ein chronischer Mangel an geeigneten Plätzen für psychisch kranke Personen bestehe, von seinen aus Art. 2 EMRK fliessenden Pflichten entbinden könne.
Freiheitsentzug in einer geeigneten Einrichtung
Des Weiteren erinnerte der EGMR daran, dass ein „Freiheitsentzug“ einer psychisch kranken Person nur „rechtmässig“ i.S. von Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK ist, wenn er in einem Krankenhaus, einer Klinik oder einer ansonsten für solche Personen geeigneten Einrichtung stattfindet.