Artikel

Reformbemühungen am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

Zu den Zusatzprotokollen Nr. 15 und Nr. 16 zur Europäischen Menschenrechtskonvention

Abstract

Autorin: Andrea Egbuna-Joss

Publiziert am 18.09.2013

Zusammenfassung:

  • Von verschiedener Seite werden Massnahmen zur Einschränkung der dynamischen Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg gefordert.
  • Der Bundesrat unterstützt entsprechende Reformen bereits seit mehreren Jahren.
  • Das 15. Zusatzprotokoll zur EMRK sieht eine ausdrückliche Verankerung des Subsidiaritätsprinzipes in der Präambel vor. Die Schweiz hat das Protokoll bisher noch nicht unterzeichnet.

Neue Positionspapiere der FDP und der SVP

Im Anschluss an die Vernehmlassung zu den Massnahmen des Bundesrates zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Volksinitiativen mit dem Völkerrecht (vgl. SKMR-Newsletter vom 13. Juni 2013, Massnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Völkerrecht und Initiativrecht), hat die FDP weitere Massnahmen gefordert, um die Konflikte zwischen Landesrecht und Völkerrecht zu entschärfen. Sie bemängelt dabei unter anderem, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in den letzten Jahren durch seine dynamische Auslegung der EMRK viel Unmut über „fremdes Recht“ und „fremde Richter“ gestiftet habe. Insbesondere schlägt die FDP folgende Reformen des EGMR vor:

  • Klarere Regeln für das neue Zulässigkeitskriterium des „erheblichen Nachteils“.
  • Verankerung der „Doktrin des nationalen Ermessensspielraums“ in der Konvention.
  • Verankerung eines neuen Zulässigkeitskriteriums, wonach der EGMR keine „vierte Instanz“ ist.

Die dynamische Auslegung seitens des EGMR ist auch der SVP ein Dorn im Auge. Sie geht in ihren Forderungen aber deutlich weiter als die FDP und schlägt in einem im August veröffentlichen Positionspapier unter anderem die Radikallösung vor, dass die Bundesverfassung dem Völkerrecht stets vorgehen und fortan eine Überprüfung von Bundesgesetzen auf ihre EMRK-Konformität ausgeschlossen sein soll.

Das 15. Zusatzprotokoll zur EMRK

Dass am EGMR Reformen notwendig sind, ist unbestritten. Die Schweiz setzt sich seit Jahren aktiv für die Reformen des Beschwerdeverfahrens ein und hat während ihres Europarats-Präsidiums im Jahr 2010 zur Verabschiedung eines Aktionsplanes mit Massnahmen gegen die chronische Überlastung des Gerichtshofes (sog. Interlaken Prozess) beigetragen. Einige der im Rahmen des Aktionsplanes vorgeschlagenen Massnahmen sind nun im 15. Zusatzprotokoll übernommen worden, welches seit Ende Juni 2013 zur Unterzeichnung aufliegt.

Neu soll in der Präambel der EMRK ausdrücklich vermerkt werden, dass gemäss dem Subsidiaritätsprinzip die primäre Sicherung der garantierten Rechte den Vertragsstaaten obliegt. Dabei verfügen diese über einen gewissen Beurteilungsspielraum. Der EGMR hat die Nutzung dieses Spielraumes zu respektieren und lediglich zu überwachen.

Weitere Änderungen betreffen das Höchstalter für Richterinnen und Richter (neu: 65 Jahre zum Zeitpunkt der Wahl) sowie die Verkürzung der Frist zur Einreichung einer Beschwerde von sechs auf vier Monate. Als weiteres Zulässigkeitskriterium einer Beschwerde an den EGMR soll in Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK der „erhebliche Nachteil“ aufgenommen werden. Fortan soll der EGMR also eine Beschwerde für unzulässig erklären können, wenn er der Ansicht ist, dass dem Beschwerdeführer kein erheblicher Nachteil entstanden ist.

Da das 15. Zusatzprotokoll eine Änderung der Konvention selber vorsieht, muss es von allen 47 Vertragsstaaten ratifiziert werden, bevor es in Kraft treten kann. Die Schweiz hat das Protokoll bisher nicht unterzeichnet.

Weitere Reformen: Das 16. Zusatzprotokoll zur EMRK

Im Oktober 2013 soll bereits das nächste Zusatzprotokoll zur EMRK zur Unterzeichnung aufgelegt werden. Das 16. ZP sieht vor, dass die letztinstanzlichen Gerichte der Vertragsstaaten während eines hängigen Verfahren eine gutachterliche Stellungnahme („advisory opinion“) zu einer grundsätzlichen Frage betreffend der Anwendung und Umsetzung der Konvention einholen können. Diese Stellungnahme ist für die Gerichte nicht bindend. Dieses Protokoll soll mit der 10. Ratifikation in Kraft treten.

Kommentar

Ob eine Ergänzung der Präambel der EMRK die gewünschte Wirkung erzielen wird, wird sich weisen müssen. Die Tatsache, dass aktuell ein Zusatzprotokoll zur Unterzeichnung aufliegt, welches das Subsidiaritätsprinzip ausdrücklich in der EMRK verankern will, weist jedoch darauf hin, dass die Schweiz nicht der einzige Vertragsstaat ist, welcher mit der „dynamischen Auslegung“ der EMRK durch den Gerichtshofes zunehmend Mühe bekundet. Dabei liegt das Problem oft nicht so sehr in der Missachtung von nationalen Beurteilungsspielräumen, sondern in einer zu grosszügig verstandenen Befugnis des Gerichtshofes zur Überprüfung und Bewertung von Sachverhaltsfragen sowie in der Ableitung von Standards aus der EMRK, die sich effektiv aus den Bestimmungen kaum rechtfertigen lassen.

Nichtsdestotrotz ist auch eine Rückbesinnung auf die ursprüngliche Konzeption der Doktrin des nationalen Beurteilungsspielraumes angezeigt. Primär obliegt es dem Gerichtshof als Hüter der Konvention – und nicht den Vertragsstaaten unter Berufung auf ihre nationalen Beurteilungsspielräume – darüber zu entscheiden, ob in einem konkreten Fall der Schutzbereich eines Konventionsrechts tangiert wurde. Die Doktrin des nationalen Beurteilungsspielraumes besagt jedoch, dass bei der Prüfung einer möglichen Rechtfertigung eines Eingriffes in eine Rechtsposition zu beachten ist, dass die nationalen Instanzen aufgrund ihrer Kenntnisse der lokalen Verhältnisse oft besser beurteilen können, ob im konkreten Fall ein hinreichendes öffentliches Interesse am Eingriff bestand und ob dieser verhältnismässig war. Je unterschiedlicher die nationalen Regelungen in den Vertragsstaaten mit Bezug auf eine bestimmte Frage sind, desto grösser ist grundsätzlich der nationale Beurteilungsspielraum. Die Nutzung dieser Spielräume durch die Vertragsstaaten hat der Gerichtshof zu respektieren und ihm kommt diesbezüglich lediglich eine subsidiäre, überwachende Rolle zu. Insofern ist zu hoffen, dass die Strassburger Praxis künftig wieder vermehrt Zurückhaltung üben wird, solange sich die Rücksichtnahme auf Eigenheiten der Vertragsstaaten mit dem Schutz der verbrieften Individualrechte vereinbaren lässt.

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